Arbeit am europäischen Gedächtnis: Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung. 9. Internationales Symposium der Stiftung Ettersberg

Arbeit am europäischen Gedächtnis: Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung. 9. Internationales Symposium der Stiftung Ettersberg

Organisatoren
Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung
Ort
Weimar
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.10.2010 - 23.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Elisabeth Kübler, Universität Wien / Lauder Business School, Wien

Ist von europäischem Gedächtnis die Rede, so handelt es sich meist um eine normative Forderung denn um empirisch nachweisbare Realität. Geprägt sind die entsprechenden Debatten von west- und osteuropäischen Missverständnissen im Umgang mit dem stalinistischen und post-stalinistischen realsozialistischen Erbe angesichts des Holocaust als unbestrittenen europäischen Erinnerungsort. Weimar mit dem ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Buchenwald und dem nachmaligen Sowjetischen Speziallager ist mithin ein symbolisch befrachteter Ort für das von der Stiftung Ettersberg veranstaltete 9. Internationale Symposium zur „Arbeit am europäischen Gedächtnis: Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung“.

In seinem Einführungsvortrag näherte sich ETIENNE FRANÇOIS (Freie Universität Berlin) den Begriffen Europa und Gedächtnis. Während er eine pragmatische und nicht a priori verbindliche Definition von Europa vorschlägt, grenzt er Gedächtnis als lebendige Gegenwart des Vergangenen präzise von Erinnerung ab, die nur in der Vergangenheit zu finden sei. Die doppelte Bedeutung des geteilten Gedächtnisses im Sinne von geteilt-gemeinsam und geteilt-trennend erachtet François als bezeichnend für ein zumindest in Ansätzen vorhandenes europäisches Gedächtnis. Als Elemente dieses in die breite Bevölkerung diffundierten und von ihr zu tragenden europäischen Gedächtnisses nennt François unter anderem die vergleichbare Verzahnung nationaler Erinnerungen, eine übergreifende mentale Topografie und Bezüge außerhalb des eigenen Territoriums (z.B. Versailles, Auschwitz, Stalingrad, Rom), den Wandel Europas zu einem Raum der Annäherung und Zirkulation mit gemeinsamen Institutionen und die Verbannung der Kriegsoption, die auch in der Empörung über die Balkan-Kriege Ausdruck fand. Schließlich moniert François, dass sich europäische Geschichte weder auf das 19. und 20. Jahrhundert noch auf den geografischen Raum Europa beschränken ließe; als Beispiele führte er den Kapitalismus sowie Shanghai mit seiner Kolonialarchitektur und der dort stattfindenden Gründung der chinesischen Kommunistischen Partei an.

Gleichsam die Probe auf das Exempel zum Grad der Europäisierung nationaler Historiografien und kollektiver Gedächtnisse machten die folgenden Podien unter der Leitung von Robert Traba (Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften) zu Österreich, Deutschland und Italien sowie moderiert von Peter März (Bayerische Landeszentrale für politische Bildung) zu Spanien, Russland, Frankreich und Polen. GILBERT MERLIO (Sorbonne Paris) identifizierte ausgehend von Frankreich die Inszenierung, Ästhetisierung, Ritualisierung, Fragmentierung und Verrechtlichung der Erinnerung als gemeinsame europäische Dimension. Auch ECKART CONZE (Philipps-Universität Marburg), der in seinem Beitrag Deutschland als Bindeglied zwischen west- und osteuropäischer Erinnerungstradition sah, schnitt die Universalisierung und Europäisierung von Holocausterinnerung sowie deren Bedeutung für die europäische Integration an. Die länderbezogenen Vorträge ließen jedoch kaum vorschnelle Schlüsse auf einheitliche oder zumindest parallel verlaufende europäische Entwicklungen zu. Am Beispiel Polens kommt ROBERT TRABA (Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften) zum Schluß, daß das Ende nationaler Meistererzählungen noch keineswegs eingeläutet sei. Das offizielle Österreich wählte bis Mitte der 1980er-Jahre eine Strategie der Externalisierung, wobei vermittels des Abgrenzens gegenüber Deutschland („fremder aufoktroyierter Krieg“) und gegenüber Osteuropa („Verteidigung der Heimat gegenüber slawisch-bolschewistischen Horden“) nationale Identitätsstiftung betrieben wurde (HEIDEMARIE UHL, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien). Italien hingegen war bis in die 1980er-Jahre durch gegenseitige Schuldzuweisungen der Christdemokratie und der kommunistischen Partei erinnerungspolitisch zutiefst gespalten (GÜNTHER HEYDEMANN, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden). Dem Europäisierungsparadigma nur äußerst bedingt zurechenbar ist (das kastilische) Spanien. In der Tat entwickelt sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts eine differenzierte Debatte über die Franco-Diktatur, in der nicht mehr ausschließlich das Zuschütten von historischen Gräben zum Zwecke der Demokratiekonsolidierung betrieben wird. Allerdings sei die spanische Auseinandersetzung laut WALTHER BERNECKER (Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg) zur Gänze binnenorientiert. Wie ALEXANDER VATLIN (Lomonossow Universität Moskau) aufzeigte, stellt sich für Russland zuvorderst die Frage, ob es sich überhaupt als Teil Europas begreifen soll. Selbst wenn diese bejaht würde, bestünde weiterhin der fundamentale Unterschied der positiven Rezeption des Großen Vaterländischen Krieges und (partiell) der stalinistischen Modernisierungswelle.

Der zweite Teil des Symposiums wurde durch WŁODZIMIERZ BORODZIEJ (Universität Warschau und wissenschaftlicher Beirat zum im Aufbau befindlichen Haus der Europäischen Geschichte), eröffnet, wobei er auf zentrale Überlegungen des von ihm geführten Sachverständigenausschusses zur Konzeptualisierung des Hauses der Europäischen Geschichte einging. Die Gründung dieser Einrichtung wurde 2007 vom damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering angeregt. Der Ausstellungsbetrieb soll 2014 in Brüssel starten. Trotz eines vom Europäischen Parlament zugesicherten Haushaltes wird das Haus der Europäischen Geschichte unabhängig sein und hat unter anderem den Aufbau einer eigenen Sammlung zum Ziel. Laut Borodziej wurde ein Erinnerungskonzept mit Mut zur Lücke erarbeitet, wobei die Addition nationaler und regionaler Historien nachgerade vermieden werden soll. Der Fokus liegt auf einer politikgeschichtlichen Betrachtung der Friedensphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Die entsprechende Einbeziehung der östlichen Hälfte Europas bei gleichzeitigem Bewusstsein der Unmöglichkeit einer Identitätsschaffung im Stile eines europäischen Treitschkismus bildeten die größten Herausforderungen. Themenkreise wie Migration und Kolonialismus, die das Ost-West-Gleichgewicht wiederum in Frage stellten, könnten jedoch abweichend vom Konzept in der tatsächlichen Ausstellung höhere Präsenz erhalten. Borodziej konzedierte, dass es sich hierbei um ein Elitenprojekt für eine noch nicht existente europäische Öffentlichkeit handle. Gleichzeitig wies er Kritik nach fehlender Berücksichtigung einzelner nationaler Narrative zurück, denn diese seien selbst nicht in sich geschlossen und würden durch das Haus der Europäischen Geschichte ergänzt und bereichert.

Ob das Haus der Europäischen Geschichte potentiell den Weg Richtung europäisches Gedächtnis ebne, wurde auf einem anschließenden Panel unter dem Vorsitz von Lutz Niethammer (Friedrich Schiller Universität Jena) kontroversiell diskutiert. FRANZISKA AUGSTEIN (Süddeutsche Zeitung) meldete Widerspruch an, da das geplante Haus in Brüssel errichtet werde und keine Wanderausstellung sei, die zu den Menschen käme. VOLKHARD KNIGGE (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora), der seiner Ablehnung einer teleologischen und top-down implementierten „europäischen Kabinettgeschichtspolitik“ Ausdruck verlieh, sieht die Realisierung der Brüsseler Schau als Kristallisationspunkt für Geschichtsbewusstsein und netzwerkartige und dialogische Erinnerungen. Diesen sollte anstelle einer Hegemonialisierung Schubkraft verliehen werden. Inhaltlicher Natur war die Kritik von ZSUZSA BREIER (Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa e.V., Berlin), die Defizite bei der Erinnerung an den GULag und – über das gegenständliche Museumsprojekt hinaus – eine andauernde populärkulturelle Ikonisierung von Mao, Stalin und Che Guevara in Westeuropa ausmachte, während das Konterfei Jan Palachs auf keinen T-Shirts zu finden sei. Die ebenfalls im Sachverständigenausschuss vertretene MÁRIA SCHMIDT (Haus des Terrors, Budapest) störte sich an der fehlenden Erwähnung der „großen Leistung der Kirche“ und der „positiven Rolle des Nationalismus gegen den Totalitarismus“. STEFAN TROEBST (Universität Leipzig) warnte vor einer trügerischen Dichotomie zwischen Nation und Europa, die mesoregionale Entwicklungen wie die gemeinsame Diktaturerfahrung in Ost- und Südeuropa (Griechenland, Spanien, Portugal) aus dem Blick verlöre und sich heutiger europäischer Diktaturen in Belarus und Transnistrien nicht stelle.

Im Rahmen der Publikumsfragen warf Etienne François ein, dass mit dem Europa-Museum in Brüssel bereits ein zivilgesellschaftliches Bottom-up-Projekt, also ein Gedächtnismuseum, bestehe, was den elitären Charakter des vorliegenden Geschichtsmuseums unterstreiche. Zudem fehlten ihm die vergleichende Perspektive mit dem Rest der Welt und die Entsendung nicht-europäischer Vertreterinnen und Vertreter in den Beirat. Weil die Nennung der umstrittenen Vokabel Identität im Museumskonzept tunlichst unterlassen wurde, schlug Gilbert Merlio in seiner Reaktion die Auseinandersetzung mit mehrfachen Identifizierungsmöglichkeiten und Identifizierungsstufen vor.

In seinem Begrüßungsstatement bezeichnete HANS-JOACHIM VEEN, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg, den öffentlichen Diskurs über das EU-Großprojekt Haus der Europäischen Geschichte als längst überfällig. Zumindest ansatzweise stellte die Weimarer Veranstaltung einen Raum für die öffentliche und europaweit zu führende Debatte über europäisches Gedächtnis und die Musealisierung Europas zur Verfügung. Positiv zu vermerken ist die Tatsache, dass Vortragende aus verschiedenen Ländern (mit der Einschränkung der für dieses Symposium unabdingbaren Deutschkenntnisse) und unterschiedlicher politischer Provenienz eingeladen worden waren. Dabei wurden auch geschichts- und erinnerungspolitisch weniger häufig diskutierte Fallbeispiele wie Spanien und Russland berücksichtigt. Zudem ergänzten sich die Perspektiven von Mitwirkenden am Haus der Europäischen Geschichte und kritische Beobachterinnen und Beobachtern des Projektes. Schließlich bot die beispielhafte Zeitdisziplin auf den Podien genügend Raum für Publikumsfragen und deren eingehende Beantwortung.

Allerdings wiederholte sich auch bei der Tagung der Stiftung Ettersberg die Grundproblematik der Differenz zwischen akademischem Elitendiskurs und der vielfach geforderten bürgerschaftlichen Beteiligung an den Diskussionen zu Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklungen in Europa. Unbeschadet der hervorragenden Kompetenz der Vortragenden, waren es fast ausschließlich professorale Expertinnen und Experten, die die Themen setzten und ihre jeweiligen Interpretation anboten. Der Zuhörendenschaft, unter der sich Pädagoginnen und Pädagogen, Medienleute, zivilgesellschaftlich Aktive, wissenschaftlicher Nachwuchs, in der Geschichtsvermittlung Tätige und am Gegenstand interessierte Menschen befanden, blieb lediglich die Möglichkeit des Nachfragens und Reagierens. Wenig überraschend kamen subalterne Blickwinkel auf europäische Geschichte gar nicht oder nur im Sinne eines Sprechens über „das Andere“, nicht jedoch im Kommunizieren mit „den Anderen“ vor; im vorliegenden Fall wäre die Perspektive von Roma und Romnia eine lohnende, weil Mainstreamansichten herausfordernde gewesen. In einer optimistischen Lektüre bildet das Symposium „Arbeit am europäischen Gedächtnis: Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung“ einen der Anfangspunkte öffentlicher, auch nicht akademischer Interventionen in das weitgehend ohne Öffentlichkeit entstandene Konzept für das Haus der Europäischen Geschichte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Hans-Joachim Veen (Stiftung Etttersberg, Weimar)

Warum brauchen wir ein europäisches Gedächtnis? Zum Stand der Diskussion: Etienne François (Freie Universität Berlin)

Wie europäisch ist die nationale Erinnerung?

Österreich: Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien)

Deutschland: Eckart Conze (Philipps-Universität Marburg)

Italien: Günther Heydemann (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden)

Leitung: Robert Traba (Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften)

Polen: Robert Traba (Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften)

Frankreich: Gilbert Merlio (Sorbonne Paris)

Spanien: Walther Bernecker (Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg)

Russland: Alexander Vatlin (Lomonossow Universität Moskau)

Leitung: Peter März (Bayerische Landeszentrale für politische Bildung)

Das Europäische Haus der Geschichte: Ein Erinnerungskonzept mit dem Mut zur Lücke: Włodzimierz Borodziej (Universität Warschau und wissenschaftlicher Beirat zum Haus der Europäischen Geschichte)

Das Europäische Haus der Geschichte: Auf dem Weg zu einem europäischen Gedächtnis?
Franziska Augstein (Süddeutsche Zeitung)
Włodzimierz Borodziej (Universität Warschau und wissenschaftlicher Beirat zum Haus der Europäischen Geschichte)
Zsuzsa Breier (Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa e.V., Berlin)
Volkhard Knigge (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora)
Mária Schmidt (Haus des Terrors, Budapest)
Stefan Troebst (Universität Leipzig)
Leitung: Lutz Niethammer (Friedrich Schiller Universität Jena)


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts