Gedächtnis zwischen Erfahrung und Repräsentation. Was bleibt von der verstörenden Kraft der Erinnerung?

Gedächtnis zwischen Erfahrung und Repräsentation. Was bleibt von der verstörenden Kraft der Erinnerung?

Organisatoren
Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
12.12.2003 - 13.12.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Nicole Immler, Projekt-Mitarbeiterin des Brenner Archivs Innsbruck

Der Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs der letzten Jahrzehnte hat sich zu einem Medium politischer Instrumentalisierung entwickelt, insbesondere die Rede vom kollektiven Gedächtnis in der Thematisierung von Erinnerungsorten: Museen, Denkmälern und Gedenkfeiern. Vernachlässigt blieben psychologische und soziale Prozesse, wie sich Erinnerungen konsolidieren, beeinflussende Größen wie Familie und Generationen, also eine Struktur- statt einer Intentionsanalyse. Die jüngste deutsche Debatte wirft dementsprechende neue Fragen auf. Prägte die 1980/90er Jahre das Gedenken an die Opfer des Holocausts, wurde in den letzten Jahren die Erinnerung an die Bombardierung der Städte, an Flucht und Vertreibung von 12 Millionen Menschen zum Bezugspunkt eines neuen Opfer-Narrativs und einer erinnerungspolitischen Debatte. Angefangen 1999 mit einem Essay W.G. Sebalds über die Unterrepräsentation des Luftkrieges in der deutschen Nachkriegsliteratur, über Günter Grass generationenübergreifendes Flüchtlingsdrama Im Krebsgang bis hin zum jüngsten Werk Jörg Friedrichs über den Bombenkrieg, Der Brand. Kommt es hier zu einer Neuverhandlung eines Gedächtnisses, welches bisher auf der eher rechten Seite des politischen Spektrums vor allem in den Vertriebenenverbänden angesiedelt war und nun mittels linker Akteure auf eine universellere Diskursebene gestellt wird, fragt Organisatorin Heidemarie Uhl (Wien)? Wird das Trauma nun in eine Form gebracht, welche in die Gesellschaft zu integrieren ist? Was bleibt von der verstörenden Kraft der Erinnerung - ist jene noch wirksam oder durch Gedächtnispraktiken schon gezähmt? Damit wurde die Leitfrage der Tagung am IFK in Wien skizziert.

Der Titel Gedächtnis zwischen Erfahrung und Repräsentation verweist bereits auf die Ambivalenz des Begriffs 'Gedächtnis': einerseits die Verarbeitung individueller Erfahrung, andererseits sinnstiftende Erzählungen von Kollektiven bezeichnend, normativer ebenso wie konstruierter Bezugspunkt. Mitorganisator Christian Gerbel (Wien) zeigt in einer einleitenden Begriffsklärung problematische Schnittpunkte: Ob die Überführung nationaler Gedächtnisorte in transnationale Kommunikationsnetze, oder die Übersetzung des Begriffes 'Trauma' von der individuellen auf die gesellschaftliche Ebene. Neben diesen Übersetzungsschwierigkeiten sei es aber auch die mediale Verflachung, die durch "Entortung, Dekontextualisierung und Enthistorisierung" einzelne Erinnerungsdiskurse simplifiziere.

Hier ist der Begriff des kollektiven Gedächtnisses eine Denkfigur für jene, die ein ähnliches Wissen teilen, so Siegfried J. Schmidt (Münster). Dieses gemeinsame Wissen gehe aber gerade durch Globalisierung wie zunehmende Individualisierung in viele Subgruppen verloren, was den Charakter von Erinnerung verändere: statt "normativer Steuerungsmechanismus" werde zunehmend über die Vergangenheit "verhandelt" und damit eine "Beobachtung zweiter Ordnung" eingeführt. War bisher der Großteil der gegenwärtigen Gedächtnistheorie auf den kognitiven Bereich - "was können wir wissen?" - konzentriert, was den Begriff der 'Konstruktion' mit Willkür assoziiert, treten nun emotionale und moralische Aspekte in den Vordergrund, mit der akzeptierten Erkenntnis: "Die Vergangenheit wird konstruiert in einer Gegenwart im Hinblick auf eine erträgliche Zukunft."

In jedem dieser Verhandlungsprozesse sind die verwendeten Begrifflichkeiten wesentlich. Anson Rabinbach (Princeton) stellt den Begriff des Genozids vor, zurückgehend auf den Juristen Raphael Lemkin (1900-1959), der ihn 1943 erstmals in einer Schlagzeile in der 'Washington Post' verwendet hat. Der "largely forgotten immigrant from Poland" erfährt aber erst als Autor der 'United Nations Genocide Convention' offizielle Anerkennung. Lemkin erkannte sehr früh die Vorgänge in Deutschland und entwickelte ein differenziertes Konzept des Genozids (ethnischer, religiöser, ökonomischer, moralischer, nationaler, biologischer, sozialer und kultureller Natur) und schuf damit eine neue Kategorie an kollektiver Gewalt-Erfahrung - die jedoch auf Jahrzehnte hin ohne politische Lobby blieb. So beschränkten sich beispielsweise die Nürnberger Prozesse auf Verbrechen in der Kriegszeit, während der Genozid lange vor dem 1.9.1939 begonnen hatte. Im Kalten Krieg der 1950er Jahre wurde diese Kategorie aus Gründen der eigenen race-politics am Internationalen Gerichtshof blockiert, um nicht selbst Opfer ihrer eigenen Vergangenheit zu werden; jüngst wurde dieser Begriff im Hinblick auf die Lage in Ruanda vermieden, weil er eine entsprechende Intervention erfordert hätte. Rabinbach zeigt die Macht des Begriffs, dort wo er keine Verwendung findet, ebenso wie dort, wo er die "letzte Stufe der Anerkennung als marginalisierte bedrohte Gruppe" ist.

Derzeit bekommt der Erinnerungsdiskurs in Deutschland vor allem Impulse von der Familienebene. Hier fragt Aleida Assmann (Konstanz), warum die Erinnerung an die Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung so spät kommt, und erklärt es mit dem Prozesscharakter von Erinnerung, der eng an das Generationen-Gedächtnis gekoppelt sei. Nach Kriegsende war dieses Gedächtnis zentrales Argument eines 'Aufrechnungsdiskurses', der erst im Historikerstreit mit einem "Vergleichsverbot" belegt wurde. Erst heute finde sich zu diesen traumatischen Erfahrungen ein emotionaler Zugang. Assmann nennt dafür drei Gründe: Die Erfahrungsgeneration werde nun von der Bekenntnisgeneration abgelöst, welche Familienerinnerung bewahren will und jene nicht mehr kritisch (wie seitens der 68er gegen die "Tätergeneration"), sondern emotional abhandle, u.a. in Form einer emphatischen Haltung in Familienromanen oder Väterbiographien. Zudem habe diese individuelle Erfahrung von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung das Potential für ein gemeinsames Opfer-Narrativ für die Ost- und Westerfahrung. Damit differenziert sich der bislang bestimmende Opfer-Täter-Diskurs. Wollte die schuldzuweisende Väterliteratur der 1970/80er Jahre einen radikalen Neuanfang, so führt heute das Sterben der Erfahrungsgeneration zur Fragen nach der Überführung des kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis - und damit zur brisanten Thematik von Repräsentation. Sah Jacques Derrida die einzige Lösung für das Dilemma der 'richtigen' Darstellung von Trauma in seiner radikalen Forderung nach gar keiner Repräsentation, sieht Assmann darin doch die einzige Möglichkeit die verstörende Kraft über die Generationen hinweg zu retten. Problematisch sei dabei der Versuch, neue Normierung anzustreben, wie die Forderung nach einem 'Zentrum gegen Vertreibung' oder einem neuen deutschen Gedenktag für die deutschen Opfer, statt sich für kommunikationsfördernde Flexibilisierungen zu öffnen.

Der Opferdiskurs selbst war bereits Teil der NS-Ideologie und nach 1945 parteiübergreifend legitimiert. Allerdings: wie soll sich eine Gesellschaft, die im letzten Kriegsjahr 2.5 Millionen Soldaten verloren hat, nicht als Opfer fühlen, fragt Jeffrey Herf (Maryland) und fordert auf, noch mehr auf die politische Lehre dieser Erinnerung einzugehen, Kausalitäten und Chronologien mehr in den Gedächtnisdiskurs einzubeziehen. Die Opfererzählung nach 1945 erfordere eine Einbettung in größere Zusammenhänge. Denn gerade gegenwärtige Konflikte (wie u.a. im Irakkrieg) zeigen die Gegenwartsrelevanz solcher historischer und gedächtnisspezifischer Fragestellungen.

Dabei nehmen Photos und ihre Wahrnehmung eine zentrale Rolle ein. Nicht erst seit den Kriegsbildern aus dem Irak und den Arbeiten Susan Sonntags hat das Bild seine Abbildfunktion "als visuelles Argument der Wahrheit" verloren. Standen zu Beginn der Photographie die technische Faszination und der dokumentarische Anspruch im Mittelpunkt, gab es doch nie eine "Unschuld des Bildes", denn jedes Bild hat seine Absicht. Ein Resultat der jüngsten multimedialen Gedächtnisindustrie sei jedoch, dass die Erinnerung zunehmend nicht an Ereignissen, sondern an den medialen Bilder davon haftet. Diese vernachlässigte "Subgeschichte von Bildern" verfolgt Lydia Haustein (Berlin) imagologisch in verschiedenen Kulturen. Eine terminologisch unscharfe doch kulturübergreifende Medienanalyse, die eine Historiographie von Bildern einfordert und verdeutlicht, dass es nicht ein inner- und außerhalb der Medien gibt, sondern alle Erfahrungen an Medien gebunden sind.

Es sind auch die Medienbilder, die tagtäglich Konflikte in die Wohnzimmer tragen und zur eigenen Geschichte machen, indem unterschiedlichste Rezeptionskontexte einfach eingeebnet werden. Moshe Zuckermann (Tel Aviv) macht eindringlich auf die völlig unterschiedlichen Diskurse in Deutschland und Israel in Bezug auf den Holocaust aufmerksam, in einem seiner Bücher programmatisch getitelt Zweierlei Holocaust. So sei die Shoa von Beginn an für die Staatsgründung Israels instrumentalisiert worden, obwohl der Zionismus 50 Jahre früher völlig anders motiviert war, von der Negation der Diaspora und der Erschaffung des neuen Juden. Dabei habe der Holocaust heute mit 60% der Bevölkerung in Israel nichts zu tun - die Ashkenazi mit Shoabezug seien eine Minderheit - und gehöre wie auch Jiddisch nicht zur Alltagsrealität eines hebräischen Nationaldiskurses. Jener bricht nun seit den 1990er Jahren auf, fragmentiert sich, reagierend auf parzellierte Lebenswelten: nicht der israelische Jude erinnert sich, sondern ein Sepharde oder Aschkenazi, ein Halache, Zionist oder Homosexueller. Damit zeigt Zuckermann, dass der Holocaust nicht ein eindeutiger Erinnerungsort ist, sondern auch unterschiedlich aufladbar und funktionalisierbar ist. So wie jeder Diskurs seine bestimmte Funktion hat in der Gesellschaft in der er entstanden ist, sowie für die Generation, die ihn geführt hat.

Das transgenerationelle Verhältnis ist zentral für die von Felix de Mendelssohn (Wien) beschriebene Trauma-Erfahrung, welche an die nächste Generation weitergegeben, aber aufgrund des "zerbrochenen Narrativs" nicht verstanden werde und dort oft unerklärbare Probleme auslöse. Freud hatte das im Modell der Nachträglichkeit formuliert, dass sich verschüttete Reste der Eltern im Trauma der Kinder wieder finden, oder eigene Konflikte mit denen der Eltern überlagert werden. Die Aufgabe des Analytikers sei es nun, eine Kontinuität der Erzählung herzustellen durch einen äußeren chronologischen Erzählrahmen und Bezug zum "Familien-Ich", um die individuelle Erinnerung zu vervollständigen und durch die Rahmenerzählungen bzw. Konkretisierungen Energien abzuleiten. Gerade der Fall 'Wilkomirski' zeigt aber die oft unergründlichen Bereiche eines verletzten Gedächtnisses, wo dokumentarische Wahrheit nicht zu finden ist. Neue Ansätze in der Sozialpsychologie richten damit die Aufmerksamkeit auf das, was der Erinnerungstheoretiker Maurice Halbwachs die soziale Bedingtheit von Gedächtnis und die Kommunikativität des Erinnerns nannte: die Aktivität aller Familienbeteiligten beim Aushandeln einer "geteilten Version der Vergangenheit". Das wird auf gesellschaftlicher Ebene sichtbar, so könnte man hier weiterführen, wenn in der Ignatz Bubis-Martin Walser-Debatte "zwei Söhne das jeweilige Gedächtnis ihrer Familien gegeneinander" verteidigen. 1

Wie das Reden über die Shoa gleich nach 1945 von "Berechnungen" bestimmt war, zeigt Birgit R. Erdle (Berlin) anhand von Aufrechnungsdiskursen oder der Rede von "Wiedergutmachung" als Zeichen Adenauers im Hinblick auf die intendierte Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft. Auch wenn es an für sich kein Tauschprinzip gebe, werde die deutsche Wiedergutmachung doch so interpretiert. Dennoch, wo wären wir heute ohne diese Wiedergutmachung fragt Zuckermann und Assmann betont, dass es zwar keinen Aufrechnungsdiskurs geben darf, während die Aufrechnungspraxis aber durchaus notwendig war. Erdle plädiert, hier juridische und moralische Diskurse auseinander zu halten, jeder habe seine eigenen Regeln und Logiken; ebenso für genaue Begrifflichkeiten: Statt von der "Wiederkehr des Verdrängten", der suggeriere, es hätte keine Debatte dazu gegeben, von einer "Umschriftung" im Sinne Freuds zu sprechen. In der Diskussion wurde auf die "Strategie der semantischen Enteignung" (Ludwig Jäger) aufmerksam gemacht, wenn Jörg Friedrich den aus dem SS-Kontext bekannten Begriff 'Einsatzgruppe' für die Intervention der alliierten Truppen im Luftkrieg verwende. Hier referierend auf Ulrich Wehler, der es in seiner Buchrezension in der Süddeutschen Zeitung sogar eine "semantische Entgleisung" nannte.

Nach der Bedeutung dieses redefinierten Opferdiskurses fragt Harald Welzer (Essen) als Sozialpsychologe. Seine These: Der Traumabegriff sei unterschätzt worden und die Tiefenprägung durch die Gewalt vor 1945 sei viel stärker als bisher gedacht. Der Holocaust sei nicht nur eine Familiengeschichte, wie es Hilberg 1985 schon formuliert hatte, sondern es gäbe keine "holocaustfreien Räume" in der deutschen Gesellschaft, deshalb seien die psychologischen und soziologischen Tiefenwirkungen unbekannt. Das zeige sich an der Intensivierung statt dem Abflauen des Opfer-Diskurses, in den Debatten um das 'Zentrum gegen Vertreibung' in Berlin, den Degussa-Auftrag für das Holocaust-Denkmal und die antisemitischen Aussagen des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann; ebenso wie anhand der neuen Literatur-Bestseller von Bernhard Schlink oder Ulla Hahn. Ihr Narrativ der "schuldlosen Schuld" sei eine Literatur der Selbstanklage der 68er-Generation, welche sich selbst so unempathisch gegenüber der Vätergeneration verhalten habe, doch heute selbst als Mütter und Väter eine neue Auseinandersetzung mit ihrer familiären Vergangenheit suchen in Form eines "nachholenden Identifizierungsbedürfnisses".2

Summierend kann gesagt werden, dass alle Beiträge durch komplementäre Erzählungen engagierten Feindifferenzierungen zurück in das Feld der Erinnerungspolitik reklamierten, ein Feld, das durch Phänomene wie den "Knoppismus" medial verflacht, durch eine Aufsplitterung in Partikulargedächtnisse fragmentiert ist und wo über die Medien tagtäglich das kollektive Gedächtnis neu ausverhandelt wird. Hier hat der neue Opfer-Diskurs das Potential, nicht durch Inanspruchnahme der Opferrolle politische Vorteile zu gewinnen und so eine konkurrenzierende Denkweise fortzuschreiben, sondern den großen Normisierungsdruck auf das Familiengedächtnis aufzulösen und durch eine generationenübergreifende wie auch Ost und West verbindende Erfahrung die Kluft zwischen Familien- und nationalem Gedächtnis zu überwinden. Insbesondere wurde gezeigt, dass das Gedächtnis ein unabschließbarer Prozess ist, stets offen für neue Codierungen.

Anmerkungen

1 Berg, Nicolas, Perspektivität, Erinnerung und Emotion. Anmerkungen zum ‚Gefühlsgedächtnis' in Holocaustdiskursen, in: Echterhoff, Gerald; Saar, Martin (Hgg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, S. 225-251, 232.
2 Speziell zum Familiengedächtnis: Welzer, Harald u.a. (Hgg.), Opa ist kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002.


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