Ethnographie und Geschichtsdenken. Ein Workshop zu Ernesto de Martino und seinen Hinterlassenschaften

Ethnographie und Geschichtsdenken. Ein Workshop zu Ernesto de Martino und seinen Hinterlassenschaften

Organisatoren
Lehrstuhl für Medientheorie; in Kooperation mit der Regionalgruppe Mittelmeerraum, Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde; Universität Siegen
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.04.2011 - 08.04.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Ehler Voss, Universität Siegen

In Italien wäre eine Tagung über oder ausgehend von Ernesto de Martino (1908-1965), dem „Lévi-Strauss Italiens“, wie ihn seine französische Biographin aufgrund seiner dortigen Bekanntheit genannt habe, nichts Ungewöhnliches, stellte ULRICH VAN LOYEN (Siegen) als Organisator dieser zweitägigen Veranstaltung am Lehrstuhl für Medientheorie der Universität Siegen in Kooperation mit der Regionalgruppe Mittelmeerraum der Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde einleitend fest. In Deutschland dagegen werde er abseits der Geschichte der Magie, der Folkloristik oder der Mittelmeerethnologie kaum wahrgenommen – und dass dies überhaupt der Fall sei, verdanke man zu großen Teilen dem Ethnologen Thomas Hauschild. Dabei verdeutliche ein näheres Hinsehen, dass de Martinos Arbeiten auf jenen Pfaden verkehrten, die sich mit den deutschen Sonderwegen vielfach kreuzten oder gar überlagerten. De Martino sei ein praktischer Geschichtsphilosoph, dessen Ansatz einem radikalen Idealismus nahe komme, wie er in Deutschland bis in die 1930er-Jahre habe vorgefunden werden können; als solcher entpuppe er sich alsbald als Ethnograph, um die Geschichtsphilosophie zu retten, das hieße, als mehr oder weniger verunfallter „Armchair Anthropologist“. Er sei, so van Loyen weiter, ein existenzialistischer Kulturtheoretiker, der dabei mit Heidegger oder Walter F. Otto mehr teile, als einem lieb sein könne; und er sei ein Autor, der eine umfassende Archäologie Europas betreiben möchte, die bei allem Hang zur Spekulation empirisch abgestützt sein solle. Ernesto de Martinos Arbeit sei dabei nicht schlicht Gelehrtenarbeit, Sammeln und Aufzeichnen, sondern Entwicklungshilfe; sein primitivistisches Interesse gelte nicht der Bestätigung von Abgrenzungen, sondern ihrer Aufhebung und der Rettung der Momente, die für weitere Aufhebungen notwendig seien; es handle sich mithin nicht um einen konservativen Autor, wie man zunächst vermuten möchte, sondern um einen Linken. Als Croce-Schüler habe er seine geschichtsphilosophischen Ambitionen durch das Studium der sogenannten Primitiven zu retten gesucht. Die in den 1930er- und 1940er-Jahren durch Schriftsteller wie Carlo Levi angetriebene Entdeckung der italienischen Binnenexotik, einer Universalität, die von vatikanischen Mächten ebenso befreien sollte wie vom faschistischen Führerstaat, habe in de Martinos religionsethnologischen Werken ihre Fortsetzung gefunden. Auch hier sei es um die Rechtfertigung einer angeblich zurückgebliebenen Welt und ihrer Denkweise gegangen. In den Augen der italienischen Linken enthielte sie nicht zuletzt ein eigenständiges Konzept von Communitas und war dementsprechend attraktiv. De Martinos im Kollektiv mit Psychologen, Filmemachern und Musikologen durchgeführte Forschungen müssten daher in verschiedener Hinsicht betrachtet werden: unter anderem als Versuch, die Geschichtsphilosophie nach Croce zu retten, indem ihre Kategorien historisiert werden; als politische Aktion, die eine andere, ebenso alte wie neue Geschichte Italiens erfindet; als Säkularisierung des Katholizismus und als Sakralisierung des Kommunismus; als avantgardistische Praxis; als Ethnographie magischer Praktiken für einen „kritischen Ethnozentrismus“ der Moderne; als Phänomenologie des sozialen Lebens im Mittelmeerraum.

Vertreterinnen und Vertreter von Film-, Religions- und Literaturwissenschaften sowie Ethnologie und Philosophie waren eingeladen, sich einer eingehenden Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten zu stellen und zu fragen, was von de Martino und der Geburt der Ethnologie aus der Geschichtswissenschaft bleibt und fruchtbar gemacht werden kann. Nach der dichten und instruktiven Einleitung van Loyens begann ANNETTE WERBERGER (Tübingen) mit einer Betrachtung von de Martinos Folkloreauffassung. In seiner Selbstinterpretation lasse sich de Martinos Wende vom Literaturstudium der „Primitiven“ in den Kolonien zur teilnehmend beobachteten „Folklore“ in der unmittelbaren Nähe auf die Beschreibungen der bäuerlichen Welt in Carlo Levis „Cristo si è fermato a Eboli“ („Christus kam nur bis Eboli“, 1945) zurückführen – eine Gegend, die keine 200 km von seinem Geburtsort Neapel entfernt ist. Folklore sei für de Martino auf mehreren Ebenen dynamisch angelegt, einen Austausch zwischen Hochkultur und populärer Kultur sehe er in beide Richtungen. Folklore reiche dabei – wie viele kulturelle Phänomene – in die Vergangenheit zurück. Jedoch kritisiere de Martino eine „romantische Vorstellung“ von Folklore – wie etwa bei Herder –, nach der Folklore mit Aufklärung und Modernisierung bedauerlicherweise verschwinde. Stattdessen versuche er sie neu zu fassen, indem er der Folklore eine progressive und fortschrittliche Kraft zuspreche und das futuristische und energetische Potential der Folklore im Moment der humanistischen Krise betone. Mittels seiner Rezeption Gramscis und der sowjetischen Folklore codiere er die Folklore um: Statt eines musealisierten Reservoirs traditioneller Kulturtechniken betrachte er sie als ein Mittel zu einer symmetrisch angelegten Modernisierung, welche auch die schriftlose, widerständige Kultur der Subalternen integriere. Im Gegensatz zur russischen Folklore sei die von de Martino anvisierte Folklore aber nicht nur auf verbale und literarische Zeugnisse konzentriert, sondern beziehe Körpertechniken, Mimik oder Bild mit ein, was man am Beispiel seiner Untersuchungen zur Totenklage sehen könne.

Der Beitrag von MANFRED BAUSCHULTE (Bochum) fokussierte die Schriftenreihe „Collana di studi religiosi, etnologici e folkloristici“ (kurz: “Collana viola“), die in den Jahren von 1945-1950 unter der Ägide des Schriftstellers Cesare Pavese (verantwortlicher Lektor) und de Martinos (verantwortlicher Herausgeber) erschien. Bauschulte befragte die „Dialoge mit Leuko“, das Hauptwerk von Pavese aus der gleichen Zeit (1947) in Bezug auf jene ethnologischen und mythologischen Dimensionen, die auch in der „Collana Viola“ im Zentrum standen. Dabei seien Divergenzen zwischen dem literarischen und wissenschaftlichen Umgang mit Mythen und Riten deutlich zutage getreten. Erst im Rückblick, in der Zeit der Abfassung der „Terra del rimorso“, sei de Martino bewusst geworden, welch ein Unglück der frühe Freitod von Pavese im Jahr 1950 bedeutet habe. Sowohl der Reihe als auch dem weiterführenden Dialog zwischen dem Ethnologen und dem Dichter sei dadurch ein abruptes Ende gesetzt worden.

MARTIN ZILLINGER (Siegen) interessierte sich für die Möglichkeiten und Grenzen, de Martino für eine ethnographische Komparatistik nutzbar zu machen und widmete sich dessen Konzept der „Krise der Präsenz“, das die Trance-Erfahrung des Selbstverlustes in den Mittelpunkt stellt. Bestehe dabei die Initialkrise der Besessenen in der Erfahrung eines labilen Ich-Bewusstseins, das nicht in der Lage sei, sozial sanktionierten Verhaltensweisen zu entsprechen, so werde die „Krise der Präsenz“ im Ritual in ein Changieren zwischen Immanenz und Transzendenz übersetzt, zwischen dem Ich-bewussten Ausführen ritueller Techniken und dem Zustand der Passion. Die von der Tarantel besessenen Tänzerinnen und Tänzer im Tarantismus seien für de Martino nicht nur Opfer, sondern auch Helden, die die Spinne besiegten. Um de Martinos Konzept zu überprüfen, zog Zillinger mit rituellen Sequenzen der Isawa, bei denen eine „Abwesenheit“ und Präsenzkrise rituell hergestellt und verarbeitet werde, seine eigenen Feldforschungergebnisse aus Marokko heran. Dabei kritisierte er vor allem den bei de Martino ausgearbeiteten Aspekt einer rituellen De-Historisierung der individuellen Erfahrung, wenn darunter eine Meta-Historizität verstanden werden solle, die in religiösen Institutionen wie der katholischen Kirche vermittelt werde. Die rituelle Praxis lege stattdessen nahe, die Überführung konkreter Erfahrungen in eine rituelle Ordnung in Anlehnung an Hauschild als „exemplarische Historizität“ zu verstehen, das heisst als situierte Technik, durch die individuelle Erfahrungen handhabbar werden. Erhard Schüttpelz wollte in der Diskussion De-Historisierung als die lokalisierte Produktion von Universalität verstanden wissen, durch die lokale und spezifische Zustände in Zirkulation gebracht werden können.

ALEXANDRA RIEDER (Wien) widmete sich den Auswirkungen von de Martinos Forschungen auf die Gegenwartskultur. In den 1990er-Jahren – 30 Jahre nach de Martinos bedeutender Forschungsreise in den Süden Apuliens – komme es im Kontext von Protesten gegen Vereinheitlichungstendenzen der Globalisierung und gegen eine geistige Unterjochung Süditaliens unter seinen Norden zu einem Revival einer ganz bestimmten süditalienischen Musik, der „pizzica pizzica“ – einem spielerisch-sozialem Tanz. Dieses Revival sei sehr bald der Mittelpunkt einer neuen Bewegung geworden: des „neotarantismo“, ein vielschichtiges süditalienisches Phänomen, welches in erster Linie von regionalen Musikgruppen getragen werde. Diese Renaissance der pizzica, welche einen ehemals so negativ konnotierten salentinischen Tanzzwang – den „tarantismo“ – wieder valorisiert aber auch verzerrt habe, mache aus der früher gefürchteten „taranta“ ein Emblem salentinischer Identität – vor allem für die Jugend. Den großen Einfluss, welchen das damals hastig Dokumentierte auf die nachfolgenden Interpretationen und literarischen Darstellungen des Tarantismus sowie die Formation der Bewegung der „neopizzica“ hatte, habe de Martino in keiner Hinsicht ahnen können. Der Tarantismus sei nach der Forschungsreise de Martinos und seiner Equipe durch die demartinianische „Linse“ sowie der seines Fotografen Franco Pinna und des filmenden Musikethnologen Diego Carpitella wahrgenommen, festgeschrieben, simplifiziert, reduziert und heraufbeschworen worden.

ANTONIO ROSELLI (Paderborn) untersuchte in seinem Vortrag die Aktualität von de Martino mit Blick auf Hans Ulrich Gumbrecht und Hans Blumenberg. Eine Auseinandersetzung mit de Martinos Rezeption der Phänomenologie Husserls und Heideggers erlaube es, Verbindungslinien zu aktuellen Debatten zu ziehen. Wenn gegenwärtig die Tragfähigkeit des Begriffs der „Präsenz“ als kulturwissenschaftliche Analysekategorie diskutiert werde, sei der Ausgangspunkt die von Gumbrecht aufgestellte Typologie einer Präsenz- und einer Sinnkultur. Die Positionen de Martinos schienen dabei bis jetzt keine Rolle in der Debatte zu spielen, stellte Roselli fest. Am Leitfaden der „Präsenz“ und mit Blick auf die gemeinsamen phänomenologischen Referenzen werde eine Markierung der Berührungspunkte zwischen de Martino und Philosophen wie Blumenberg und Kulturwissenschaftlern wie Gumbrecht möglich. „Durch die Miteinbeziehung der demartinianischen Weiterentwicklung der phänomenologischen Tradition kann – gerade auf der Ebene des Verhältnisses von Theorie und Praxis sowie bezüglich einer genuin politischen Dimension – Gumbrechts Ansatz ideologiekritisch demontiert, Blumenbergs Untersuchungen kritisch erweitert werden.“ Deutlich werde, wie de Martino in seinen Arbeiten Instrumente zur Verfügung gestellt habe, die bis heute nichts an ihrer kritischen Einsetzbarkeit eingebüßt hätten.

BARBARA PEVELING (Tübingen / Paris) stellte de Martino in den Kontext moderner Mittelmeerethnologie und wendete seinen Ansatz auf ihre eigene aktuelle Forschung an, in der sie das jüdisch-muslimische Zusammenleben nach der Migration in Frankreich und den strukturellen Wandel der sozialen Beziehungen zwischen den beiden Gruppen untersucht. Peveling kam zu dem Schluss, dass „de Martinos Ethnologie multifunktional auf die unterschiedlichen Phasen der Mittelmeerethnologie anwendbar“ sei. Mit der gegenwärtigen, von den Historikern Horden und Purcell geprägten Mittelmeerkonzeption bestünden die Schnittpunkte in der Annahme einer Einheit in der Vielfalt, das heißt eines einheitlichen kulturellen Raumes mit einer Kontinuität kultureller Praktiken sowie in der Betonung der Wichtigkeit des Zusammenhanges von Kultur und Landschaft, um lokale Praktiken, etwa die der Magie, zu verstehen. Die Anwendung von de Martinos theoretischem Ansatz auf ihre eigene Forschung habe gezeigt, dass dieser immer noch dazu verhelfe, auch zeitgenössische Phänomene, „die ihren Platz im globalen Ensemble haben“, zu erklären.

MICHAELA SCHÄUBLE (Halle) setzte sich mit der Visualisierung von de Martinos Phänomenologie des sozialen und religiösen Lebens in Süditalien durch den Filmemacher Luigi di Gianni auseinander. Ihr Interesse galt dem Zusammenhang zwischen religiös motivierten Trance- und Ritualpraktiken und Medientechnologien im Hinblick auf die Darstellbarkeit von veränderten Bewusstseinszuständen und ekstatischen Körpertechniken im ethnographischen Dokumentarfilm. Eine Durchsicht des filmischen Materials di Giannis ergebe, dass das Konzept von „cinéma-vérité“ und die Filmpraxis der „ciné-trance“, die allgemein auf den französischen Dokumentarfilmer Jean Rouch zurückgeführt werden, keineswegs die einzigen Möglichkeiten darstellten, um sich Phänomenen wie Trancezuständen und/oder Geistbesessenheit anzunähern und sie filmisch abzubilden. Di Giannis holzschnittartige Filmsprache, in der er materielle Armut und magische Praktiken miteinander verknüpft, böten ein neues Verständnis sowohl von körperlichem Ausdruck von Grenz- und Übergangszuständen als auch von Film und filmischer Choreographie als Forschungsmethode. Di Giannis Filmtechnik – die auch von fiktionalen, poetischen und inszenatorischen Elementen Gebrauch mache – gehe über den reinen Dokumentationsanspruch anthropologischen Wissens hinaus und intendiere, immaterielle und nicht-einsehbare Bewusstseinsbereiche wie die der Erinnerung, der Imagination und von Träumen medial erforschbar zu machen.

Die Tagung hat gezeigt, dass es trotz der einleitenden Feststellung einer Ungewöhnlichkeit doch auch im deutschsprachigen Raum eine intensive Rezeption der Schriften de Martinos gibt. Gleichzeitig ist die Tagung geeignet, den Umstand der Marginalität und schlechten Sichtbarkeit dieser Rezeption durch die erfolgte Zusammenführung der Diskussion zu verändern. Die Fragen etwa nach symmetrischer oder asymmetrischer Geschichtsbetrachtung, der Konzeption von Alterität und Emanzipation, den Interferenzen zwischen wissenschaftlicher Forschung und ihrem Gegenstand, der Reziprozität des Forschens und der Hierarchie zwischen Forschenden und Erforschten, der individuellen und kollektiven Krisenbewältigung sowie der Beurteilung und Darstellbarkeit außergewöhnlicher Bewusstseinszustände und damit verbundener Praktiken stellen sich auch in anderen Forschungskontexten als denen de Martinos. Die Beiträge beschränkten sich daher nicht allein auf die Rekonstruktion von de Martinos Schriften, sondern suchten immer wieder nach fachspezifischen Anschlussmöglichkeiten, ohne dabei apologetisch zu werden oder den Bezug zu seinen Schriften zu verlieren. So entstand während der Tagung ein Panaroma unterschiedlichster kreativer Aneignungen, die zeigen, dass die Auseinandersetzung mit de Martino eine lohnende Quelle der Inspiration und Ausgangspunkt für zeitgenössische Diskussionen sein kann.

Konferenzübersicht:

Ulrich van Loyen (Siegen): Einführung

Annette Werberger (Tübingen): De Martino und die (europäische) Folkloristik

Manfred Bauschulte (Bochum): De Martino und die zeitgenössische italienische Literatur (zu Einaudis Collana Viola und C. Paveses „Dialoghi con Leucò“)

Martin Zillinger (Siegen): Rituelle Krisen und rituelle Ordnungen. „Agiert-Werden“ und die „Krise der Präsenz“ in afro-mediterranen Besessenheitskulten

Alexandra Rieder (Wien): Revisiting Salento 1959. Ernesto de Martino, Bilder und die Geschichte(n) von der Terra del rimorso

Antonio Roselli (Paderborn): Am Leitfaden der Präsenz. Zur Aktualität von Ernesto de Martino – Mit Blick auf H.U. Gumbrecht und Hans Blumenberg

Barbara Peveling (Tübingen / Paris): Magie, Religion und soziale Sicherheit im Mittelmeerraum. Ernesto de Martinos Ansatz zur religiösen Magie angewendet auf eine lokale Feldstudie zu nordafrikanischen Juden und Muslimen in Marseille

Michaela Schäuble (Halle): Zwischen radikalem Realismus und visionärem Delirium: eine Annäherung an das filmische Schaffen von Luigi di Gianni


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