Urbanität und Identität zeitgenössischer europäischer Städte

Urbanität und Identität zeitgenössischer europäischer Städte

Organisatoren
Wüstenrot-Stiftung; Lehrstuhl für Geschichte des Städtebaus an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
11.11.2003 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Stephanie Warnke, Freie Universitaet Berlin/Zürich

Im Zeichen der "Transdisziplinarität" stellte diese eintägige Fachtagung die Frage nach dem Funktions- und Bedeutungswandel der europäischen Städte im Zeitalter der Globalisierung.
Vertreter der Europäischen Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie sowie Architektur und Stadtplanung diskutierten über möglicherweise spezifisch europäische Aspekte heutiger Urbanität sowie die unterschiedlichen Strategien, trotz globaler Angleichungsprozesse lokale Identitäten zu erhalten oder auszubilden. Die von der Architektin Judit Solt (Zürich) kompetent vorbereitete Tagung wurde als Bestandteil des Forschungsprojektes "Regionalismus in der Architektur" der Wüstenrot-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Geschichte des Städtebaus an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich durchgeführt. 1

Wolfgang Bollacher (Wüstenrot Stiftung) forderte in seiner Begrüßung die obligate Klärung der zentralen Begriffe "Urbanität" und "Identität" und stellte besonders die Entgrenzung durch neue Medien und Technologien in der postindustriellen Gesellschaft dem Bedürfnis nach einer raumbezogenen Identität, Heimat und Sicherheit gegenüber. Vittorio Magnago Lampugnani (ETH Zürich) bekräftigte seine Sicht der momentanen städtischen Entwicklung in Europa: Allen Kassandra-Rufen zum Trotz sei eine Renaissance der Städte in Europa nicht von der Hand zu weisen, die auch viele mittlere Städte mit einbeziehe. Widerstand gegen kulturelle Vereinheitlichung sei besonders durch eine städtische Architektur zu leisten, die Besonderheiten hervorheben und dadurch wiedererkennbare Strukturen schaffen könne.

Was macht urbane Identitäten im heutigen Europa aus? In einem komplexen, weit abgesteckten und historisch inspirierten Vortrag näherte sich Wolfgang Kaschuba (Humboldt Universität Berlin) dem Konzept aus dem Blickwinkel der Europäischen Ethnologie. Unter dem Titel "Urbane Identität: Die Einheit der Widersprüche?" unterstrich er zunächst die Bedeutung der Geschichte und Idee der europäischen Stadt auf politischer und sozialer Ebene als "Keimzelle der Zivilgesellschaft". Während die kulturgeschichtliche Erzählung von der Urbanität besonders die technischen und medialen Veränderungen in den Mittelpunkt stellen müsse, durch die Entwürfe komplexer Stadtlandschaften und Stadtbilder erst möglich gemacht wurden, sei es zugleich die Permanenz sozialer Spannung und Differenz, welche die komplexe Lebens- und Bedürfnisgemeinschaft der Stadtbewohner der Moderne ausmache. Die Herausbildung einer neuen Urbanität durch "Vergemeinschaftung" im Sinne Max Webers könne dabei immer nur symbolisch erfolgen; sie sei "mehr Kultur als Struktur".

Sowohl die gebaute, als auch die gedachte europäische Stadt wolle nach wie vor Text sein: Strukturelle und formale Gemeinsamkeiten von Helsinki bis Palermo würden mit lokalen Eigenheiten gefüllt, das Beharren auf dem Spezifischen sei notwendige Voraussetzung der Unverwechselbarkeit. Unterschiedliche Strategien wie "Literarisierung" oder "Biografisierung" dienten der Produktion einer "lokalen Mythologie". Die Städte würden so zu einem Ort der Imagination, der durch eine "Archäologie der Bilder" empathisch verstanden werden und Ort einer "imaginären Vergemeinschaftung" werden könne. Ob die europäischen Städte durch die Erzeugung von "Lokalität" oder "Glokalität" an der Schnittstelle von Mythos und Markt der immer größer werdenden sozialen Integrationslast werden standhalten können, bliebe dabei fraglich, denn die um sich greifende "Kulturalisierung" sozialer Probleme in den symbolischen Ökonomien der "Ethnoscapes" sei vor allem ihre Nicht-Lösung. Für Kaschuba war Urbanität somit vor allem ein Gefühl: Urbane Identität beruht auf einer alltäglichen Koordinations- und Integrationsleistung, und der Stadtbewohner, das Mitglied der lokalen Notgemeinschaft, zeichnet sich besonders durch seine "leidenschaftliche Leidensfähigkeit" aus.

Das Leiden an und in der Stadt war in einem weniger kulturalistischen, ganz konkreten Sinne Thema des Vortrags des Osteuropa-Historikers Karl Schlögel (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder). Unter der Überschrift "Bürgergesellschaft, neue Urbanität und die Zukunft der Stadt in Osteuropa" lieferte er einen historischen Überblick über die städtische Entwicklung Osteuropas im 20. Jahrhundert. Schlögel war seine im Hinblick auf die Zielsetzung der Tagung eher generalisierende Themenstellung wohl etwas unbehaglich - der durch zahlreiche Städteporträts als Kenner Osteuropas publizistisch hervorgetretene Historiker hätte lieber eine Fallstudie zur Entwicklung einer einzelnen Stadt vorgestellt. 2 In seinem Vortrag ging er auf eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten und geteilter aktueller Schwierigkeiten von Städten des im Sinne des ehemaligen Ostblocks verstandenen Osteuropa ein, die sonst seiner Meinung nach nur wenig Beachtung finden.

Für die osteuropäischen Städte sei das 20. Jahrhundert eines der Zerstörungen und Katastrophen gewesen - Schlögel sprach vom "Urbizid" durch Bürgerkrieg, Weltkriege und Stalinisierung. Die Entwertung von Grund und Boden, architektonischer Monumentalismus, zivilgesellschaftliche Verantwortungslosigkeit und Abhängigkeit von der Zentralverwaltung hätten geschlossene, zwar äußerlich modernisierte, aber innerlich zerstörte Städte hervorgebracht. Umso beeindruckender seien die seit dem Zerfall des Ostblocks erbrachten Leistungen zur "Reurbanisierung". Schlögel betonte in diesem Zusammenhang besonders das Verdienst initiativreicher Bürgermeister, denen es trotz der enormen Beschleunigung der städtischen Entwicklung und der z.B. oft chaotischen baulichen Entwicklung seit dem überstürzten Einzug des Kapitalismus dennoch gelang, den Absturz der Städte zu verhindern und sie als bürgerlich-zivile Lebensform wiederzubegründen. In diesem Sinne seien die 1990er Jahre in Osteuropa durchaus das "Jahrzehnt der Bürgermeister" gewesen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts seien die Metropolen als anti-nationale Korridore die Verbindungsachsen des neuen Europa, und Schlögel erinnerte abschließend an ihre extreme Verwundbarkeit durch neue Konflikte und terroristische Anschläge, wie sie sich z.B. in Moskau ereignet haben.

Als "kultursoziologische Betrachtungen" hatte der Soziologe Gerhard Schulze (Otto-Friedrich-Universität, Bamberg) seine interdisziplinären Überlegungen zur "neuen Stadtgesellschaft" überschrieben, die halb kulturanthropologisch, halb systemtheoretisch inspiriert zu sein schienen. In Anspielung auf einen Buchtitel von Vittorio Magnago Lampugnani sprach er von der "prekären Dauerhaftigkeit" städtischer Bauten und regte an, die gebaute Stadt nicht als statische Struktur, sondern Stadtentwicklung als langsamen Prozess zu betrachten. 3 Zur Unterscheidung der übergreifenden Prozess- bzw. Handlungslogiken von Architekten und Stadtplanern schlug er die Begriffe "Steigerung", "Annäherung" und "Expedition" vor.

Als "Steigerung" könne die zunehmende technologische Funktionsdifferenzierung des Raumes und seine Nutzenoptimierung bezeichnet werden, die zu Verinselung einerseits und Mobilisierung andererseits führe. In der restaurativen, kunsthandwerklichen "Annäherung" an ein historisches Original, wie z.B. bei der Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche, sah Schulze dagegen eine typisch europäische Handlungslogik, die als Annäherung an ein Ideal zur Konstruktion von Identität über Gebäude beitrage und dadurch eine emotionale Verwurzelung erlaube. Die künstlerische "Expedition" schließlich erzeuge als ästhetische Grenzüberschreitung, wie z.B. beim Bau des Jüdischen Museums in Berlin, einzigartige Kunstwerke mit erkennbarer Autorschaft, welche die Öffentlichkeit sich wiederum als Symbol der Stadt aneignen könne. Trotz dieser Suche nach Authentizität und Identität in den genannten Umgangsweisen mit Architektur und Städtebau diagnostizierte Schulze die Auflösung der historischen "Stadtgesellschaft" hin zu einer "urbanisierten Öffentlichkeit", die sich in überregionalen Diskursen die lokale Verantwortlichkeit erst wieder neu aneignen müsse.

Rüdiger Soltwedel (Institut für Weltwirtschaft, Universität Kiel) präsentierte die Ergebnisse eines weiteren von der Wüstenrot-Stiftung geförderten Forschungsprojektes über "Räumliche Wirkungen der New Economy". Nach einem historischen Einstieg, in dem er Globalisierung zunächst als uraltes Phänomen charakterisierte, stellte er den Ergebnissen der amerikanischen Globalisierungsforschung die Resultate einer empirischen Untersuchung zum räumlichen Strukturwandel in Deutschland gegenüber. In der Präsentation der Kieler Forschung stellte sich der Druck der Globalisierung auf die deutschen und europäischen Städte vor allem als Herausforderung an die Regionen zu einem verstärkten "Standortwettbewerb" dar - die "Stadt als Unternehmen" oder "innovative Cluster" heißen hier die Zauberformeln. Aufgrund der föderativen Struktur und der komplexeren Standortmuster in Deutschland sei keinesfalls mit dem "Tod der Städte" zu rechnen, allerdings fordere die wirtschaftliche Veränderung von der Stadt- und Raumplanung vor allen Dingen mehr Flexibilität.

Nach dem dichten Tagesprogramm und den so unterschiedlichen Herangehensweisen an die Frage nach den zeitgenössischen urbanen Identitäten in Europa lieferte der Architekt Martin Hofer (Wüest&Partner, Zürich) einen erfrischenden und inspirierenden Einstieg in die Abschlussdiskussion, den er selbst nicht als "Resümee" bezeichnet wissen wollte. Fazit aller Beiträge sei in seinen Augen ein leidenschaftliches Plädoyer für die Stadt gewesen, so dass er die Gelegenheit nutzte, nach den gegenwärtigen Gegnern der Stadt zu fragen und auf das größte schweizerische Infrastrukturproblem, das weitere Anwachsen der Agglomerationen, hinzuweisen. Zudem wunderte er sich über die wenige konkrete Kritik am Städtebau des 20. Jahrhunderts, die dann aber Karl Schlögel bereitwillig in der Diskussion nachlieferte. Lauten Widerspruch erntete Martin Hofer mit seiner Einschätzung, die "Form" der Stadt sei letztlich nicht von Bedeutung - es werde zu viel über die Kulisse, aber zu wenig über das Theaterstück diskutiert. Wolfgang Kaschuba betonte als Reaktion hierauf nochmals die Notwendigkeit der äußerlichen Einzigartigkeit der Städte für ihre kulturelle Deutung.

Die Schlussdiskussion griff dann aber doch noch besonders die Frage nach dem Inhalt des "Theaterstücks" auf, und die brachte die Teilnehmer abschließend zum Thema der städtischen Akteure und ihrer Institutionen. Wer ersetzt in der "urbanisierten Öffentlichkeit" des 20. Jahrhunderts, die letztlich nur einen Möglichkeitsraum bezeichnet, das Bürgertum des 19. Jahrhunderts? Wie können erfolgreich die fehlenden Institutionen zur Interaktion in Planungsprozessen geschaffen werden? Vittorio Magnago Lampugnani leitete aus dem historischen Scheitern einseitiger Paradigmen für Städtebauprojekte die praktische Notwendigkeit ab, den Stadtbewohnern immer Alternativen anzubieten.

Insgesamt machte der weitgesteckte transdisziplinäre Rahmen Reiz und Problem der Tagung aus: Die unterschiedlichen Perspektiven der Disziplinen wirkten sehr anregend, kollidierten aber auch leicht und fordern für die Zukunft vor allem eine tiefergehende Klärung der zentralen Begriffe, die besonders für das etwas sorglos verwendete Konzept der "Identität" noch zu leisten wäre. 4 In den unterschiedlichen Herangehensweisen spiegelt sich letztlich auch das Problem der Diskussion von "Form" und "Inhalt" unserer Städte, und es bleibt zu wünschen, dass politische Fragestellungen in zukünftigen Diskussionen nicht hinter allem Symbolischen zurücktreten. Auf die Publikation zur Tagung darf man gespannt sein.

1 Zum Thema erschien im Jahr 2000 der Band "Die Architektur, die Tradition und der Ort. Regionalismen in der europäischen Stadt", hg. von Vittorio Magnago Lampugnani (Wüstenrot Stiftung, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und München 2000).

2 Karl Schlögel, Promenade in Jalta und andere Städtebilder, Fischer, Frankfurt am Main 2003; ders., Petersburg: Das Laboratorium der Moderne, Hanser, München 2002; ders., Moskau lesen: die Stadt als Buch, erweiterte Neuauflage Goldmann, München 2000.

3 Vittorio Magnago Lampugnani, Die Modernität des Dauerhaften. Essays zu Stadt, Architektur und Design, Neuauflage Fischer, Frankfurt am Main 1998.

4 Zur Diskussion des Konzepts der "Identität" in der Geschichtswissenschaft vgl. Uffa Jensen, Sammelrezension "Kollektive Identitäten", in: H-Soz-u-Kult,19.11.2000, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3959> (14.01.2004).