Wissenschaftskommunikation im digitalen Zeitalter

Wissenschaftskommunikation im digitalen Zeitalter

Organisatoren
recensio.net; Historisches Kolleg München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.01.2011 - 21.01.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Hannes Ziegler, Ludwig-Maximilians-Universität München

Mit recensio.net ging am 21. Januar 2011 eine europaweit ausgerichtete, mehrsprachige Plattform für Rezensionen geschichtswissenschaftlicher Literatur online. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Gemeinschaftsprojekt der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) München, des Deutschen Historischen Instituts Paris (DHIP) und des Instituts für Europäische Geschichte (IEG) Mainz reagiert damit auf die zunehmende Digitalisierung wissenschaftlicher Kommunikations- und Publikationswege und deren Auswirkungen auf das Rezensionswesen in den Geschichtswissenschaften.

Das Ziel der Tagung „Wissenschaftskommunikation im digitalen Zeitalter“, die in Zusammenarbeit der für recensio.net verantwortlichen Institute mit dem Historischen Kolleg (München) ausgerichtet wurde und am 20. und 21.01.2011 in den Räumen des Kollegs in München stattfand, war neben der Eröffnung von recensio.net die grundlegende Diskussion über Risiken und Potentiale, die mit einer veränderten Wissenschaftskommunikation verbunden sind. Dazu wurde einerseits versucht, einen Brückenschlag zum journalistischen Rezensieren anzustreben, während andererseits Fachvertreter aus verschiedenen europäischen Ländern über aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaftskommunikation vor dem eigenen Erfahrungshintergrund berichteten.

Der Abendvortrag von HANNES HINTERMEIER (Frankfurt), seit 2001 stellvertretender Leiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, beleuchtete eingehend die Mechanismen zwischen Verlagen, Autoren und Rezensionsorganen, in diesem Falle den großen deutschen Tageszeitungen. Diese Ausführungen zur „Rezensionsindustrie“ standen unter der Leitfrage, ob die Tageszeitungen in ihrer Rolle als Rezensenten auch in Konkurrenz zum Internet noch in der Lage sind, den Zeit- und Arbeitsaufwand des Rezensierens zu rechtfertigen und einen Beitrag zur modernen Lesekultur zu leisten. Hintermeier betonte zwar die enorme Rolle, die das Internet für die Wahrnehmung eines Buches heute einnimmt und verglich damit die gesunkene Bedeutung sowohl der Print-Medien als auch des Fernsehens. Andererseits seien es aber gerade die Schnelllebigkeit, die Fülle und der tendenzielle Qualitätsverfall dieser vornehmlich ökonomisch motivierten Rezensionen, die in Hintermeiers Augen ein seriöses und Werturteile bietendes Rezensionswesen des „konservativen Mediums“ Zeitung nach wie vor rechtfertige. Die anschließende Diskussion konzentrierte sich vornehmlich auf das Verhältnis von belletristischem und wissenschaftlichem Rezensionswesen. Letzterem sprach Hintermeier eine „längere Dünung“ zu. Es sei, und dies durchaus zu seinem Vorteil, unaufgeregter.

Nach der Begrüßung durch Gastgeber und Förderer wurde die Plattform recensio.net mit einer Reihe von Vorträgen eröffnet. GUDRUN GERSMANN (Paris) ordnete recensio.net zunächst in die bisherigen Entwicklungen des digitalen Rezensionswesens ein und untermauerte trotz eines beobachtbaren Überangebotes an Rezensionen die eigenständige Rolle von recensio.net, das sowohl für die Internationalisierung des Rezensionswesens als auch für die Interaktivität des Rezensierens stehe, zwei Verheißungen der digitalen Entwicklung, die bislang nicht oder zu wenig eingelöst worden seien. HEINZ DUCHHARDT (Mainz) versprach sich aus der Sicht des Instituts für Europäische Geschichte von recensio.net einen Blickwinkel auf Europa, der sowohl sprachlich als auch thematisch offen sei. Durch die zugängliche Struktur der Plattform ergebe sich so die Chance zum Miteinander verschiedener europäischer Wissenschaftskulturen. Die Plattform selbst wurde schließlich von LILIAN LANDES (München) vorgestellt. Der besondere Charakter von recensio.net ergibt sich durch die Ausrichtung der Arbeit auf zwei Säulen: zum einen auf das klassische Rezensionswesen und zum anderen auf die Einbeziehung der Nutzer in sogenannte „lebendige Rezensionen“. Recensio.net stelle im ersten Fall einen Aggregator für die Rezensionen nach wie vor autarker Zeitschriften dar. Im zweiten Fall biete die Plattform eine Möglichkeit zum zeitnahen und direkten Austausch über neu erschienene Publikationen. Nach einer Reihe von technischen und organisatorischen Fragen zu recensio.net wurde anschließend die Reihe der Vorträge eröffnet.

Das Institute of Historical Research (London) unterhält mit Reviews in History ein Online-Rezensionsjournal, das bereits Mitte der neunziger Jahre initiiert wurde. MILES TAYLOR und JANE WINTERS (beide London) begannen ihren Vortrag mit der Geschichte dieses Journals, das in vielerlei Hinsicht eine Pionierstellung einnimmt. Im Verlauf dieser Geschichte und den damit einhergehenden technischen Entwicklungen mussten die Herausgeber von Reviews in History sich einer Vielzahl von Fragen stellen, die auch heute noch relevant sind, insbesondere die Frage nach einer Kommentarfunktion und den damit verbundenen Problemen. Dieser Zusammenhang stand auch im Mittelpunkt der allgemeinen Beobachtungen zu den Entwicklungen digitalen Publizierens, von Jane Winters vor allem veranschaulicht an der Praxis des crowd-sourcing. Um zwischen der Exklusivität der individuellen Rezension und der Beliebigkeit des Kommentars zu überbrücken, sei die Lösung für das Rezensieren im digitalen Zeitalter, so Winters, die Mischung aus beiden Formen der Stellungnahme, die den Interessen aller Beteiligten am ehesten gerecht werde. In dieser Form wandle sich die Rezension gar zur idealen wissenschaftlichen Kommunikationsform.

IVAN JABLONKA (Le Mans), Professor an der Université du Maine, behandelte in seinem Vortrag den möglichen Zusammenhang von Wissenschaft und Journalismus, ebenfalls mit besonderem Augenmerk auf dem Internet, das er als ein „tool of democracy“ verstand. Ausführlich stellte Jablonka das von ihm als Chefredakteur betreute und an das Collège de France angeschlossene digitale Journal laviedesidees.fr vor und zeichnete sowohl dessen Entwicklung seit der Gründung im Jahr 2003 nach, als auch die organisatorische Struktur und die konzeptionellen Leitideen, insbesondere seit dem Onlinegang des Journals im Jahr 2007. Im Sinne eines „intellectual public service“ versucht laviedesidees.fr einerseits Fächergrenzen, andererseits die Grenze zwischen Wissenschaft und Journalismus bewusst verschwimmen zu lassen, um durch eine ausdrückliche Vermeidung streng akademischer Debatten eine breite Leserschaft auch außerhalb der einzelnen Fachwissenschaften zu erreichen und somit intellektuelle Debatten zu stimulieren. Das Internet, so Jablonka, sei in der Lage, die spezifischen Tugenden wissenschaftlichen wie journalistischen Rezensierens zu verbinden. Laviedesidees.fr versuche dieses Potential zu nutzen.

Die Entwicklungen im osteuropäischen Bereich beschrieb JAN KUSBER (Mainz), Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz. Ausgehend von der Beobachtung, dass auch dort das Internet bereits eine breite gesellschaftliche Aneignung erfahren hat, stellte Kusber die Frage, ob sich daraus Entwicklungen für den engeren Bereich der Wissenschaftskommunikation ergeben hätten. Verbunden mit einer sehr starren und regional ausgerichteten osteuropäischen Wissenschaftslandschaft sei auch eine traditionelle Abneigung gegen die Rezension, weswegen zum Anschluss an die mittel- und westeuropäische Entwicklung des digitalen Publizierens ein „Doppelschritt“ zu machen sei: eine Öffnung für das Rezensionswesen und eine Öffnung zur internationalen Kommunikation. Dass Ansätze dazu durchaus vorhanden sind, zeigte Kusber insbesondere am Beispiel der Online-Zeitschrift Ab imperio, wies allerdings im selben Atemzug auf die vielfältigen Grenzen hin, an die diese Versuche der Öffnung nach wie vor stießen. Auf die Frage der Beteiligung Osteuropas an einem digitalen Rezensions- und Kommunikationsmedium mit internationaler Ausrichtung zeigte sich Kusber eher skeptisch, wobei sich in der anschließenden Diskussion Stimmen zu Wort meldeten, die diese Skepsis nicht teilten und auch und gerade in Osteuropa großes Potential für digitale Wissenschaftskommunikation im Allgemeinen und die Idee des Open Access im Speziellen sahen.

STEFANO CAVAZZA (Bologna), Professor an der Università di Bologna, sprach hinsichtlich der Bedeutung der Rezension für die Wissenschaft in Italien von einer konkreten Entwicklung. Während vor dem Hintergrund kleinerer Fakultäten und Fachbereiche der Zusammenhang von individueller Wissenschaftlerkarriere sowohl mit dem Rezensieren als auch mit dem Rezensiert-Werden in früheren Jahrzehnten sehr deutlich gewesen sei, führte die Entwicklung zur „Massenuniversität“ tendenziell zu einer „Fragmentierung des Wissens“ und damit zum Bedeutungsverlust der Rezension für die Karriere bzw. die Wissenschaft insgesamt. Insbesondere seien daher eine Abkehr von der klassischen kritischen Rezension und eine Hinwendung zur werbewirksamen Kurzrezension zu erkennen. Dass es jedoch vielfältige Möglichkeiten auch für klassische Print-Medien gibt, das Internet dennoch als eine Chance zu begreifen, zeigte Cavazza mit einer Übersicht über aktuelle italienische Projekte im Bereich der Online-Publikation.

In der abschließenden Diskussion kam die „Wissenschaftskommunikation im digitalen Zeitalter“ noch einmal grundsätzlich zur Sprache. MARTIN SCHULZE-WESSEL (München) sah in den vorangegangenen Vorträgen insbesondere zwei Verheißungen aufscheinen, die noch einmal kritisch betrachtet werden müssten. Die Europäisierung des digitalen Kommunizierens sei an vielfältige Voraussetzungen gebunden, nicht zuletzt eine europäische Ausrichtung der Studiengänge. Die vielfach angesprochene Demokratisierung des Rezensionswesens sei hingegen mit dem Problem belastet, dass eine schnelle und „niederschwellige“ Kommunikation zwar wünschenswert sei, damit aber andererseits ein Prestigeverlust der Rezensionsorgane einhergehe, der dem Rezensionswesen insgesamt schade.

Die lebhaften Reaktionen auf die Reihe der Vorträge konzentrierten sich in der Tat auf die Frage einerseits nach der Wünschbarkeit einer offenen Kommentierung und andererseits nach der Steuerbarkeit bzw. Moderierbarkeit einer (auch) anonymen Kommentierungsfunktion. Als weitgehender Konsens blieb die bereits von Hintermeier angesprochene relative Resistenz wissenschaftlicher Kommunikation im Internet gegen die Kurzlebigkeit und Flüchtigkeit bestimmter Trends des Web 2.0 stehen. Dass andererseits der Anschluss an digitale Kommunikations- und Publikationswege aber keineswegs verpasst werden dürfe, wurde ebenfalls einhellig betont. Das prinzipiell offene, aber moderierte Rezensionswesen, wie es recensio.net seit dem 21. Januar bietet und zugleich mit der Zusammenführung „klassischer“ Rezensionen verbindet, erschien somit nur teilweise als Wagnis, zugleich auch als konkrete Chance, gerade um jüngere Wissenschaftlergenerationen in die Wissenschaftskommunikation fruchtbar einzubinden.

Konferenzübersicht:

Hannes Hintermeier (FAZ): The Happy Few. Zeitungen, Bücher und das Rezensionsgewerbe im Netz-Zeitalter

Gudrun Gersmann (DHI Paris), Heinz Duchhardt (IEG), Lilian Landes (BSB): Eröffnung recensio.net

Miles Taylor, Jane Winters (Institute of Historical Research London): Peer review in the digital age

Ivan Jablonka (Université du Maine, Le Mans): Humanities and intellectual journalism in the digital age. Developments in France (laviedesidees.fr.)

Jan Kusber (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz): Wissenschaftskommunikation jenseits zementierter Strukturen. Beispiele und Gegenbeispiele aus Osteuropa

Stefano Cavazza (Università di Bologna): Rezensieren in Italien: Erfahrungen und Überlegungen