EuropaGestalten II: Expansionen in der Frühen Neuzeit/ Imagining Europe: Early Modern Expansionism

EuropaGestalten II: Expansionen in der Frühen Neuzeit/ Imagining Europe: Early Modern Expansionism

Organisatoren
Sokrates-Netzwerk "Una Filosofia per l´Europe", Europäische Kommission, Generaldirektion Bildung und Kultur; Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit (Dr. Gisela Engel); Historisches Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität (PD Dr. Renate Dürr, Dr. Johannes Süßmann)
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.09.2003 - 06.09.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Renate Dürr, Gisela Engel, Johannes Süßmann

Bericht von Renate Dürr, Gisela Engel, Johannes Süßmann 1

Das Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit (ZFN) veranstaltete zusammen mit dem Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität die zweite einer Reihe von Tagungen unter dem Titel EuropaGestalten (s. Homepage des ZFN: http://www.uni-frankfurt.de/ZFN/). Beide Tagungen sind Projekte des Thematischen Netzwerks "Una Filosofia per l´Europe". Sie thematisierten unter den Aspekten der gegenwärtigen Debatten um die Probleme kultureller und politischer Identitätskonstruktionen von "Europa" die Prozesse der Herausbildung "des Europäischen" in der Frühen Neuzeit.

In der ersten Tagung stand die Frage nach der Periodisierung der Frühen Neuzeit im Zentrum, indem Tragweite, Legitimität und implizite Kriterien der zentraleuropäischen Einteilungskategorien von den Rändern her diskutiert wurden. Gerade von den Rändern her erhoffte man sich nämlich Erkenntnisse. Doch die Tagung machte deutlich, dass die Periodisierungsmodelle auch in weit entfernten Gegenden der Welt offenbar weniger von der Abgrenzung zum europäischen Muster geprägt sind als von dem Versuch, eine möglichst weitgehende Übereinstimmung zu konstruieren.

In der nun gerade durchgeführten Tagung "EuropaGestalten II: Expansionen in der Frühen Neuzeit" ging es darum, als ein Prinzip dieser Epoche die doppelte, sich gegenseitig verstärkende Expansion in andere geographische Räume und neue Erkenntnishorizonte zu bestimmen und deren frühneuzeitliche Besonderheit zu analysieren. Die Debatte kreiste um folgende Leitfragen:
1. die Frage nach dem Träger der frühneuzeitlichen Expansion im Vergleich mit anderen Expansionen (wie der mittelalterlichen, der russischen oder der chinesischen),
2. die Frage, wie die frühneuzeitliche Expansion wahrgenommen, erfahren, verarbeitet wurde, wie sie also die Selbstreflexion Europas in der frühen Neuzeit bestimmte,
3. die Frage, wie die wissenschaftliche Expansion mit der geographischen zusammenhing.

Zur ersten Leitfrage gaben insbesondere die Beiträge von Felicitas Schmieder ("Das Werden des mittelalterlichen Europa aus dem Kulturkontakt: Voraussetzungen und Anfänge der europäischen Expansion"), John Headley ("Expansionist and Imperialist Motifs in the Political Geography of Giovanni Botero"), Christoph Auffarth ("Neue Welt und Neue Zeit: Kolumbus letzter Reisebericht") und Susanna Burghartz ("Dominanz und Prekarität: Faktoren hegemonialer Identität in der europäischen Expansion") Auskunft.

Felicitas Schmieder bestimmte sehr präzise die Eigenart der mittelalterlichen Expansionsbewegung, deren Träger in der Wahrnehmung der Zeitgenossen die christianitas war, eine Einheit, die sich religiös durch die Zugehörigkeit zum (lateinischen) Christentum, politisch durch die Nachfolge und Fortsetzung des römischen Reichs definierte - ein Gedanke, der auch in dem Synonym für christianitas zum Ausdruck kommt: in der Selbstbezeichnung als res publica christiana; diese Vorstellung von einem christlichen Gottesreich in der Nachfolge des römischen Weltreichs prägte sich in allen Merkmalen der mittelalterlichen Expansion aus. Viele dieser Merkmale wurden lange tradiert, einige scheinen durchaus noch die frühneuzeitliche Expansion gekennzeichnet zu haben, so dass, wie am entschiedensten von Christoph Auffarth verfochten, die frühneuzeitliche Expansion auch als Weiterführung und Konsequenz der mittelalterlichen interpretiert werden kann. Die Gegenposition führte John Headley am Beispiel von Giovanni Botero vor. Ausgerechnet das Werk dieses Propagandisten der Gegenreformation lässt erkennen, dass als Träger der frühneuzeitlichen Expansion in der politischen Sprache und Symbolik der Zeit nicht mehr die christianitas in Erscheinung trat, sondern "Europa". Allerdings konkretisierte sich dieses Europa als Gruppe konkurrierender, säkularer Fürstentümer - in anderen Worten: als europäisches Staatensystem. Aus eine prätendierten Einheit entstand also ein System von Konkurrenz. Triebkraft der Expansion war nicht mehr die Errichtung eines Gottesreichs in der Nachfolge des römischen Reichs, sondern die "Staatsräson".

Mit dem ganz anderen methodischen Ansatz der Diskursanalyse und aufgrund von ganz anderen Quellen bestätigte Susanna Burghartz diesen Befund. Sie arbeitete heraus, wie die europäische Expansion der Frühen Neuzeit das Denken aus einem zweipoligen Gegenüber von Eigenem und Fremden herausführte und ein dreipoliges Mit- und Gegeneinander entstehen ließ, in welchem sich die Europäer untereinander unter Umständen feindseliger und fremder gegenüberstanden als die Europäer und die indigene Bevölkerung der Neuen Welt. Auch der Beitrag von Daniel Damler über den Rechtsstreit von Columbus' Erben ließ sich als weiterer Beleg für diese qualitative Veränderung sehen. Denn darüber, dass die Neue Welt nicht oder zumindest nicht mehr unter der Oberhoheit des universalen Papsttums steht, waren sich die Prozessparteien einig: Ob man sie wie Columbus' Erben als vormals herrenloses Land für den Entdecker beanspruchte oder wie die spanische Krone als definitiv in ihre Hand gegeben - beide Parteien leiteten ihre Ansprüche nun von der Feststellung ab, dass die Expansionen von säkularen Mächten oder von deren Beauftragten betrieben würden.

Die zweite Leitfrage nach den Wahrnehmungen und Verarbeitungen der frühneuzeitlichen Expansion brachte durch die vergleichende Perspektive weitere Besonderheiten der westeuropäischen Expansion an den Tag. Eine Besonderheit liegt in den Voraussetzungen für differenzierte Wahrnehmung und Reflexion. Wie Jan Kusber zeigte, wurde, anders als in Westeuropa, die enorme russische Expansionsbewegung kaum zu einem Gegenstand neuer Wahrnehmung oder Reflexion gemacht: Dort gab es kein ethnographisches Interesse an den Eroberten, keine Reiseberichte, keine Erweiterung des Erfahrungsraums, es wurde kein religiöser oder sonstiger Rechtfertigungsdiskurs geführt. Das lag zum einen daran, dass die russische Expansion der Frühen Neuzeit (wie übrigens auch die chinesische) eine Expansion im Zuge einer Reichsbildung ist. Zum anderen aber beruhte es auf dem Verbot des Buchdrucks, dem Fehlen von weltlichen Schulen, der Kümmerlichkeit der Städte, mit einem Wort: auf dem Fehlen einer ausdifferenzierten Öffentlichkeit und politischen Partizipation. (Genau diese Besonderheiten hatte Botero bei den expandierenden westeuropäischen Gemeinwesen konstatiert.)

Durchaus vorhanden, ja vorherrschend war dagegen der religiöse Rechtfertigungsdiskurs in der arabischen Literatur, aus der Ralf Elger ein Beispiel vorstellte. Gleichwohl traten die religiösen Deutungen für den Verlust Andalusiens dort hinter der Beschwörung vergangener kultureller Errungenschaften zurück. Das Scheitern der islamischen Expansion erhielt keine Relevanz für das Handeln in der Gegenwart; folgenlos blieb man auf eine vergangene Größe hin orientiert, deren Erinnerung nun als wesentlich erschien.

Die Europäer sind mit den Niederlagen im Verlauf ihrer Expansion anders umgegangen. Vermutlich lag der entscheidende Unterschied in der Konkurrenzsituation, in der sich die europäischen Staaten befanden. Eigene Siege wie Niederlagen erhielten dadurch eine stimulierende Wirkung. Wie diese sich entfaltete, wurde in der zweiten Sektion mit äußerst genauem Blick am Beispiel von Reiseberichten, Buchillustrationen und Landschaftsgemälden diskutiert und durchaus kontrovers bewertet. Betonte Tanja Michalsky an einem Ende des Spektrums, dass auch vermeintlich exakt beschreibende Landschaftsbilder die Kolonien als fremd nur kennzeichneten, um zugleich deren Beherrschung ins Bild zu rücken, so stellte Ulrike Ilg am anderen Ende des Spektrums an Illustrationen zu französischen Reiseberichten eine Bildrhetorik der Sachlichkeit vor, die sich so bereitwillig auf das Fremde einließ, dass sie zu einer Relativierung von fremder und eigener Kultur im Rahmen eines universellen Zivilisationsprozesses führte. In Maike Christadlers Beispielen von Darstellungen markierter Haut hingegen zeigten sich vielfache Überschneidungen von "eigen" und "fremd", sei es dass Tätowierungen als Ausweis von Vornehmheit in Analogie zu europäischer Kleidung gesetzt wurden, sei es dass Tätowierungen als Ausweis von kriegerischer Wildheit auch den eigenen Vorfahren zugeschrieben wurden.

Mag die Konkurrenzerfahrung der europäischen "Expansionisten" den Blick auch geöffnet haben, so relativierte sie doch ständig die eigenen Ansprüche und Rechtfertigungen der Expansion. Zudem stellte sich nach Entdeckung und Eroberung das Problem, wie man ein Zusammenleben mit den Indigenen organisieren sollte. Wo gab es dafür universelle Prinzipien, in deren Namen man noch antreten konnte? Eine Antwort versuchten die zeitgenössischen Utopien zu geben. Indem man die Expansion als gesellschaftspolitisches Reformprojekt betrachtete und das heißt, indem man sie auf innerweltliche Gemeinwohlvorstellungen verpflichtete, konnte man ein Zusammenleben von Europäern und Indigenen rechtfertigen. Iris Gareis hat das an den südamerikanischen Reduktionen der Franziskaner und Jesuiten gezeigt, Kirsten Mahlke an Marc Lescarbots Programm für ein Neues Frankreich aus dem Geist der Kolonisation.

Eckhard Lobsiens brillanter Abendvortrag "Die Pluralität der Welten im 16. und 17.Jahrhundert" beleuchtete die Frage, wie nach der Entdeckung anderer, neuer Welten, nach ihrer Postulierung und anschließenden wirklichen "Entdeckung" mit Hilfe des Teleskops und Mikroskops die Phantasie des 17.Jahrhunderts um die Frage der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt kreiste. Insbesondere für die literarische Phantasie stellte sich ein neues Legitimationsproblem: Wenn es nämlich, so Eckard Lobsien, die Aufgabe der Literatur und der Künste war, andere Welten zu erschaffen, dann scheint diese Aufgabe obsolet zu werden, sobald andere Welten faktisch andere Welten sind. Diese Überlegungen führten zu einer Bestimmung des Funktionswechsels der Literatur in der Frühen Neuzeit.

Zur dritten Leitfrage nach dem Zusammenhang von wissenschaftlicher und geographischer Expansion leitete der Vortrag von Jürgen Klein über, der Bacons Vision der wissenschaftlichen Welterkenntnis rekapitulierte. Bacon selbst hat seine Wissenschaftstheorie mehrfach mit der geographischen Expansion in Beziehung gesetzt - ob man dieser Selbstdeutung und damit dem dominierenden Narrativ der modernen Wissenschaftsgeschichte folgen will, oder wie das Verhältnis von geographisch-politischer und wissenschaftlicher Expansion sonst zu fassen ist, war hier die Frage.

Vorgestellt worden sind uns zunächst zwei sehr verschiedenen Typen von wissenschaftlicher Expansion: So hat zunächst Maximilian Bergengruen das paracelsische Prinzip einer Überbietung der Natur aus ihr selbst heraus als Expansion des Menschen in die Natur interpretiert - eine Ausweitung, die mit dem Verhältnis von Mensch und Natur zugleich das Verhältnis von Mensch und Gott verschoben habe (weshalb man diese Expansion vielleicht als eine in die Transzendenz bezeichnen könnte). Ganz innerweltlich hingegen verlief zweihundert Jahre später ein zweiter Typ von wissenschaftlicher Expansion. Wie Michael Kempe am Beispiel der Naturgeschichte vorführte, erweiterte sich in der Frühen Neuzeit Schritt für Schritt deren Erfahrungsraum: geographisch durch die Entdeckung außereuropäischer Pflanzen und Tiere; mit Hilfe von Teleskop und Mikroskop ausgreifend in den Weltraum und den Mikrokosmos der Kleinstlebewesen; durch die Beschäftigung mit den Fossilien sogar unter den Erdboden. Eindrucksvoll beschrieb Michael Kempe die Folgen dieser Expansion: die Verzeitlichung der Natur und des Menschen; der Zusammenbruch der naturgeschichtlichen Systematik; die Naturalisierung des Menschen. Die Selbstermächtigung des Menschen gegenüber Gott beim Aufspüren der göttlichen Geheimnisse wurde hier bereits vorausgesetzt; in der Konsequenz lief sie auf eine Ineinssetzung von Mensch und Natur hinaus.

Anschaulich wird die menschliche Machtergreifung an den Maschinen. Dies ist unter Umständen auch der Grund dafür, dass in der Renaissance, wie Romano Nanni zeigte, die Maschinen der Kraftübertragung (etwa im Bauwesen) und der Beherrschung von Wasser (Mühlen) oder Feuer (Kriegskunst) im Mittelpunkt des Interesses standen und nicht der so nützliche Webstuhl.

Dass wir vielleicht zu schematisch denken, wenn wir von "wissenschaftlichen Expansionen" sprechen, stellte Catherine Jami zur Diskussion. Wie sie eindrucksvoll vorführte, bildeten weder die jesuitischen Mathematiker eine einheitliche Gruppe, noch die chinesischen Kalenderberechner. Keine der Gruppen besaß ein einheitliches Wissenschaftsverständnis und darum konnte der Kontakt in sehr verschiedener Weise verlaufen und von beiden Seiten gedeutet werden. Letztlich wirft Jami damit eine grundsätzliche Frage der Wissenschaftsgeschichte auf: wie ausgeprägt man Wissenschaftssysteme als universell bzw. partikular zu begreifen habe. Ist es zulässig, die Mathematik der Jesuiten für "besser", "fortgeschrittener", sprich: universeller zu halten als die der Chinesen? Oder stellen beide - ganz abgesehen von ihrer jeweiligen inneren Diversität - gleich partikulare Antworten auf mathematische Probleme dar? Fasst man die verschiedenen Mathematiken also als prinzipiell gleichrangige Sprachen auf oder als hierarchisierbare Annäherungen an die eine universelle Idealmathematik? Der Hauptstrom der europäischen Wissenschaftsgeschichte tendierte lange Zeit zu der zweiten Ansicht: Sich selbst hielt man für dem Universellen näher als alle anderen Kulturen. Erst die kulturwissenschaftliche Wende hat dieses Selbstverständnis erschüttert. Da diese aber auf der Wahrnehmung kultureller Disparität beruht, kann noch diese wissenschaftsgeschichtliche Selbstrelativierung als Spätfolge der europäischen Expansion gedeutet werden.

Beeindruckend an der Tagung waren der Wille und die Fähigkeit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu intensivem interdisziplinärem Austausch.
Eine Publikation zur Tagung ist vorgesehen und in Planung.

1 zuerst erschienen in: AHF-Information.2003,Nr. 084;
http://www.ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/2003/084-03.pdf

http://www.uni-frankfurt.de/ZFN/