Das Ende der Bibliothek?

Das Ende der Bibliothek?

Organisatoren
Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha; Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.04.2010 - 23.04.2010
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Von
Uwe Jochum, Universitätsbibliothek Konstanz

Die überwiegende Mehrheit der Bibliothekare ist nicht nur in Deutschland der Meinung, dass die Zukunft der Bibliotheken im bedingungslosen Anschluss ans Internet zu finden sei. Dieser Anschluss soll ein „Ende der Bibliothek“ verhindern, das unweigerlich kommen werde, wenn die Bibliotheken am Medium des Buches festhalten und durch dieses Festhalten zu musealen Einrichtungen erstarrten. Um das befürchtete Ende zu vermeiden, setzt man folglich auf eine Transformation der Bibliotheken zu Dienstleistungseinrichtungen, die keine gedruckten Bücher und Zeitschriften mehr zur Verfügung stellen sollen, sondern „Informationen“, deren mediales Substrat völlig gleichgültig und nur danach zu bewerten ist, ob die Mitteilung der „Information“ möglichst schnell und reibungsfrei geschieht. In der Praxis bedeutet das, dass die Bibliotheken weltweit das wichtigste Ziel darin sehen, ihre Bestände rasch zu digitalisieren, denn die digitalen Medien vereinen ein Minimum an Materialität mit einem Maximum an medialer Reichweite, so dass man hofft, mit dem medialen Reichweitengewinn zugleich einen Gewinn an gesellschaftlicher Relevanz einzufahren.

Die Frage aber ist, ob dieser Relevanzgewinn die Bibliotheken nicht teuer zu stehen kommt. In seiner Einführung zum Gothaer Arbeitsgespräch über „Das Ende der Bibliothek?“ wies UWE JOCHUM (Konstanz) darauf hin, dass der Informationsbegriff, mit dem die digitale Transformation der Bibliotheken legitimiert werde, mit einem Wurm zu vergleichen sei, der das Bibliothekswesen von innen her auffresse. Denn die als eine Art Naturgegenstand betrachtete „Information“ – Jochum bezog sich auf Peter Janichs Rede von der „Naturalisierung der Information“ – bedeute nicht nur, dass man „Informationen“ für messbar hält. Vielmehr sei der Informationsbegriff obendrein nur an reinen Inhalten interessiert und blende die mediale Form der Vermittlung von vorneherein aus. Indem schließlich die Vermittlung der Inhalte als ein bloß datentechnisches Problem betrachtet werde, habe der konkrete Mensch in diesem Theoriegebäude keinen genuinen Ort mehr. Damit gerate aus dem Blick, dass in unserer Welt alleine der Mensch in seiner sinnlichen Leiblichkeit die Quelle für Sinn sei und durch sein Reden, Schreiben und Tun an sehr konkreten Orten Verantwortung für diesen Sinn zu übernehmen hat. Und es gerate aus dem Blick, dass diese Verantwortung ohne materielle Medien, die der Leiblichkeit des Menschen entgegenkommen, nicht zu haben ist. „Kultur“ sei ein Synonym für diese medienmaterielle Verantwortlichkeit, und „Bibliothek“ der Name für einen Ort, an dem diese Verantwortlichkeit architektonisch sichtbar werde. Indem der naturalisierte Informationsbegriff das alles durchstreiche, zerstöre er nicht nur die Bibliothek als ein medienmaterielles Ensemble, sondern zuletzt die Kultur.

Dass es sich bei diesem Angriff auf die Kultur nicht um einen bloß technischen Vorgang handelt, machte JÜRGEN KAUBE (Frankfurt am Main) deutlich, als er am Beispiel der Fußnote zeigte, wie sehr diese in den vergangenen dreißig Jahren ihre Orientierungsfunktion verloren habe, um statt dessen für Demutsgesten und Zitationsrituale benutzt zu werden. Kaube stellte diese Veränderung in den Kontext der jüngeren Wissenschaftspolitik, die die „altgierigen“ Geisteswissenschaften in das Forschungs- und Publikationsmodell der neugierigen Naturwissenschaften zwingen wolle und zu diesem Zweck nun auch in den Geisteswissenschaften überall befristete Projektförderungen durchsetze, die von „Neuheitsfiktionen“ lebten. Das wissenschaftliche Schreiben habe in diesem Kontext seine Funktion als gesellschaftliches und wissenschaftliches Reflexionsinstrument verloren: Wenn in der Wissenschaft nur noch geschrieben, aber nicht mehr gelesen werde, dann deshalb, weil die eigentlichen Adressaten allen Schreibens längst die Evaluations- und Rankingagenturen seien, die über Karrieren entscheiden. Unterhalb der Ebene politisch gewollter Neuheitsfiktionen zeigt sich freilich, dass die Bibliothek als ein medienmaterielles Ensemble von Verlagen lebt, die ihr zuarbeiten. Bei dieser Zuarbeit, so GEORG SIEBECK (Tübingen), gehe es für einen Verlag zum einen darum, gute Autoren für gute Themen zu finden, zum andern aber auch darum, die Partnerschaft zwischen Bibliotheken und Verlagen zu pflegen: Verlage bräuchten Bibliotheken als Partner, um das Risiko ihrer Investitionen abschätzen zu können, und die Bibliotheken bräuchten als Partner Verlage, die in ihrer Programmpolitik zwischen Bibliothek, Autor und Leser vermittelten. Nur so sei es möglich, über die Vielfalt der Verlagsprogramme eine Vielfalt bibliothekarischer Sammelschwerpunkte zu erreichen. Man muss das ernst nehmen. Denn während das Bibliothekswesen einen selbstreferentiellen digitalen Hype pflegt, weiß der Verleger der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ zu berichten, dass der kostenlose Zugang zum digitalen Archiv der Zeitschrift nur von 17 Prozent der Abonnenten wahrgenommen wird.

Diese Zurückhaltung, wird man sogleich einwenden, gelte vielleicht und noch für die Geistes-, nicht aber für die Naturwissenschaften. Aber dann bleibt das von Kaube bemerkte Ärgernis, dass die Wissenschaftspolitik die Unterschiede zwischen den beiden Wissenschaftskulturen planiert und das Bibliothekswesen in seiner herrschenden Lehre diese Planierung reproduziert. Wohin das führt, zeigte MARKUS KRAJEWSKI (Weimar), der den Weg vom Bibliotheksdiener zum OPAC nachzeichnete. Während der Bibliotheksdiener seine Kompetenz einst dadurch erhielt, dass er in seinem Gedächtnis den Adressraum der Katalogdaten mit dem Adressraum der Regalordnung verknüpfte, „wanderte im 19. und 20. Jahrhundert der Diener in den Kanal aus“: Seine Funktion wurde von einer Katalogtechnik übernommen, die den opaken Mechanismus der Verknüpfung von Adressräumen zum OPAC machte und den Diener („servant“) schließlich zum Server. Bei dieser Transformation verlor die Bibliothek freilich das Subjekt, das Relevanzen abschätzen konnte. Was ein solches Ende subjektgebundener Relevanz für den Bestand der Bibliotheken bedeutet, zeigte CHRISTIANE HEIBACH (Karlsruhe). Sie erinnerte daran, dass das „kulturelle Gedächtnis“ (Aleida und Jan Assmann) immer eine Konstruktion der Vergangenheit durch die Gegenwart auf der Basis des Überlieferten ist. Ebendiese Bewahrung der Überlieferung durch digitale Speichertechniken zeige sich nun aber als ein Mythos, weil die Flüchtigkeit digitaler Plattformen und Speicherformate die Bewahrbarkeit des Überlieferten im Kern in Frage stelle. Da man das Internet aber nicht nur als einen digitalen Speicherraum für Vergangenes betrachten müsse, sondern auch als einen prospektiven Speicherraum – die Speichertätigkeit von heute forme das kulturelle Gedächtnis von morgen –, stehe man vor einer Fülle unbeantworteter Fragen: Wer soll in Zukunft darüber befinden, was digital bewahrt, wer darüber, was digital vergessen werden kann? Ist das eine mögliche Aufgabe der Bibliotheken?

Wer eine Antwort auf diese Fragen geben will, muss darauf reflektieren, was Bibliotheken „sind“. REINHARD LAUBE (Hannover) unternahm das, indem er anstatt auf das überzeitliche „Wesen“ auf die Selbstbeschreibungen von Bibliotheken verwies. Diese Selbstbeschreibungen seien multiperspektivisch zu verstehen: So sei die Beschreibung der Bibliothek als eines „Informationszentrums“ ebenso möglich wie die Beschreibung der Bibliothek als eines „Ortes des Wissens und der Memoria“, aber es sei unmöglich, die eine Beschreibung auf die andere zu reduzieren. Wenn das so ist, ist das „Ende der Bibliothek“ nichts anderes als das Ende eines Selbstbeschreibungszyklus, der von einem anderen Zyklus abgelöst wird, ohne dass man mit einem realen Bibliotheksende rechnen muss. Damit hatte Laube eine Antwort auf die von Heibach aufgeworfene Frage gegeben: Die Rolle der Bibliothek bestehe nicht zuletzt darin, konfligierende Beschreibungen der Bibliothek – in denen sich konfligierende gesellschaftliche Interessen wiederfinden – organisatorisch zum Austrag zu bringen und also das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Diesen dialektischen Schwebebalken versuchte HANS-CHRISTOPH HOBOHM (Potsdam) zu unterlaufen, indem er anhand einiger repräsentativer Zuschreibungen – die Bibliothek als „Paradies“, „Maschine“, „Raum“, „Heterotopie“ und anderes mehr – das funktionelle Zentrum der Bibliothek in der „Transformation“ ausmachte. Hobohm interpretierte daher den tagungsleitenden Begriff des „Endes“ teleologisch und sah das „Ziel“ der Bibliothek in der Verbindung mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess: Auch dann, wenn die Bibliotheken tatsächlich explodiert und daher kaum noch sichtbar seien, bleibe ihre Funktion als Agenturen der Wissenstransformation bestehen. Diese Funktion könnten sie freilich nur erfüllen, indem sie sich selbst permanent transformierten. Damit war die Bibliothek als die vertraute Institution für materielle Bücher aus Papier doch wieder in Frage gestellt. Da fügte es sich gut, dass am Ende des ersten Tagungstages KATHRIN PAASCH (Gotha) als Hausherrin durch die Gothaer Forschungsbibliothek führte und die offene Frage damit anschaulich machte.

In dieser Situation akzentuierte MICHAEL KNOCHE (Weimar) am zweiten Tag noch einmal den Aspekt der „Memoria“ und des „kulturellen Gedächtnisses“, der Bibliotheken einzigartig und untransformierbar mache. Als nämlich nach dem Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Jahr 2004 die Frage im Raum stand, ob man ein Programm zur Wiederbeschaffung der verlorenen 50.000 Bücher auflegen oder eine digital-virtuelle Rekonstruktion des Verlorenen versuchen solle, entschied man sich gegen die digitale Rekonstruktion. Stattdessen legte man größtes Gewicht auf die Restaurierung der beschädigten Bücher und, wenn diese nicht möglich war, auf die Ersatzbeschaffung von bibliographisch identischen Titeln. Der Grund: Nur dadurch ist der Wert der Sammlung als eines historischen Ensembles zu bewahren, so dass auch in Zukunft am Schnittpunkt von Provenienz- und Sammlungsgeschichte neue Perspektiven der Forschung möglich sind. BERNHARD FISCHER (Weimar) unterstrich das von Seiten des Archivs: Der Digitalisierungsakt sei zwar ein technisch und finanziell auf den ersten Blick beherrschbarer Vorgang, aber die „Zukunftskosten“ der Digitalisierung seien ebenso wenig wie die medialen Risiken der Langzeitarchivierung kalkulierbar, weshalb immer noch der Mikrofilm das Medium der Wahl für die Langzeitarchivierung sei. Hinzu komme freilich die Sinnfrage: Wollte man die fünf Millionen Blatt Papier, die das „Goethe- und Schiller-Archiv“ in Weimar verwaltet, in digitaler Form ins Netz stellen, müsse man die Frage beantworten können, welchen Sinn es mache, Dokumente in Frakturschrift und in deutscher Kurrent massenhaft ins Netz zu stellen. Der Zeugniswert der Überlieferung werde dadurch beeinträchtigt und mit ihm die Funktion des Archivs, das als ein bekannter Ort für Unbekanntes die Möglichkeiten zu Entdeckungen auf eine Weise biete, die im Internet nicht möglich sei.

ARMIN SCHLECHTER (Speyer) machte deutlich, dass diese medienmaterielle Widerständigkeit keineswegs nur für das Sammlungsgut von Forschungsbibliotheken und Archiven gilt. Er zeigte vielmehr, dass der Quellenwert eines originalen Buches auch durch moderne kritische Editionen nicht aufgehoben ist, sondern dessen Unikat-Charakter bestehen bleibt: Die Nutzungsgeschichte eines Buches habe in Form von spezifischen Einbänden, Besitzvermerken, Marginalien und anderem singuläre Spuren hinterlassen, und diese Singularität des Buches potenziere sich auf der „Ensembleebene“, also auf der Ebene historisch gewachsener Sammlungen, die ihrerseits ein Unikat sind. Aus dieser Perspektive wird das alte Buch zu einer historischen Quelle, deren Aussagekraft sich nicht auf die Buch- und Bibliotheksgeschichte beschränkt, sondern in der Arbeit am Objekt und einer auf Autopsie beruhenden Tiefenerschließung die Rolle des Buches im Rahmen der Kulturwissenschaften neu bestimmen muss. Diese Neubestimmung ist freilich ohne einen Blick auf das politische Umfeld der Mediendebatte nicht zu haben. Daher erinnerte ROLAND REUSS (Heidelberg) am Ende der Tagung daran, dass jede Technik, ob alt oder neu, zunächst einmal bewertet werden muss und dass es niemand anderer als Marshall McLuhan war, der vor einer „Hypnose“ durch die Medien gewarnt hatte. Um den Bann der Hypnose durch die neuen Medien zu brechen, brachte Reuß drei Aspekte des gedruckten Buches ins Spiel: Erstens sei jedes Buch für einen Verlag eine riskante Investition in den Autor und seine Idee. Wer ein solches Risiko eingehe, müsse nicht nur von seinem Produkt inhaltlich überzeugt sein, er müsse es auch attraktiv ausstatten, damit es Käufer und Leser finden kann. Zweitens distribuiere das Buch Ideen, die Individuen zugeschrieben werden; die real stattfindende Digitalisierung hingegen enteigne die Individuen und schaffe damit eine „Produktionsbremse“ für Ideen. Drittens gehe es beim Buch darum, Inhalt und Form vom Einband bis zur Typographie aufeinander abzustimmen, denn nur in dieser Abstimmung sei der Inhalt als solcher zu haben und zu verantworten. Im a-typographischen Raum des Internet, in dem Verkaufen, Unterhalten und „Wissen“ ineinanderfließen, verflüchtigten sich solche verantwortbaren Inhalte, um einem „fragmentierten Bewusstsein“ (Georg Lukács) Platz zu machen, in dem das Subjekt nicht mehr zu sich selbst finden könne, sondern fremdbestimmtes Objekt bleibe.

Gute Tagungen stellen gute Fragen. In diesem Sinne war das Gothaer Arbeitsgespräch zum „Ende der Bibliothek?“ eine gute und übrigens auch eine gutbesuchte Tagung: Sie öffnete eine Frage neu, die die Mehrheit der Bibliothekare längst als erledigt betrachtet, und sie machte deutlich, warum diese Frage nicht zu erledigen ist: weil die fundamentale Verschränkung von materiellem Buch und materieller Bibliothek zutiefst mit unserer Kultur und ihrer Geschichte verbunden ist. Dies ist der Horizont, vor dem sich der bibliothekarische Sturz ins Digitale in der Tat als einfache Negation ausnimmt: als Negation des materiellen Buches und des selbstbewussten Subjekts, die beide seit Jahrhunderten in der Bibliothek zusammenfanden.

Konferenzübersicht:

Martin Mulsow (Forschungszentrum Gotha) und Kathrin Paasch (Forschungsbibliothek Gotha), Grußworte

Uwe Jochum (Universitätsbibliothek Konstanz), Einführung in das Tagungsthema

Jürgen Kaube (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Bibliotheken, Bücher, Publikationen und das Lesen in der Forschungspolitik

Georg Siebeck (Mohr Siebeck Verlag, Tübingen), Die Vielfalt der Bibliotheken und die Produktion der Verlage

Markus Krajewski (Bauhaus-Universität Weimar), Gewandelte Zentralinstanz. Vom Bibliotheksdiener zum OPAC

Christiane Heibach (Staatliche Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe), (De)Let(h)e – Von der Kunst des Vergessens im Digitalen Zeitalter

Reinhard Laube (Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Hannover), Selbstbeschreibungen von Bibliotheken: Herausforderungen durch Informationszentren und Topographien des Wissens und der Memoria

Hans-Christoph Hobohm (Fachhochschule Potsdam), Die Bibliothek abstrakt denken? Ausloten eines Phänomens diesseits von Buch und Informationstechnik

Michael Knoche (Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar), Original oder digital? Die Rekonstruktion des verbrannten Buchbestandes in Weimar

Bernhard Fischer (Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar), Von der »Handschrift« zum Digitalisat – Kehrseiten der Wissensgesellschaft

Armin Schlechter (Pfälzische Landesbibliothek, Speyer), Archäologisches Objekt, Exemplar und Ensemble – was bleibt vom Alten Buch?

Roland Reuß (Universität Heidelberg), Das Buch als Individualmaschine


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