Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern

Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern

Organisatoren
Förderverein Lepsiushaus Potsdam e.V.
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.11.2010 - 27.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Nadine Rödel, Förderverein Lepsiushaus Potsdam e.V.

Am 26. und 27. November 2010 fand im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam eine internationale Konferenz des Fördervereins Lepsiushaus Potsdam e.V. statt. Die Konferenz verfolgte das Ziel, das unmittelbare Wirken des evangelischen Theologen und Orientmissionars Johannes Lepsius (1858-1926) vorzustellen, die historische Darstellung des Völkermords an den Armeniern in den Jahren 1915/1916 nachzuzeichnen sowie dessen Aufarbeitung und seine bis heute reichenden Auswirkungen in den Ländern Deutschland, Armenien und der Türkei aufzugreifen. Die Tagung, die sich nicht nur an Fachhistoriker, sondern an ein breites Publikum wandte, eröffnete HANS-ULRICH SCHULZ (Potsdam), Generalsuperintendent i.R. und 1. Vorstandsvorsitzender des Fördervereins LEPSIUSHAUS POTSDAM e.V. HEILGARD ASMUS, Generalsuperintendentin für den Sprengel Potsdam der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) sprach als Vertreterin der evangelischen Kirche ein Grußwort.

Das erste Panel widmete sich mit vier Vorträgen dem Leben und Werk von Johannes Lepsius und der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, damals wie heute. In seinem Einführungsvortrag, den AXEL MEISSNER (Halle an der Saale) in Vertretung für HERMANN GOLTZ, Direktor des MESROP Zentrums für Armenische Studien an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, vorlas, zeichnete er ein Bild von Johannes Lepsius, dem es trotz der schwierigen Umstände seiner Zeit gelang, seine Schriften über die Lage des armenischen Volkes zu verbreiten, nicht nur in Deutschland, sondern auch europaweit. Dabei nannte Meissner drei wesentliche Elemente, die Johannes Lepsius als Theologen bewegten: Erstens, den politischen Widerstand gegen die Politik der jungtürkischen Diktatorengruppe des Osmanischen Reichs, welche den Völkermord an den Armeniern planten und durchführten; zweitens den zugleich politischen Widerstand gegen die Politik der politisch-militärischen Führung des Deutschen Reichs, welche zur Realisierung ihrer militärisch-strategischen und wirtschaftlichen Ziele diesen Völkermord an den Armeniern in Kauf nimmt und drittens den praktischen humanitären Einsatz für das von völliger Vernichtung bedrohte armenische Volk. Der Vortrag wandte sich vor allem an die Kritiker von Johannes Lepsius, die ihren Urteilen über ihn nicht die richtigen methodischen Fragestellungen der Geschichtswissenschaft zugrunde legen würden. Diese seien: An wen schreibt Johannes Lepsius? Was ist im Text dem Adressaten geschuldet? Was will er erreichen?

Anschließend nahm HANS-LUKAS KIESER (Zürich), Präsident der Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei, in seinem Vortrag die Person Johannes Lepsius als Deutscher, Protestant und Orientmissionar der Belle Epoque in den Blick. Dieses dreifache Selbstverständnis setzte er in Beziehung zur damaligen „Protestantischen Internationalen“ – eines informellen Netzwerkes missionarischer Institutionen, Personen und Diskurse. Er führte die hohe Erwartung an eine friedvolle Synthese evangelischer Orientmission und deutscher Orientpolitik am Vorabend des 1. Weltkriegs aus. Dabei ging er auch auf den Ersten Weltkrieg und die Zeit danach ein, als zwei von Lepsius' zeitgeschichtliche Koordinaten – das wilhelminische Deutschland und die bisherige Protestantische Internationale – wegfielen. Damit zog Kieser einen Rahmen, um Lepsius, seiner Vernetzung und seinem von Aporien gezeichneten letzten Lebensjahrzehnt zeitgeschichtlich und biografisch gerecht zu werden. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass, obgleich das Deutsche Reich strategisches Gewicht hatte, Geldgeber war und politische Erfolge zu verzeichnen hatte, in der Wissenschaft keine Einigung darüber besteht, ob das Deutsche Reich tatsächlich genug Einfluss hätte geltend machen können, um den Völkermord 1915/1916 zu verhindern.

M. RAINER LEPSIUS (Heidelberg) stellte Johannes Lepsius als politischen Menschen vor, was insbesondere in der Zusammenarbeit mit Kurt Hahn von 1916-1922 zum Ausdruck kam. Diese Zusammenarbeit beruhte auf familiärer Vertrautheit und auf gemeinsamen politischen Einstellungen. Hahn arbeitete von 1914 bis 1919 im Auswärtigen Amt in Berlin. Zusammen engagierten sie sich für einen Frieden auf der Grundlage gleichberechtigter Verhandlungen. Johannes Lepsius verfasste im holländischen Exil regelmäßige ausführliche Berichte über die Friedensbereitschaft von England und die politische Stimmung im Land durch die Auswertung der englischen Presse und aus den Kontakten mit seinen holländischen Gewährsleuten. Rainer Lepsius charakterisierte Johannes Lepsius in seinem Vortrag als einen deutschen Patrioten, nicht aber als Nationalisten, der in einem protestantisch-preußischen Selbstverständnis aufgewachsen sei. Er sei idealistisch, religiös und bürgerlich-liberal gewesen.

MANFRED ASCHKE (Weimar) referierte über die Kontroverse zwischen Johannes Lepsius und Friedrich Naumann, die über die Grundsatzfrage des Verhältnisses zwischen Christentum und Politik entstanden war. Den Schwerpunkt der Auseinandersetzung zwischen Lepsius und Naumann bildete nach Aschke die Frage, ob Christen sich auf karitative Hilfe für die armenischen Opfer zu beschränken oder ob sie sich auch politisch für die Sache der Armenier hätten einsetzen müssen, ob sie also auch hätten versuchen sollen, auf die Politik der Reichsregierung Einfluss zu nehmen. Bei Naumann hätten nationale Weltmachtinteressen vor ethischer und moralischer Verantwortung gestanden, während Lepsius der Weltmachtpolitik eine christliche Fundierung zugrunde legen wollte.

Den ersten Konferenztag beschloss die Schauspiel-Lesung mit Musik „Der Prozess Talaat Pascha – Der Völkermord an den Armeniern“, die sehr gut verdeutlichte, wie das Thema des Genozids auf moderne Art und Weise aufgearbeitet und erinnert werden kann.

Den zweiten Konferenztag eröffnete ARMENUHI DROST-ABGARJAN (Halle an der Saale) mit einer kurzen Zusammenfassung des Vortages. Das zweite Panel der Konferenz befasste sich in drei Vorträgen mit dem Thema des Genozids, sowohl dem Völkermord an den Armeniern, als auch in der Erweiterung des historischen Blickes auf die Völkermorde im 20. Jahrhundert. In seinem Vortrag erörterte der Historiker und Schriftsteller ROLF HOSFELD (Ferch) den Zusammenhang zwischen dem türkischen Nationalismus, der das osmanische Reich durch den Weg einer konservativen Modernisierung und Türkisierung vor dem Auseinanderbrechen bewahren wollte, und der vor diesem Hintergrund geplanten und durchgeführten ethnischen Säuberung bzw. dem Völkermord an den Armeniern 1915/16.

MICHAEL WILDT (Berlin) zog mit seinem Vortrag über die Ethnisierung der Politik im 20. Jahrhundert einen größeren Rahmen über die Konstruktion des Volkes als Lebensordnung. Dabei wurde demos zu ethnos, um die rassistisch hierarchisierten Völker zu optimieren. Wildt erklärte, dass die biologische Definition des Volkes weder Gleichberechtigung noch territoriale Integrität zulasse, sondern nach Segregation, Vertreibung und Vernichtung verlange.

WOLFGANG BENZ (Berlin) gab in seinem Beitrag einen Überblick über die Genozidforschung in vergleichender Perspektive. Die Völkermordforschung stecke noch in den Anfängen, da sie auch moralisch umstritten sei. Oft wird die Frage gestellt, ob man denn überhaupt vergleichen dürfe und ob das nicht einer Marginalisierung des Holocausts gleiche. Benz erläuterte jedoch, das Ziel einer vergleichenden Genozidforschung bleibe die Prävention, dazu sei komparatistisches Vorgehen unerlässlich. Immerhin sei das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Völkermorde.

Im dritten und letzten Panel der Konferenz ging es dann um die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern. ANNETTE SCHAEFGEN (Berlin) zeigte die Verarbeitung des Genozids in Deutschland seit der Gründung der BRD im Zusammenhang mit den deutsch-armenischen Beziehungen auf. Armenien als kleines Land im Kaukasus sei für Deutschland geopolitisch unbedeutend gewesen. Deutschland habe außenpolitisch keine Sensibilität für das Thema gezeigt. Auch wenn der Völkermord an den Armeniern in der internationalen Wissenschaft als erwiesen gelte, falle es der deutschen Politik bis heute schwer, diesen als solchen anzuerkennen. Die Bundestagsresolution von 2005 sei demzufolge ein historischer Meilenstein gewesen. Beispielhaft erläuterte Frau Schaefgen die Stimmung zum Thema an den vielfältigen Reaktionen auf die Ausstrahlung des Films „Aghet“ 2010, der in den öffentlich-rechtlichen Sendern gezeigt wurde, auf die Streichung des Themas Genozid aus dem Brandenburger Lehrplan 2005 sowie auf die Gründung des Fördervereins LEPSIUSHAUS POTSDAM e.V. 1999. Türkische Gruppierungen warfen den Initiativen zum Teil Propaganda und eine Gefährdung des inneren Friedens vor. Dennoch gebe es mittlerweile auch Stimmen von Deutschen mit türkischer Herkunft, die sagten, dass solche Initiativen und Filme wichtig und notwendig seien. In der sich anschließenden Diskussion kam die Frage auf, wie die Rolle der Parlamentarier des Deutschen Bundestages zu beurteilen sei, da in der Politik immer verschiedene Interessen abgewogen werden müssten. Wolfgang Benz entgegnete daraufhin, dass er dafür als Historiker kein Verständnis habe. Nach der UN-Konvention sei es ein Völkermord gewesen und Deutschland ist Mitglied der Vereinten Nationen. Er führte aus, dass man in einem demokratischen Staat so nicht weiterkommen würde, da es schließlich um die Anerkennung eines historischen Sachverhalts gehe.

SEYHAN BAYRAKTAR (Zürich) stellte dann die Diskussion des Genozids in den türkischen Medien vor, wobei sie der Frage nachging, ob es in der Zeit von 1973 bis 2005 einen Wandel im medialen Diskurs gegeben habe. Dabei stellte sie fest, dass die armenische Gemeinde der Türkei bis heute mit anhaltender juristischer, politischer und gesellschaftlicher Diskriminierung, Marginalisierung und Demütigung konfrontiert sei, auch wenn in jüngster Zeit nach Jahrzehnten türkischer Rechtfertigungsversuche bzw. einer aktiven Leugnungspolitik ein Annäherungsprozess zwischen der Türkei und Armenien eingeleitet worden sei. Frau Bayraktar machte deutlich, dass die Türkei noch immer einen problematischen Umgang mit dem Mord an mehr als einer Million Armeniern während des Ersten Weltkrieges hege.

Im letzten Vortrag des dritten Panels betrachtete RAFFI KANTIAN (Hannover) aus armenischer Sicht die Armenisch-Türkischen Protokolle im Lichte der Genozid-Diskussion in der Türkei. Dabei machte er vor allem deutlich, dass man die Armenier in der Türkei von den Armeniern in Armenien und der armenischen Diaspora unterscheiden müsse. Jede „Gruppe“ lebe in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die man berücksichtigen müsse.

Nach zwei Konferenztagen mit interessanten Beiträgen und lebhaften Diskussionen lässt sich zusammenfassend sagen, dass die herausragende Bedeutung von Johannes Lepsius darin besteht, dass er als Kind seiner Zeit mit seiner Zeugenschaft und seinem humanitären Engagement die Maßstäbe seiner Zeit überwunden hat. Für die Erinnerung an den Völkermord, insbesondere jedoch für den Versöhnungsprozess hat die Tagung einen wichtigen Beitrag geleistet, indem armenische, deutsche und türkische Standpunkte deutlich geworden sind. Dennoch gibt es weiterhin erheblichen Forschungs-, Gesprächs- und Verständigungsbedarf.

Konferenzübersicht

Hans-Ulrich Schulz (Potsdam): Begrüßung, Eröffnung der Konferenz

Heilgard Asmus (Potsdam): Begrüßung

Hermann Goltz/Axel Meissner (Halle an der Saale): Einführung in das Thema Lepsius, Diskussion

Hans Lukas Kieser (Zürich): Johannes Lepsius, Orientmissionar: Annäherung an eine deutsche protestantische Biografie der Belle Epoque

M. Rainer Lepsius (Heidelberg): Johannes Lepsius und Kurt Hahn

Manfred Aschke (Weimar): Das christliche Deutschland und die Weltmachtpolitik. Zur Kontroverse zwischen Johannes Lepsius und Friedrich Naumann

Armenuhi Drost-Abgarjan (Halle an der Saale): Begrüßung zum zweiten Konferenztag, Zusammenfassung

Rolf Hosfeld (Ferch): Rechtsmodernismus und Säuberung. Der türkische Nationalismus und der
Völkermord an den Armeniern 1915/16, Diskussion

Michael Wildt (Berlin): Ethnisierung der Politik im 20. Jahrhundert

Wolfgang Benz (Berlin): Genozidforschung in vergleichender Perspektive

Annette Schaefgen (Berlin): Die Rezeption des Genozids in Deutschland

Seyhan Bayraktar (Zürich): Die Diskussion des Genozids in der Türkei

Raffi Kantian (Hannover): Aspekte der Armenisch-Türkischen Protokolle im Lichte der Genozid-Diskussion in der Türkei - Eine armenische Sicht


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Deutsch
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