Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung

Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung

Organisatoren
Evangelisch-Theologische Fakultät Mainz; Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung Halle; Wolfgang Breul, Universität Mainz; Jan Carsten Schnurr, Freie Theologische Hochschule Gießen
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2011 - 25.03.2011
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Von
Jan Carsten Schnurr, Historische Theologie / Kirchengeschichte, Freie Theologische Hochschule Gießen

Die Erforschung des Pietismus und der Erweckungsbewegung hat in den vergangenen Jahren verstärkt kulturgeschichtliche Fragestellungen einbezogen. Der derzeitigen Hochkonjunktur der Gedächtnisforschung, aber auch der christlichen Weltdeutung der Protagonisten entsprechend, spielten dabei auch Geschichtsdenken, Zeitdeutung und Zukunftserwartung eine wichtige Rolle. Die beiden evangelischen Erneuerungsbewegungen wurden jedoch bislang noch nicht hinreichend als heterogene Erinnerungs- und Erwartungsgemeinschaften erschlossen und auch nur selten einander sowie anderen zeitgenössischen Geschichtsmilieus gegenübergestellt. Um hier weiterzukommen, brachte die von der Mainzer Evangelisch-Theologischen Fakultät (Seminar für Kirchengeschichte) in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung in Halle an der Saale durchgeführte, DFG-geförderte Tagung Wissenschaftler verschiedener Länder und Fachrichtungen ins Gespräch. Strukturgebend für die Tagung waren die beiden Themenfelder Geschichtsdenken und Zukunftserwartung und die beiden Zeitachsen 1700 und 1830.

Die erste Sektion „Krisenbewusstsein und Geschichtsverständnis um 1700“ eröffnete HANS SCHNEIDER (Marburg) mit einer Darstellung von Gottfried Arnolds „Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie“ (1699/1700). Das Epochemachende des bereits von Zeitgenossen kontrovers diskutierten „Jahrhundertwerks“ lag nach Schneider in seinem Geschichtsbild, das „unparteiisch“ sein, das heißt jenseits der Religionsparteien stehen, wollte, die eigene protestantische Tradition bewusst in eine Geschichte des Verfalls einbezog und die Sympathien stattdessen auf einzelne frommen Christen lenkte, deren Leben Arnold (in Ansätzen quellenkritisch) beschrieb. In seinem Überblick über die Geschichtsschreibung um 1700 stellte WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Marburg) Momente der Kontinuität aus der älteren Universal- und (polemisch verzweckten) Kirchengeschichtsschreibung neben eine „vierfache Auflösung des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes“ und wies daneben auf eine zeitgleiche Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und Verselbständigung und Enttheologisierung der Kirchengeschichtsschreibung hin. JONATHAN STROM (Atlanta) analysierte das Krisenbewusstsein und die prämillenarische Zukunftserwartung des streitbaren Kirchenkritikers Friedrich Breckling und ihre Wurzeln. CLAUDIA DRESE (Halle an der Saale) widmete sich den historiographischen Werken Hallescher Pietisten wie Joachim Lange, Hieronymus Freyer und Johann Heinrich Callenberg, denen ein linearer Geschichtsentwurf mit vielen Tiefpunkten und wenigen Höhen zugrunde lag.

Zu Beginn der Sektion II „Zukunftserwartungen um 1700“ plädierte DANIEL FULDA (Halle an der Saale) für eine partielle Modifizierung von Reinhart Kosellecks Modell einer mentalitäts- und begriffsgeschichtlich belegbaren Formationsphase der Neuzeit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Menschen auseinandergetreten seien. Wenigstens eine Öffnung der Zukunft habe, so Fulda mit Bezug auf verbreitete politische Verhaltenslehren, die eine starke Unsicherheitserfahrung widerspiegelten, bereits um 1700 stattgefunden. HEIKE KRAUTER-DIEROLF (Ulm) untersuchte das für den Pietismus bahnbrechende Konzept der „Hoffnung besserer Zeiten“ Philipp Jakob Speners, das er 1675 in den „Pia Desideria“ und ausführlicher zu Anfang der 1690er-Jahre im Streit um eine chiliastische Zukunftsauffassung ausführte, und vertrat die Auffassung, Speners späte Hinzuziehung von Apokalypse 20 als Belegstelle für seine postmillenarische Zukunftshoffnung reflektiere weniger einen Gesinnungswandel als vielmehr die auf diesen Punkt abzielende Streittaktik seiner lutherisch-orthodoxen Gegner. Von der Zukunftsvision zur Realisierung schritt Speners bedeutendster Schüler August Hermann Francke, wie WOLFGANG BREUL (Mainz) ausführte, nämlich als er in der jungen Universität Halle und den pädagogisch-diakonischen Glauchaer Anstalten ein beachtliches Reformprogramm vorantrieb, von dem er glaubte, dass es den Anstoß zur Rettung „vieler tausend Seelen“ und zu einer weltweiten „Generalreform“ der Christenheit geben werde, und hinter dem er Gottes Wirken sah. Anders geartet war die Eschatologie des bedeutendsten Vertreters der dritten Generation des Pietismus, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der nach den Ausführungen von DIETRICH MEYER (Herrnhut) gegen Ende der 1740er-Jahre davon sprach, die Königsherrschaft Christi sei bereits in der Stille, einem Passatwind vergleichbar, angebrochen, und daher für das Jahr 1750 ein „Halljahr“ ausrief. Die in jenen Jahren entstandenen „Erstlingsbilder“ zeugen nach Meyer von dieser eschatologischen Erwartung, die allerdings niemals so weit ging anzunehmen, die eigentliche Gegenwart des Herrn habe schon begonnen, und die unter Zinzendorfs Chiliasmus-kritischem Nachfolger August Gottlieb Spangenberg vollends in den Hintergrund trat. DOUGLAS SHANTZ (Calgary) schließlich zeigte, dass die dem radikalen Pietismus zugehörigen Johann Wilhelm Petersen und Konrad Bröske von Jakob Böhme gelernt und eine millenarische Endzeitlehre entwickelt hatten. Der Offenbacher Hofprediger Bröske gestaltete seine millenaristische Erwartung weitaus pragmatischer und weniger detailliert als der für seine Apokatastasislehre berühmte Petersen.

In der Sektion III „Geschichtsläufe und Lebensläufe“ stellte HANS-JÜRGEN SCHRADER (Genf) die Tradition der Sammelbiographien im Pietismus vor, die Kirchengeschichte als die Geschichte frommer Lebensbilder präsentierte und neben dem gattungsprägenden Johann Henrich Reitz zahllose weitere Autoren (z.B. Christian Gerber, Gerhard Tersteegen) umfasste. Sie fand nicht nur zu ihrer Zeit breite Aufnahme, sondern wurde in der Erweckungsbewegung (J.A. Kanne, G.H. Schubert, Christen-Bote u.a.) weitergeführt. Allerdings nahm dabei der Anteil der Frauen unter den biographischen Portraits ab und die der Berühmtheiten und Dichter zu. SHIRLEY BRÜCKNER (Halle an der Saale) stellte unter dem Titel „Providenz im Zettelkasten“ Losverfahren und Ziehkästchen mit Bibelversen wie Carl Heinrich von Bogatzkys „Güldenes Schatzkästlein der Kinder Gottes“ vor, die über Jahrhunderte zur privaten Frömmigkeit von Pietisten zählten und die sie als Strategie zur Kontingenzbewältigung interpretierte. In einem öffentlichen Abendvortrag im Freylinghausen-Saal der Franckeschen Stiftungen stellte HARTMUT LEHMANN (Kiel) die Frage, was Pietismusforscher von den Ansätzen der neueren Kulturgeschichte lernen könnten. Er nannte die Beachtung geographischer oder metaphorischer Räume, einen Blick für die Bedeutung von Kommunikationsmedien und -netzen, den Sinn für die Produktion, Semantik und Rezeption von Texten, den Begriff des Habitus, das Interesse an Erinnerungskultur, Zeitverständnis und Zukunftserwartung sowie die Vermessung religiöser Vorstellungswelten, auch im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen.

Zu Beginn der Sektion IV „Krisenbewusstsein und Geschichtsverständnis um 1830“ verglich MANFRED JAKUBOWSKI-TIESSEN (Göttingen) pietistische Deutungen der norddeutschen Sturmflut vom Weihnachtsabend 1717 mit erwecklichen Deutungen der Großen Halligflut vom Februar 1825. Fand man in den Naturkatastrophen in traditioneller Weise Beispiele des rettenden Eingreifens Gottes und sah in der Katastrophe einen Aufruf zur Umkehr und manchmal „Zeichen der Zeit“ (wobei 1825 noch die Kritik der vorhergegangenen rationalistischen Aufklärungsperiode hinzutrat), so betonte man neben dem Zorn zugleich auch die Liebe Gottes. Die Stellung der Erweckungsbewegung zur neuen historischen Weltbetrachtung, einer „Revolutionierung des Denkens“, untersuchte ULRICH MUHLACK (Frankfurt am Main) anhand eines Fallbeispiels: des engen Verhältnisses der Brüder Leopold und Heinrich Ranke, deren Abkehr von der aufklärerischen Theologie den ersten zum Vorreiter der neuen, innerweltlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft, den zweiten zu einem prominenten Vertreter der bayerischen Erweckungsbewegung machte – jedoch so, dass beide im Laufe ihres Lebens Aspekte vom Geschichtsbewusstsein und Erleben des Anderen aufnahmen. Nach JAN CARSTEN SCHNURR (Gießen) entwickelte die Erweckungsbewegung im Vormärz eine eigene vielgestaltige Geschichtsliteratur, die geschichtswissenschaftlich informieren, aber auch paränetisch erbauen sollte („Geschichtspredigt“) und die die Erweckungsbewegung zu einer Erinnerungsgemeinschaft mit spezifischen Deutungsmustern machte. FRED A. VAN LIEBURG (Amsterdam) stellte verschiedene prophetische Strömungen im Umfeld des niederländischen Réveil vor, die, ob mit Rückbezug auf Voetius oder Coccejus oder unter Aufnahme zeitgenössischer millenarischer Impulse, das ursprüngliche Christentum wiederherstellen wollten und eine von Gott bestimmte Zukunft erwarteten.

In der abschließenden Sektion V „Zukunftserwartungen um 1830“ führte LUCIAN HÖLSCHER (Bochum) in Grundfragen der historischen Zukunftsforschung ein und warb um eine genaue Analyse pietistischer und erwecklicher Zeitkonzeptionen, die auch der „geheimnisvollen Beziehung von Gotteszeit und Menschenzeit“ gerecht werde. Er beobachtete, dass manche religiösen Zukunftsentwürfe der heutigen Sichtweise möglicherweise näher stünden als das im Laufe des 20. Jahrhundert unsicher gewordene Fortschrittsmodell. Die Zukunftserwartungen evangelischer Missionsgesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren nach JUDITH BECKER (Mainz) in ein umfassendes Geschichtsverständnis eingebettet, das die Weltgeschichte als Ort von Heilsgeschichte, die eigene Gegenwart als Schwellenzeit und die Mission als Verbindungsglied zur verheißenen Zukunft des Reiches Gottes sah. Die Missionare selbst äußerten seltener umfassende Zukunftshoffnungen, teilten sie aber wohl und hielten auch bei persönlichen Enttäuschungen an den biblischen Verheißungen fest. MICHAEL KANNENBERG (Lehrensteinsfeld) zeichnete nach, wie sich der Pietist Johann Jakob Friederich von einer millenarischen Enderwartung löste. Sein von J.A. Bengel inspirierter „Glaubens- und Hoffnungsblik des Volks Gottes“ (1800) hatte zu eschatologisch motivierten Auswanderungen württembergischer Pietisten geführt. Wesentlich durch den Tod seiner Frau und mehrerer Kinder wurde er zu einer individualisierten Wiedersehenshoffnung gebracht. GERHARD MAIER (Tübingen) betonte die Bedeutung der Johannesoffenbarung für unterschiedliche Erweckungszeiten des 19. und 20. Jahrhunderts und unterstrich die Vielfalt der – mitunter spekulativen, oftmals nüchternen – Verwendungsweisen und exegetischen Herangehensweisen. In seinem Schlussvotum begrüßte ULRICH GÄBLER (Basel) die an den zwei Zeitachsen orientierte Struktur der Tagung, plädierte für eine Verwendung von „Prä-“ bzw. „Postmillenarismus“ statt des unscharfen früheren Ketzerbegriffs „Chiliasmus“ und regte weiteres Nachdenken über die soziale Trägerschaft und räumliche Verortung solcher Zukunftserwartungen sowie weitere periodenübergreifende, internationale und interkonfessionelle Vergleichsforschungen an.

Konferenzübersicht:

Begrüßung, Einführung

Udo Sträter, Rektor (Halle-Wittenberg)
Pia Schmid, Geschäftsführende Direktorin IZP (Halle)
Wolfgang Breul (Mainz)

Sektion I: Krisenbewusstsein und Geschichtsverständnis um 1700
Moderation: Daniel Fulda (Halle)

Hans Schneider (Marburg): Das Geschichtsbild in Gottfried Arnolds „Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie“ und seine Wirkungsgeschichte

Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg): Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein um 1700

Jonathan Strom (Atlanta): Krisenbewusstsein und Zukunftserwartung bei Friedrich Breckling

Claudia Drese (Halle/Saale): Geschichtskonstruktionen im Halleschen Pietismus

Sektion II: Zukunftserwartungen um 1700
Moderation: Achim Landwehr (Düsseldorf)

Daniel Fulda (Halle an der Saale): Die Erfindung der offenen Zukunft durch die Aufklärung. Zu einer nicht ganz neuen These und den Problemen ihrer Begründung

Heike Krauter-Dierolf (Ulm): Hoffnung künftiger besserer Zeiten – Die Eschatologie Philipp Jakob Speners im Horizont der zeitgenössischen lutherischen Theologie

Wolfgang Breul (Mainz): August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform

Dietrich Meyer (Herrnhut): Chiliastische Hoffnung und eschatologische Erwartung innerhalb der Brüdergemeine und ihrer Mission bei Zinzendorf und Spangenberg

Douglas Shantz (Calgary): Radikalpietistische Eschatologie als komplexe Erscheinung: Verschiedene chiliastische Vorstellungen bei Jakob Böhme, Johann Wilhelm Petersen und Konrad Bröske

Sektion III: Geschichtsläufe und Lebensläufe
Moderation: Hans Schneider (Marburg)

Hans-Jürgen Schrader (Genf): Kanonische neue Heilige. Wiederkehrende Glaubensvorbilder in den Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung

Shirley Brückner (Halle an der Saale): Providenz im Zettelkasten – Frömmigkeitliche Motive der Lospraxis in Pietismus und Erweckungsbewegung

Öffentlicher Abendvortrag:
Hartmut Lehmann (Kiel): Pietismusforschung nach dem Cultural Turn: Viele Fragen und bisher wenige Antworten

Sektion IV: Krisenbewusstsein und Geschichtsverständnis um 1830
Moderation: Ulrich Gäbler (Basel)

Manfred Jakubowski-Tiessen (Göttingen): Zeit- und Zukunftsdeutungen in Krisenzeiten

Ulrich Muhlack (Frankfurt am Main): Die Brüder Leopold und Heinrich Ranke im Spannungsfeld von pietistischer Erweckung und historischem Denken

Jan Carsten Schnurr (Gießen): „Das predigt uns diese Geschichte laut“. Historiographie und Geschichtsdenken der Erweckungsbewegung in Deutschland

Fred A. van Lieburg (Amsterdam): Geschichtsdenken in der niederländischen Erweckungsbewegung

Sektion V: Zukunftserwartungen um 1830
Moderation: Thomas K. Kuhn (Greifswald)

Lucian Hölscher (Bochum): Politische und religiöse Zukunftskonzepte um 1830 in Deutschland

Judith Becker (Mainz): Zukunftserwartungen und Missionsimpetus bei Missionsgesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Michael Kannenberg (Lehrensteinsfeld): „… aber das Grübeln habe ich seitdem aufgegeben“ – Individualisierung und Spiritualisierung der Zukunftserwartungen am Beispiel des württembergischen Millenaristen Johann Jakob Friederich

Gerhard Maier (Tübingen): Die Johannesoffenbarung in der Erweckungsbewegung

Ulrich Gäbler (Basel): Schlussvotum und Leitung der Abschlussdiskussion


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