Einsicht durch Einsicht? Die Akten der kommunistischen Geheimpolizeien und die Aufarbeitung der Vergangenheit

Einsicht durch Einsicht? Die Akten der kommunistischen Geheimpolizeien und die Aufarbeitung der Vergangenheit

Organisatoren
Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde; Südosteuropa-Gesellschaft
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.09.2011 - 15.09.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Karolin Weber, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Am 14. und 15. September 2011 luden der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und die Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) zur Konferenz „Einsicht durch Einsicht? Die Akten der kommunistischen Geheimpolizeien und die Aufarbeitung der Vergangenheit“ in die Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin. Die Referent/innen diskutierten, wie in Deutschland und den Staaten des ehemaligen Ostblocks mit den Akten ehemaliger Geheimpolizeien umgegangen wird, wie sich die Art des Umgangs mit der Vergangenheit auf die Gesellschaften auswirkt und ob es einen europäischen Konsens über den Umgang mit dem Erbe der Geheimpolizeien gibt oder geben sollte.

In seiner thematischen Einführung beschrieb ROLAND JAHN (Berlin) die verschiedenen Aufgaben seiner Behörde, die er als „Dienstleister für die Gesellschaft“ verstanden wissen will. Zu ihnen gehörten Bildungs- und Jugendarbeit sowie Forschung. Am wichtigsten sei jedoch der Auftrag, Privatpersonen Einsicht in ihre Akte zu ermöglichen und dadurch zur Aufarbeitung der Vergangenheit beizutragen. Oft sei die Einsicht in die eigene Akte ein schmerzhafter Moment. Dies schilderte Jahn an seinem eigenen Beispiel. Es sei erschreckend gewesen zu sehen, wie weitgehend und umfangreich die Überwachung durch den Staat war. Auch die Erkenntnis, dass womöglich Freunde oder Familienangehörige mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben, sei schmerzvoll, aber gleichzeitig hilfreich gewesen.

RITA SÜSSMUTH (Berlin) erinnerte daran, dass ein großer Teil der politischen Entscheidungsträger nach der Wende gegen eine Offenlegung der Stasi-Akten war. Viele befürchteten damals, dass dieser Offenlegung ein Riss durch die Gesellschaft und eine vereinfachende Einteilung der Bevölkerung in Täter und Opfer folgen könne. Ohne den Druck der Bürgerrechtler und ihr Bestreben, den Opfern „gerecht“ zu werden, wäre es nicht zu einer so schnellen Öffnung der Akten gekommen. Die Furcht vor negativen Auswirkungen einer Aktenöffnung sei im Nachhinein unbegründet gewesen. Die offene Konfrontation mit der Vergangenheit sei zwar nicht immer einfach gewesen, habe die Gesellschaft aber eher gestärkt als geschwächt.

Die Problematik der möglichen negativen Auswirkungen einer Offenlegung der Geheimpolizeiakten wurde von den Referenten aus Mittel- und Osteuropa kaum thematisiert. Schwerpunkt der Diskussion waren die Fragen, wie viele der Akten in welcher Form für wen zugänglich gemacht werden und wie die Gesellschaften mit den gewonnen Informationen umgehen.

Ein Vergleich des Umgangs der Staaten Mittel- und Osteuropas mit den Geheimdienstakten ist sinnvoll, da sie sich nach dem Umbruch zwar in verhältnismäßig ähnlichen Ausgangssituationen befanden, aus denen sich jedoch mitunter sehr unterschiedliche Entwicklungen ergeben haben. ANNELI UTE GABANYI (Berlin) wies darauf hin, dass die Aufarbeitung der Stasi-Akten der ehemaligen DDR eine Sonderrolle einnehme. Die DDR habe als einziger Staat des ehemaligen Ostblocks aufgehört zu existieren und die Aufarbeitung habe innerhalb des institutionell gefestigten demokratischen Rahmens der vereinigten Bundesrepublik stattfinden können. Im Gegensatz dazu mussten die anderen Staaten nach dem Umbruch weiter „funktionieren“. Eine wiederum andere Situation ergebe sich für die Staaten, die erst durch die Auflösung der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit (wieder-)erlangt haben, wie Lettland und die Ukraine. Der heutige Umgang mit den Geheimpolizeiakten hänge laut VIRGILIU-LEON ŢÂRĂU (Bukarest) von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab, etwa dem Ablauf des Umbruchs, den politischen Traditionen und kulturellen Besonderheiten.

Der ukrainische Bürgerrechtler YEVGENIY ZAKHAROV (Char’kiv) konstatierte, dass der Prozess der Offenlegung der Akten des Geheimdiensts in seinem Land in den letzten Jahren eine dramatische Beschleunigung erfahren habe. Problematischer sei der Umgang mit den Akten des Innenministeriums, die noch vollständig unter Verschluss gehalten werden. Ein großes Problem bestehe laut Zakharov auch darin, dass ein großer Teil der Akten nicht zur Verfügung stehe, weil sich die Akten entweder in Moskau befänden oder während des Umbruchs vernichtet worden seien.

Auch in Bulgarien seien die Akten nicht mehr vollständig, da im Zeitraum bis 1993 sehr viel zerstört worden sei. In Bulgarien habe die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit erst sehr spät begonnen. Nach 17 Jahren Streit besteht erst seit 2007 Zugang zu den Akten. Dass diese Öffnung so spät stattfand, erklärt MARIYA DERMENDZHIEVA (Sofia) mit der auch nach der Transition fortbestehenden starken Verankerung der bulgarischen Geheimpolizei sowohl in der politischen Elite als auch in der Gesellschaft. Die Auswirkungen der Aktenöffnungen auf die bulgarische Gesellschaft seien nach so kurzer Zeit schwierig einzuschätzen. Dermendzhieva beklagte, dass der Fokus der Aufarbeitung in Bulgarien zu wenig auf den Opfern liege und ehemalige Geheimdiensttätigkeit in vielen Fällen verharmlost und heroisiert werde.

Wie Virgiliu-Leon Ţârău berichtete, wurde in Rumänien im Jahr 2000 eine Behörde gegründet, die den Zugang zu Securitate-Akten ermöglicht. Diese habe aber erst seit 2005 in größerem Umfang Akten erhalten. Die Archive der Securitate unterscheiden sich in mehrerer Hinsicht von den Geheimpolizeiarchiven anderer mittel- und osteuropäischer Staaten. So seien viele Informationen über die Arbeit der Securitate nicht zu bekommen, weil Akten über abgeschlossene Fälle oftmals gar nicht archiviert worden seien. Auch wurde in den 1970er-Jahren das Archivierungssystem so verändert, dass die Identität von Inoffiziellen Mitarbeitern oft nicht mehr nachzuvollziehen sei.

Die Situation in Ungarn macht deutlich, wie schwierig es ist, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von politischen Prozessen der Gegenwart zu trennen. KRISZTIÁN UNGVARY (Budapest) beklagte, dass der ungarische Umgang mit den geöffneten Akten von einer gesellschaftlichen Unreife zeuge. An die Stelle reflektierter Aufarbeitung trete vielfach Sensationsgier.

Von den betrachteten Ländern geht Polen laut KRZYSZTOF PERSAK (Warschau) mit der Öffnung der Geheimpolizeiakten am weitesten. Das Institut für Nationales Gedenken gewähre nicht nur Betroffenen, sondern auch ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern sowie Vertretern von Wissenschaft und Medien Einblick in die Archive. Ein spezielles Lustrationsbüro überprüfe den Wahrheitsgehalt der Erklärungen von Amtsträgern und Personen über ihre Rolle im Kommunismus, wenn sie für öffentliche Ämter kandidieren. Eine andere Abteilung des Instituts führe strafrechtliche Verfahren durch und sei in dieser Funktion gleichzeitig ein Bereich des Büros des polnischen Generalsstaatsanwalts. Doch auch in Polen bestünden Zweifel bezüglich der Vollständigkeit der Akten, da vermutet werde, dass unmittelbar nach dem Umbruch Akten vernichtet worden sind.

Ein Ziel der Konferenz war es, die europäische und zwischenstaatliche Dimension der Fragestellung zu verdeutlichen. Diese ergibt sich schon daraus, dass sich ein großer Teil der Geheimpolizeiakten der sozialistischen Föderationen in den ehemaligen Föderationszentren Moskau und Belgrad befinden. Aus diesem Umstand ergibt sich die Frage nach der Übergabe von Archivbeständen aus Moskau und Belgrad in die nun unabhängigen Gliedstaaten. VALTERS NOLLENDORFS (Riga) wies darauf hin, dass die Aufarbeitung der Aktivitäten der Geheimpolizei in Lettland dadurch behindert werde, dass sich der größte Teil der Akten vermutlich in Moskau befinde. Auch in Moldau, wo die Aufarbeitung der Vergangenheit laut IGOR CASU (Chişinău) erst seit zwei Jahren intensiv stattfindet, wird dieser Prozess dadurch erschwert, dass sich ein großer Teil der Akten nicht im Land, sondern in Moskau oder Omsk befinden soll.

MATTHIAS UHL (Moskau) zeigte sich unzufrieden sowohl mit den Möglichkeiten des Zugangs als auch mit der Bereitschaft zu Austausch und Weitergabe russischer Geheimdienstakten. So sei die Akteneinsicht für Privatpersonen in Russland alles andere als einfach. Auch wenn immer wieder Akten freigegeben würden, sei ein bedeutender Teil noch immer als geheim eingestuft. Das Auffinden der freigegebenen Akten werde dadurch erschwert, dass sie oft über mehrere Archive verteilt seien und es keine Hilfe für das Auffinden der Akten gebe. Ähnlich widerwillig wie bei der Öffnung der Akten für russische Bürger zeigten sich die Moskauer Archive bei der Übergabe von Akten oder Archivbeständen an das Ausland. So sei es zwar schon häufiger zu der Übergabe einzelner Dokumente an westeuropäische Staaten gekommen, aber eine Überführung von Archivbeständen in eine ehemalige Sowjetrepublik habe noch nie stattgefunden. Solange das Interesse der russischen Gesellschaft und politischen Elite an einer Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit so gering sei wie jetzt, glaubt Uhl nicht, dass sich die Situation in den nächsten Jahren ändern könne.

In Serbien werde bei der Einsicht von Geheimpolizeiakten grundsätzlich nicht zwischen Bürgern Serbiens und Bürgern anderer Staaten unterschieden, so ALEKSANDAR RESANOVIC (Belgrad). Die Einsicht der Akten sei in Serbien für Personen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft mühsam, weil das Nationalarchiv, in dem sich ein großer Teil der Akten befindet, keine rechtliche Grundlage für die Offenlegung habe und Anfragen auf Akteneinsicht von Privatpersonen im Regelfall ablehne. Ein großer Teil der die Bewohner der ehemaligen Teilrepubliken betreffenden Akten sei jedoch schon seit den 1970er-Jahren nicht mehr zentral in Belgrad gelagert worden. ANDREJA VALIČ (Ljubljana) beklagte, dass dem slowenischen Wunsch der Herausgabe einiger Aktenbestände in Belgrad keine Folge geleistet worden sei. Die Diskussion hat gezeigt, dass weder zwischen den ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens noch zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken zwischenstaatliche Lösungen über den Umgang mit Archivbeständen von Geheimpolizeien gefunden werden konnten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Referent/innen aus Mittel- und Osteuropa die Meinung teilten, dass eine Öffnung der Geheimpolizeiakten für eine Bewältigung der autoritären Vergangenheit nötig ist. So beklagte Nollendorfs, dass in Lettland keine Öffnung der operativen KGB-Akten stattgefunden habe. Dies führe zu gegenseitigen Verdächtigungen und einer allgemeinen Stimmung von Misstrauen in der Gesellschaft. Ungvary betonte, dass die Archive der Geheimpolizei nicht nur Auskunft über Mitarbeiter und Betroffene des Überwachungsapparats geben, sondern gegebenenfalls auch Handlungen außerordentlicher Zivilcourage dokumentieren. Der ständige Wechsel der Agenten und Mitarbeiter sei ein Hinweis darauf, dass viele Menschen ihre Tätigkeit bei der Geheimpolizei auch wieder beendeten. Daneben enthalten die Archive auch Zeugnisse derer, die ihre Mitarbeit verweigerten, selbst wenn dies gefährliche Konsequenzen haben konnte.

Dass die Möglichkeit des Zugangs zu Geheimpolizeiakten für eine erfolgreiche gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit nicht überall als notwendig oder wünschenswert beim Prozess der gesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigung empfunden wird, wurde in der Abschlussdiskussion deutlich. So zeigte sich auf der einen Seite JOSÉ M. FARALDO (Madrid) bestürzt darüber, wie beschränkt der Zugang zu den Akten der Geheimpolizei in Spanien noch heute ist. Auf der anderen Seite verteidigte PETROS MARKARIS (Athen) die griechische Entscheidung, sämtliche Akten der Geheimpolizei zu zerstören. Es sei ein breiter gesellschaftlicher Wunsch vorhanden gewesen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, um Familien und Dorfgemeinschaften nicht auseinanderzureißen. Er betonte, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Weg des Umgangs mit der Vergangenheit finden müsse.

„Die Vergangenheit wird mit jedem Tag komplizierter.“ Dies stellte GYÖRGY DALOS (Berlin) fest und brachte so einen Gedanken zum Ausdruck, den viele Konferenzteilnehmer zu teilen schienen. Die Aufarbeitung und Bewältigung einer schwierigen Vergangenheit brauche Zeit und sei vielleicht niemals wirklich abgeschlossen. So sei auch die Art der Fragen, die gestellt werden, von Generation zu Generation verschieden und wirklich gute Bücher über die Französische Revolution seien laut ALFRED EICHHORN (Berlin) auch erst nach 40 Jahren verfasst worden. Die Konferenz machte deutlich, dass ein zwischenstaatlicher Austausch über den Umgang mit einem schweren historischen Erbe für alle Seiten gewinnbringend sein kann und dass das Potenzial für Ideenaustausch, Koordination und Kooperation noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Matthias Petschke (Vertetung der Europäischen Kommission in Deutschland, Berlin)
Rita Süssmuth (Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde; Bundestagspräsidentin a. D., Berlin)
Anneli Ute Gabanyi (Südosteuropa-Gesellschaft, Berlin)

Roland Jahn (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin): Einführung: Wissen, was war. Die Nutzung der Stasi-Akten

Panel 1: Aufarbeitung ohne Akten? Das Erbe der Geheimpolizeien und seine gesellschaftliche Bedeutung
Moderation: Bernd Florath (Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes des ehemaligen DDR, Berlin)

Mariya Dermendzhieva (NRO Spraviedlivost, Sofia)
Valters Nollendorfs (Lettisches Okkupationsmuseum, Riga)
Krisztián Ungvary (Institut für die Geschichte der ungarischen Revolution von 1965, Budapest)

Panel 2: Recht und Gesetz. Institutionelle und politische Rahmenbedingungen im Vergleich
Moderation: Anneli Ute Gabanyi (Osteuropa-Gesellschaft, Berlin)

Krzysztof Persak (Institut für Nationales Gedenken, Warschau)
Virgiliu-Leon Ţârău (Nationalrat für das Studium der Securitate-Archive, Bukarest)
Yevgeniy Zakharov (Vereinigung zum Schutz der Menschenrechte, Char’kiv)

Panel 3: Zentrum und Peripherie. Geheimdienstunterlagen ehemaliger Föderationsstaaten
Moderation: Gabriele Freitag (Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin)

Igor Casu (Kommission für das Studium des totalitären kommunistischen Regimes, Chişinău)
Matthias Uhl (Deutsches Historisches Institut, Moskau)
Aleksandar Resanovic (Vize-Kommissar für Öffentliche Information und Datenschutz, Belgrad)
Andreja Valič (Forschungsinstitut für nationale Versöhnung, Ljubljana)

Panel 4: Impulse aus Osteuropa? Über den Umgang mit den Diktaturen in Ost und West
Moderation: Alfred Eichhorn (Journalist, Berlin)

José M. Faraldo (Abteilung für Zeitgeschichte, Universität Madrid)
Petros Markaris (Schriftsteller, Athen)
György Dalos (Schriftsteller, Berlin)