Die politischen Religionen als Kategorie der Neuesten Geschichte

Die politischen Religionen als Kategorie der Neuesten Geschichte

Organisatoren
Hans-Sigrist-Stiftung der Universität Bern
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
05.12.2003 -
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Von
Ines Prodöhl

Der international renommierte Hans-Sigrist-Preis der Universität Bern wurde am Dies academicus dieses Jahres an den Historiker Prof. Dr. Emilio Gentile von der Universität "La Sapienza" in Rom verliehen. Der Preis, mit 100.000 Sfr. (ca. 70.000 Euro) dotiert, wird jährlich zu einem vom Stiftungsrat benannten Forschungsthema vergeben. Das Forschungsgebiet für 2003 lautete: "Political Religions as a characteristic of the 20th century" und Emilio Gentile hat diesen Preis erhalten, weil er auf der Basis äußerst umfangreicher empirisch-historischer Befunde ‚politische Religionen' untersucht und diese in ihren Wechselwirkungen mit den verschiedenen Ausprägungen der Politik im 20. Jahrhundert vergleicht.1 Darüber hinaus setze er, so der Stiftungsrat in seiner Begründung, seine Forschungsergebnisse "auf eine fruchtbare Art und Weise in ein stetes Wechselverhältnis zum begrifflichen Instrumentarium der Politik- und Sozialwissenschaften".

Aus Anlass der Verleihung des Preises hat das Historische Seminar der Universität Bern am 5. Dezember 2003 ein Symposium über das Forschungsfeld der ‚politischen Religionen' veranstaltet, an dem neben Gentile selbst Fachwissenschaftler internationaler Reputation teilnahmen, um in einen interdisziplinären Dialog zueinander zu treten. Denn das Resultat von Gentiles Forschungen, so der Stiftungsrat in seiner Begründung weiter, sei eine auf den Faschismus fokussierende historische Forschung, die sich dem interdisziplinären Dialog öffne und den Weg zu einer fachübergreifenden Analyse der politischen Phänomene der modernen Epoche weise. Diese zukunftsweisende Forschungsperspektive von Gentiles Ansatz zu öffnen und die wissenschaftliche Debatte im interdisziplinären Rahmen anzuregen, war Thema des Symposiums "Political Religions as a Category of Contemporary History" an der Berner Universität.

Das Symposium begann mit den begrüßenden Worten von Gunter Stephan, Vize-Rektor der Universität Bern, Adrian Pfiffner, Vizepräsident der Hans-Sigrist-Stiftung und Reinhard Schulze, Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Anschließend führte Prof. Marina Cattaruzza, Historikerin an der Universität Bern und zugleich Organisatorin des Symposiums, die TeilnehmerInnen in das umfangreiche Werk Emilio Gentiles ein. Sie würdigte seine methodische Erweiterung zur Bestimmung des Begriffs der ‚politischen Religionen', mit denen er neue sozialwissenschaftliche Maßstäbe an die Themengebiete ‚Modernität', ‚Charisma' und ‚Religion' lege. Gentiles Werk habe dazu beigetragen, die wissenschaftliche Debatte über ’politische Religionen' zu beleben und sie auf eine neue Diskussionsebene zu stellen. Sein analytischer Blick auf die Differenzierung von ‚politischen' und ‚zivilen' Religionen habe eine äußerst fundierte Erklärung der Gesellschaftssysteme im 20. Jahrhundert erlaubt.

‚Zivile' vs. ‚Politische' Religionen

Anschließend gab Emilio Gentile selbst einen Einblick in die Perzeption seiner Forschungsergebnisse. Ausgehend von der Tatsache, dass in der Forschung bislang kaum ein Unterschied zwischen ‚politischen' und ‚säkularen' respektive ‚zivilen' Religionen gemacht wurde und diese Begriffe in der Regel synonym verwendet worden sind, hat er auf der Basis fundierten Quellenmaterials Unterschiede und Gemeinsamkeiten für die modernen Gesellschaften herausgearbeitet. In seinem Vortrag verglich er dazu exemplarisch das totalitäre Regime der Nationalsozialisten, welches er als ‚politische Religion' bezeichnete, mit den derzeit in den USA zu beobachtenden sakralen Tendenzen, die er als ‚zivile Religion' bezeichnete. Anhand dieses komplexen Vergleichs gelangte Gentile zu einigen zentralen Aussagen, die in dieser verknappten Widergabe freilich nur generalisierend angerissen werden können: Demnach betrachtet Gentile die ‚zivilen Religionen' als Form der Sakralisierung der Politik in Demokratien; die ‚politischen Religionen' aber als typisch für totalitäre Bewegungen und Regime. Die ‚zivile Religion' sei eine generell weltliche Form der Sakralisierung von Politik, die zu ihrer Unterstützung mitunter ein übernatürliches, göttlich konzipiertes Wesen benötige. Sie erkenne die Autonomie des Individuums an, appelliere an die spontane Zustimmung für ethische Grundsätze und lebe in Gemeinschaft mit den traditionellen Religionen und den verschiedenen politischen Ideologien. Darüber hinaus versuche sie, sich als überparteilichen und überkonfessionellen "zivilen Glauben" darzustellen, der eine Trennung von Staat und Kirche einhalte. Im Gegenzug dazu meine der Terminus ‚politische Religion' die Sakralisierung einer bestimmten Ideologie und einer damit einhergehenden, vereinnahmenden politischen Bewegung, die keine Koexistenz mit anderen Ideologien bzw. politischen Bewegungen dulde. ‚Politische Religionen', so Gentile, "heiligten" die Gewalt als legitimes Mittel im Kampf gegen Feinde des eigenen Glaubens respektive als Instrument der Erneuerung. Sie negierten die Autonomie des Individuums und schrieben obligatorisch den politischen Kult und die Einhaltung ihrer Gebote vor. Des Weiteren nähmen sie gegenüber den traditionellen Religionen eine konfrontative, wenn nicht feindliche Haltung ein, mit dem Ziel, diese entweder zu eliminieren oder sie in das jeweils eigene System zu inkorporieren, wo ihnen schließlich eine untergeordnete Hilfsfunktion zukäme.

Prof. Roger Griffin von der Oxford Brookes University stellte dann in seinem Vortrag "A New Constellation? Emilio Gentile's Theory of Political Religion and its Implications for the Human Sciences" noch einmal die zentralen Aussagen Gentiles über den Charakter von ‚Politischen Religionen' zusammen. Ausgehend von den Problemen des "linguistic turns" hob Griffin insbesondere hervor, eine tiefere Signifikanz in seinem Werk "lies not only in the significant new taxonomic scheme it proposes, but also in the way it embodies a multi-point perspective in which terms are used in a complementary way to form a cluster or cocenptual ‚constellation'".

Direkt im Anschluss an Griffin referierte Dietmar Herz, Ordinarius für vergleichende Regierungslehre an der Universität Erfurt, zum Thema "The Political Religion as an Instrument of the Political Analysis". Herz stellte umfassend die für die politischen Sozialwissenschaften zentralen Ansätze des Konzeptes der ‚politischen Religionen' Eric Voegelins vor. Er erläuterte Voegelins Verwendung des Begriffes ‚politische Religion', um eine Darstellung des damit verknüpften Versuchs der geistesgeschichtlich argumentierenden Begründung einer Theorie der Politik zu entfalten. Eric Voegelin lote, so Herz, die geschichtliche Dimension der "innerweltlichen Religionen" in einer Betrachtung des Verhältnisses von Religion und Politik in der Entwicklung der europäischen Zivilisation aus. Angesichts des Titels seines Vortrages hat die Einschränkung auf Voegelin und insbesondere dessen Bestimmung des "Gnostizismus" als das Wesen der Modernität bei der Fruchtbarmachung des Begriffs der ‚Politischen Religionen' für die politischen Analysen allerdings irritiert. Zum einen wäre ein Vergleich mit den Forschungen Gentiles aufschlussreich gewesen und zum anderen wäre der vorgelegte universalgeschichtliche Ansatz Voegelins durch andere zeitgenössische Interpretationen, z. B. von Frederick A. Voigt, erweiterungsfähig gewesen.2

‚Politische Religionen' - eine gerechtfertigte Bezeichnung?

Hermann Lübbe, Emeritus der ETH Zürich, plädierte in seinem Vortrag zum Thema " Religion und politische Modernisierung" für eine Umbenennung des Terminus ‚Politische Religionen' in ‚Antireligionen', da totalitäre Regime Religionen immer explizit abgelehnt hätten. Seine provokanten Thesen, die hier im Gegensatz zu Gentile standen, konnten anschließend leider nicht diskutiert werden, da Lübbe das Plenum frühzeitig verlassen musste.

Der Politikwissenschaftler Renato Moro (Universität Mailand) stellte in dem folgenden Vortrag heraus, dass wir offensichtlich die letztendliche Bedeutung einer Säkularisierung der Welt/des Staates falsch eingeschätzt haben. Moro, der sich der Beziehung von Religion und Politik in der Moderne widmete, machte deutlich, dass mit der so genannten Säkularisierung immer eine neue Religion, eine neue Politik einhergehe, dessen Dimension zu erforschen wir gerade beginnen.

Politische Religionen - Nationalsozialismus und Kommunismus

Charakteristisch für das Symposium war ein Kreisen um die bislang für die politischen Sozialwissenschaften so immanent wichtige Definition der ‚Politischen Religionen' von Eric Voegelin. Auch der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung (Universität Siegen) setzte sich in seinem Vortrag "National Socialism as a Political Religion - Achievements and limits of an analytical Concept" mit dessen Konzept auseinander. Er kam zu dem Ergebnis, dass Voegelins Begriff der ‚politischen Religionen' durchaus geeignet sei, ein Spezifikum des Nationalsozialismus zu charakterisieren. Dafür sprächen vor allem die literarischen Zeugnisse zeitgenössischer Publizisten über Glauben und Gläubigkeit, in welchen sich apokalyptische Deutungsmuster des Nationalsozialismus spiegelten. Vondung unterstrich den Gegensatz zwischen seinen Überlegungen und denen von Hans Mommsen, einem Kritiker des Interpretationsansatzes, das NS-Regime als ‚politische Religion' im Sinne Voegelins zu bezeichnen. Mommsen, der nicht zugegen war, kritisiert, dass es zwar Tendenzen des NS-Regimes gab, selbst Religion zu werden, dies aber keineswegs Maxime der praktischen Politik war.3

Als letzter Referent kam Klaus-Georg Riegel, Soziologe an der Universität Trier, mit einem sehr interessanten Vortrag über "Communism as a Political Religion" zu Wort. Er betonte seinen thematischen Schwerpunkt auf die Zeit der Entwicklung des Leninismus und arbeitete für die revolutionäre Zeit Lenins den Begriff der "Virtuosenreligionen" heraus. Diese seien von russischen Intellektuellen als umfassende Systeme der Welterklärung und der revolutionären Veränderung der bestehenden Welt entwickelt worden. In der Virtuosenreligion komme den Intellektuellen ein messianischer Sendungsauftrag zu, der sie als Stellvertreter noch unmündiger Menschenmassen auftreten lasse. Riegel machte deutlich, dass die marxistisch-leninistischen "Glaubensströmungen" als innerweltliche Erlösungsreligionen anzusehen seien und ordnete auch die leninistische Disziplinmaschine in diese Deutung ein.

Die überaus anregenden Vorträge konnten aus Zeitgründen leider nicht umfassend diskutiert werden. Insgesamt stellte das Plenum aber fest, dass die Forschungen Gentiles dem bisher stark systematischen Interesse politikwissenschaftlicher Studien über ‚politischen Religionen' eine neue Dimension gegeben haben. Mit der historisch belegten Forschung gäbe Gentile den Erklärungsmustern für das extrem grausame und gewalttätige 20. Jahrhundert neue, richtungweisende Impulse. Es ist abschließend in der Tat anzumerken, dass Gentile das interdisziplinäre Potential der Geschichtswissenschaft zu einem zentralen Thema der Zeitgeschichte herausgearbeitet hat und dass sein Ansatz zur Weiterentwicklung geeignet ist.

Anmerkungen:
1 Gentiles Forschungen sind vor allem in zwei Werken zugänglich: Emilio Gentile: Il culto del littorio. La sacralizzazione della politica nell' Italia fascista, Rom, Bari 1993 (englische Übersetzung 1996, französische Übersetzung 2002) sowie Ders.: Le religioni della politica. Fra democrazie e totalitarismi. Rom 2001 (englische Übersetzung 2004). Vgl. auch: Ders.: Die Sakralisierung der Politik. In: Hans Maier (Hrsg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen. Frankfurt/Main 2000, S. 166-182.
2 Vgl.: Markus Huttner: Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien. Bonn 1999.
3 Hans Mommsen: Nationalsozialismus als politische Religion. In: Hans Maier/Michael Schäfer (Hg.): Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs Bd. 2. München u. a. 1997, S. 173-181; Vgl. auch Hans Maier: ‚Politische Religionen' - Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs. In: Ebd., S. 299-310.


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