HT 2010: Grenzräume. Dimensionen der Berliner Mauer 1961-2010

HT 2010: Grenzräume. Dimensionen der Berliner Mauer 1961-2010

Organisatoren
Klaus-Dietmar Henke, Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Technische Universität Dresden; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
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Von
Sebastian Richter, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Die Trennung beider deutscher Nachkriegsstaaten vereinigt auf sich wie kein zweites Thema das Ineinandergreifen von physischen, administrativen und weltanschaulichen Grenzen. Mit der Zäsur von 1989/90 hat die eigentliche deutsche Teilungsgeschichte einen zeitlichen Rahmen erhalten. Zwar wird die Überwindung der Mauer weithin als positiv bewertet. Gleichwohl ist die Erinnerung an sie bis heute durch Debatten geprägt, die sich alten, aber auch neuen gesellschaftspolitischen Grenzziehungen verdanken. Das Motto des 28. Deutschen Historikertages „Über Grenzen“ lud dazu ein, einerseits Errichtung, Funktionsweise sowie Ende des DDR-Grenzregimes zu thematisieren und sich andererseits dem wechselhaften Umgang mit den verbliebenen Grenzanlagen zu widmen. Speziell die Geschichte und Nachgeschichte der Berliner Mauer bilden ein eigenes komplexes Geschehen.

Die Sektion „Grenzräume. Dimensionen der Berliner Mauer 1961-2010“ fand im Besucherzentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße statt. Der Ort bot nicht nur den Vorteil des – gegenüber anderen Sektionen – geräumigen Veranstaltungsraumes. Publikum und Podium konnten mit direktem Blick auf die Überreste eines bekannten deutsch-deutschen Grenzabschnitts über das Grenzregime und den nachträglichen Umgang damit diskutieren. KLAUS-DIETMAR HENKE (Technische Universität Dresden) bezeichnete den historischen Ort einleitend als eine „Bodenstation“; dagegen setzte er die „Imagination Mauer“. Während sie nach 1961 rasch eine vom eigentlichen Bauwerk abgehobene metaphorische Bedeutung für die Unterdrückung in der DDR angenommen habe, sei ihr symbolischer Haushalt 1989 um den Aspekt der erfolgreich erkämpften Freiheit angereichert worden. Die Mauer werde, spitzte Henke die Suche nach dem „richtigen“ Umgang mit der ehemaligen Grenze zu, „immer präsenter, je länger sie verschwunden ist“.

Angesichts der Tatsache, dass der internationale Kontext, innerhalb dessen die Mauer einst errichtet wurde, immer weiter in Vergessenheit gerät, setzte sich MANFRED WILKE (Berlin) mit der 1958 einsetzenden zweiten Berlin-Krise auseinander, die 1961 zum Mauerbau geführt hatte. Er betonte das Zusammenspiel von amerikanischen und sowjetischen Strategien, das bis heute unterschätzt werde: Während Ulbricht gegenüber der Sowjetunion auf den Abschluss eines Separatfriedens mit der DDR gedrängt habe, um das „Schlupfloch“ West-Berlin selbst kontrollieren und die für das SED-Regime existenzbedrohende Fluchtwelle aus der DDR eindämmen zu können, sei die Berlin-Frage in Moskau eher geostrategisch als politischer Hebel gegenüber den USA betrachtet worden. Diese wiederum beschränkten in Form von Kennedys „Three Essentials“ ihre Schutzmachtrolle auf den westlichen Teil Berlins. Die amerikanische, auf die neuen politischen Realitäten einregulierte Prinzipienfestigkeit habe dann den Weg zum Mauerbau geebnet, da Chruschtschow mit dem impliziten Einverständnis der USA Ulbricht die Abriegelung der innerdeutschen Grenze zugeben konnte, ohne dabei sowjetische Hoheitsrechte einzubüßen. Die Entscheidung zum Mauerbau sei, legte sich Wilke fest, am 20. Juli 1961 gefallen. In der Forschung gehen die Meinungen über dieses Datum allerdings auseinander, mehr noch als in der Frage, ob die Entscheidung zum Mauerbau eher Ulbricht oder Chruschtschow zuzuschreiben ist. Wilke erkannte hier, wie die meisten Forscher, auf die durchschlagenden Interessen der Sowjets.1

Wilke setzte sich zudem mit der Generationsgebundenheit der Mauer-Erinnerung auseinander. Er unterschied zwischen Mitgliedern der Erlebnisgeneration und jenen, die – bei unterschiedlichen Vorzeichen in Ost und West – im Schatten der Mauer aufgewachsen sind. Den Nachgeborenen wiederum, deren Perspektive, wenn überhaupt, vom Fall der Mauer geprägt ist, sei, so Wilke, die einst an der Demarkationslinie zwischen Ost und West virulente „Frage von Krieg und Frieden“ nicht mehr bewusst. Als sichtbares Symbol für den in Europa zwischen den Großmächten erreichten status quo sei die Mauer schließlich zum Ausgangspunkt für die Entspannungspolitik geworden.

Einen weitgehend anderen Akzent setzte THOMAS LINDENBERGER (Ludwig Boltzmann-Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit, Wien) mit Überlegungen zu den Wechselwirkungen zwischen Grenzregime und Gesellschaftskonstruktion in der DDR. Während der Mauerbau seit 1961 weithin als „Bankrotterklärung“ der Ost-Berliner Machthaber interpretiert worden ist, rückte Lindenberger deren Perspektive in den Mittelpunkt. Abschottung nach außen sei von der SED durchaus als eine notwendige Etappe beim „Aufbau des Sozialismus“ angesehen worden. An seine Überlegungen zur „Diktatur der Grenzen“ anknüpfend, verwies er auf das Gesellschaftskonzept der SED, in dem das Ineinander von rigider Beschränkung menschlicher Mobilität einerseits und von kanalisierten Mobilisierungsabsichten des Regimes andererseits, etwa im Arbeitsumfeld oder in staatlichen Organisationen, typisch gewesen sei.2 Wer die von der Partei gesetzten Grenzen nicht verletzte, habe in der DDR Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen können. Das Wissen um jene unsichtbaren Grenzen zwischen individuellem Aktionsraum und unantastbarer Machtsphäre habe in der DDR „Alltagswissen“ dargestellt. Gespür für die Prärogative der Partei habe innerhalb der gesetzten Grenzen (statt neben der Macht) Freiräume geschaffen. Das Geflecht aus politisch-räumlichen Grenzen habe der Gesellschaft eine „lokalistische Sozialibität“ aufgenötigt, die wiederum, so Lindenberger mit Blick auf den Transformationsprozess nach 1989/90, eine gewisse „Lebenstüchtigkeit“ und einen auch im liberal-kapitalistischen System hilfreichen „Eigensinn“ hervorgebracht hat.

Die anschließend von Manfred Wilke vorgebrachte Kritik, der Fokus Thomas Lindenbergers würde die entscheidenden Faktoren für den Mauerbau auf der internationalen Ebene nicht erfassen, zielte insofern ins Leere, als Lindenberger die Relevanz der alliierten Politik für den 13. August 1961 keineswegs bestritten hatte, sondern das Schließen der äußeren Grenze als eine mit dem SED-Gesellschaftskonzept vereinbare Maßnahme interpretiert hatte. Die offensive Art, in der die DDR-Führung den Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ als Rettung des Weltfriedens nach 1961 alljährlich pries, ist sonst auch kaum erklärlich.

Wie kompatibel Lindenbergers Fokus ist, zeigte sich anhand des Beitrags von GERHARD SÄLTER (Gedenkstätte Berliner Mauer). Mit dem Mauerbau habe die SED auf ein mehrfaches Souveränitätsdefizit reagiert, das vor allem in der Fluchtbewegung gen Westen und dem – durch die bloße Möglichkeit zur Flucht begründeten – beschränkten Zugriff auf die Gesellschaft bestanden habe. Die SED hat, so Sälter weiter, Fluchtverhinderung stets als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ interpretiert und ihre Überwachungsstrategie gegenüber Flucht- bzw. Ausreisewilligen mit einem zentralisierten Überwachungsapparat forciert. In die so genannte „Fluchtabwehr“ seien neben den eigentlichen mit (Aus-)Reiseangelegenheiten befassten Stellen eine Vielzahl sonstiger Behörden, bis hin zur Wohnungswirtschaft, aber auch Zivilisten eingebunden gewesen. So sei es gelungen, etwa 80 Prozent aller Fluchtversuche im Vorfeld abzufangen. Zwar sei der Staat in seiner Absicht, die Gesellschaft zur Verhinderung von Fluchten zu gewinnen, nur partiell erfolgreich gewesen. Durch die Mitarbeit in so genannten „Grenzsicherungsaktiven“ bzw. „Kommissionen für Ordnung und Sicherheit“ sei es dem Einzelnen möglich gewesen, „systemzugewiesene Reputation“ zu erwerben. Auf Dauer sei die Diskrepanz zwischen den Ordnungsvorstellungen des Staates und jenen in der Bevölkerung aber unüberbrückbar gewesen.

Im zweiten Sektionsabschnitt standen Fragen des Mauer-Gedenkens sowie ihre Umsetzung in der Gedenkstätte Berliner Mauer im Vordergrund. Deren Direktor AXEL KLAUSMEIER ging auf ihre Besonderheit als einziger Berliner Ort ein, an dem die Tiefenstaffelung der einstigen Sperranlagen noch nachvollzogen werden kann. Dass dieser Zustand inmitten des allgemeinen Abrissgeschehens nach 1989 erhalten werden konnte, ist zähem bürgerschaftlichen Engagement, insbesondere der von Pfarrer Manfred Fischer geleiteten Versöhnungsgemeinde, dem Verein Berliner Mauer und schließlich politischen Entscheidungen auf Landes- sowie auf Bundesebene zu verdanken. Erst dadurch wurde die großflächige Ausstellung an der Bernauer Straße ermöglicht. Deren erster Abschnitt, dessen Zentrum das „Fenster der Erinnerung“ mit Photos der an der Grenze zu West-Berlin Getöteten bildet, wurde am 21. Mai 2010 im Beisein zahlreicher Opferangehöriger und des Regierenden Bürgermeisters eröffnet.

Die Bernauer Straße ist, so Axel Klausmeier, sowohl „historischer Ort“, an dem sich nach dem 13. August 1961 viele dramatische Fluchten abgespielt haben, als auch „Tatort“, an dem Menschen durch das Grenzregime zu Tode gekommen sind, und schließlich ein „Lern- und Bildungsort“. Auf die langwierigen Debatten um das Wie und Wo der Mauer-Erinnerung an der Bernauer Straße ging er, vielleicht aus Zeitgründen, nicht näher ein (Fürsprecher einer martialischer gehaltenen Wiedererrichtung der Grenzanlagen hatten gegen das letztlich umgesetzte Gedenkstättenkonzept zunächst ebenso gestritten wie ehemalige Eigentümer der für die Gedenkstätte vorgesehen Mauergrundstücke sowie die um die Bewahrung ihres einstigen Friedhofs bemühte, im ehemals östlichen Teil Berlins beheimatete Sophiengemeinde). Klausmeier erläuterte, dass die zentrale Prämisse des Gedenkstättenkonzepts in „jeglichem Verzicht auf Rekonstruktion“ liege. Nur so sei das Vertrauen der Besucher in die Authentizität des Ortes zu erhalten. Darum habe man sich mit archäologischer Akribie der Freilegung der erhaltenen Grenzspuren, seien es Mauerteile, alte Signalanlagen, Fluchttunnel oder freigelegte Bürgersteige, verschrieben. Der eigentliche Verlauf der Mauer wird dagegen, um sowohl die räumlichen Ausmaße als auch das Trennende der Grenzanlage zu verdeutlichen, mit zahlreichen aus Corten-Stahl gefertigten Streben markiert.

Die Frage nach dem Verhältnis von physischer und imaginierter Mauer aufgreifend, widmete sich LEO SCHMIDT (Brandenburgische Technische Universität Cottbus) dem veränderlichen medialen Konstrukt Mauer, das von unterschiedlichen visuellen Perspektiven zu unterscheiden sei. Während der „antifaschistische Schutzwall“ von der SED offiziell in Form des mit der DDR-Fahne drapierten „geschützten“ Brandenburger Tores ikonisiert wurde, hätten DDR-Bürger selbst – wenn überhaupt – nur die in weiß-grau gehaltene Hinterlandmauer zu Gesicht bekommen. Der West-Blick auf die Mauer war dagegen von der mit Graffiti übersähten Außenmauer, ihrem eigentlichen „Hinterteil“, geprägt. Diese auf zahllosen Abbildungen festgehaltene bunte Mauer-Ansicht hat aber, so Schmidt, eher eine Spiegelung der westlichen Lebenswelt als eine Beschäftigung mit den Verhältnissen in der DDR dargestellt. Das Brandenburger-Tor-Motiv habe sich längst weltweit als Ikone sowohl für die Teilung der Stadt als auch ihrer Überwindung etabliert. Typisch für den konstruktiven Charakter sei auch hier, dass weniger die konkrete Situation in Berlin, sondern die eigene Interpretation der historischen Ereignisse und das jeweils eigene Interesse daran thematisiert würden. Als Kontrapunkt zum Mauer-Gedenken nach 1989/90, das sich auf die bei Fluchtversuchen Getöteten und Geschädigten konzentriert, präsentierte Schmidt Filmaufnahmen vom militärischen „Kampfappell“ in Ost-Berlin 1986, der anlässlich des 25. Jahrestags der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ abgehalten worden war.

Axel Klausmeier und Leo Schmidt erläuterten, dass die Planungen für die sogenannte „Mauer 2000“ während der 1980-Jahre bereits in Angriff genommen worden waren. Dies hätte die – letztlich nicht mehr errichtete – 4. Mauer-Generation dargestellt. Unabhängig davon seien an der Mauer seit dem 13. August 1961 beständig Ausbesserungsarbeiten vorgenommen worden, da die einzelnen Betonsegmente lediglich eine Lebensdauer von etwa 20 Jahren besaßen. Mit Blick auf die Debatten um das Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor berichtete Klausmeier, dass es auf dem weiträumigen Gelände der Mauer-Gedenkstätte bislang kein „Vandalismus-Problem“ gegeben habe. Darauf angesprochen, warum es trotz der strikten Absage an Rekonstruktionsmaßnahmen zur Wiedererrichtung eines Wachturms gekommen ist, verwies er darauf, dass der Turm nicht im Gelände der neu eröffneten Open-Air-Ausstellung, sondern auf dem Areal des bereits 1998 eingeweihten Kohlhoff’schen Mauer-Denkmals stehe. Diese Lösung sei von den beiden Architekten ausdrücklich befürwortet worden.

Den in der Gedenkstätte an der Bernauer Straße verfolgten Ansatz zusammenfassend und die Mehrdimensionalität der Berliner Mauer nochmals vor Augen führend, wies Klaus-Dietmar Henke abschließend darauf hin, dass eine Rekonstruktion des Grenzregimes von seinen vorfindlichen Überresten ausgehen, dann aber im Kopf stattfinden müsse. Den Schrecken der Geschichte könne man nicht mit bloßem Nachbauen evozieren; die eigentliche Gefahr des Grenzregimes sei auch nicht von der Mauer selbst, sondern von ihren Bewachern ausgegangen, die sich niemand zurück wünsche. Das Mauergeschehen sei im Übrigen leichter zu vermitteln als die in NS-Gedenkstätten thematisierten Ereignisse. Dass die meisten Menschen heute das Bild von der gefallenen Mauer vor Augen haben, erinnere schließlich daran, dass dieser Teil der Geschichte letztlich gut ausgegangen ist.

Sektionsübersicht:

Manfred Wilke (Berlin): Die Berliner Mauer im Zentrum des längsten Konflikts des Kalten Krieges zwischen 1958 und 1963

Thomas Lindenberger (Wien): Die Wechselwirkung von Grenzregime und Gesellschaftskonstruktion im SED-Staat

Gerhard Sälter (Berlin): Fluchtverhinderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Axel Klausmeier (Berlin): Die Bernauer Straße als deutscher Erinnerungsort

Leo Schmidt (Cottbus): Die Berliner Mauer als globale Ikone: vom Bauwerk zum lieu de mémoire

Anmerkungen:
1 Vgl. Gerhard Wettig: Rezension zu: Harrison, Hope Millard: Driving the Soviets up the Wall. Soviet-East German Relations, 1953-1961, Princeton 2003, in: H-Soz-u-Kult, 12.11.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-087> (26.10.2010).
2 Vgl. Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 13-44.


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