Herrschaft und Alltag in der nationalsozialistischen Großstadt

Herrschaft und Alltag in der nationalsozialistischen Großstadt

Organisatoren
Institut für Geschichte der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg
Ort
Magdeburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.11.2003 - 12.11.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Petra Behrens und Steffi Kaltenborn

Am 11. und 12. November 2003 veranstaltete das Institut für Geschichte der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg eine Tagung, in deren Zentrum neben der Täterforschung am Beispiel städtischer Verwaltungen vor allem Fragen von Herrschaft und Alltag sowie die Inszenierung von Alltag im Nationalsozialismus standen. Dabei sollte wie der Tagungsleiter Detlef Schmiechen-Ackermann (Magdeburg) eingangs verdeutlichte das ambivalente Verhältnis des Nationalsozialismus zum Phänomen Großstadt näher beleuchtet werden. Aus diesem Grund sei es notwendig, das Blickfeld der Forschung zur nationalsozialistischen Diktatur auf lokale und regionale Studien zu lenken.

Der erste Teil der Tagung widmete sich am Beispiel dreier Großstädte den Spitzen der städtischen Verwaltungen in der NS-Zeit. Maik Hattenhorst (Magdeburg) präsentierte erste Ergebnisse einer Pilotstudie zur nationalsozialistischen "Machtübernahme" in der bis 1933 sozialdemokratisch regierten Stadt Magdeburg. Charakteristisch waren hier ein schneller und umfassender Wechsel des kommunalpolitischen Spitzenpersonals, meist ohne Rücksicht auf die fehlende fachliche Qualifikation der neuen Amtsinhaber, ein zunehmender parteipolitischer Einfluss auf personalpolitische Entscheidungen sowie ein nur selten vollständiger Mitarbeiterstab, wodurch die Spitze der städtischen Verwaltung an Funktionsfähigkeit einbüßte.

Auf einen ähnlich konsequenten Personalaustausch verwies Sabine Mecking (Münster) für die bis 1933 von der Zentrumspartei dominierte westfälische Verwaltungsmetropole Münster. Im Unterschied zu anderen Städten erfolgte dieser jedoch weniger überhastet und unkontrolliert. Politisch motivierte Eingriffe in den Behördenapparat konzentrierten sich zudem auf leitende Positionen. Der für den Fall Magdeburgs festgestellte Mangel an fachlicher Qualifikation traf auch für den Oberbürgermeister und die Mehrheit der Stadträte in Münster zu. Anhand eines gruppenbiografischen Porträts wies Mecking nach, dass der Wegfall formaler Zugangsvoraussetzungen zugunsten politischer Kriterien zum Aufstieg unterer und mittlerer Schichten in den höheren Verwaltungsdienst und somit zu einer Durchbrechung sozialer Positionen führte.

Uwe Lohalm (Hamburg) widmete sich in seinem Vortrag dem Personal des öffentlichen Dienstes in der Hansestadt Hamburg. Er verwies auf einen rigiden Personalabbau zwischen 1933 und 1944, der nur zu einem geringen Teil auf Entlassungen aus politischen und rassistischen Gründen zurückzuführen war. Der Kernbestand des öffentlichen Dienstes blieb unangetastet und funktionierte bis in die letzten Kriegstage unter widerspruchsloser Hinnahme der politischen Säuberungen in förmlicher "treuer" Pflichterfüllung. So war das Bewusstsein der Mitarbeiter davon geprägt, "kompetent, redlich und losgelöst von Politik" dem Amt nachzugehen.

Dieses warf in der Diskussion die Frage nach einem möglichen humanitären Restpotential bei den Beamten, die im demokratischen Staat ausgebildet worden waren, sowie nach dem Verhältnis von traditioneller Staatsloyalität und ideologischer Übereinstimmung bei der Umsetzung nationalsozialistischer Politik auf.

Die Folgen von Verwaltungshandeln an der gesellschaftlichen Basis wurden im zweiten Teil der Tagung erörtert. Rüdiger Fleiter (Hannover) erläuterte die Umsetzung der Erb- und Rassengesetzgebung im städtischen Gesundheitsamt Hannover. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stand unter anderem das überzeugte Mitwirken von Ärzten bei der Umsetzung der mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verordneten Zwangssterilisationen. Fleiter verwies darauf, dass in diesem Bereich offensichtlich kein Dualismus zwischen Partei- und Staatsbürokratie bestanden hat und das Handeln der Verwaltung Züge des "Maßnahmenstaates" trug.

Am Beispiel Münchens widmete sich Ulrike Haerendel (München) dem Thema der "Arisierung" von Immobilien und Wohnungen. Sie verwies u.a. auf die Stadt als Erwerber enteigneter Immobilien, auf das Bemühen der Münchener Stadtverwaltung um die "Arisierung" von Wohnraum im Zusammenhang mit städtebaulichen Projekten sowie den beschleunigten Abtransport der Münchener Juden in die Vernichtungslager, mit dem Ziel des Wohnraumgewinns nach Bombenangriffen.

Marlis Buchholz (Hannover) stellte in ihrem Beitrag das Verhältnis von Finanzverwaltung und Deportation auf der Basis von Erkenntnissen aus einem in Hannover durchgeführten Projekt dar. Sie verwies vor allem auf die Rolle der Finanzbürokratie als Täter und Nutznießer und erläuterte am Beispiel eines Sachbearbeiters in der Vermögensverwertungsstelle das alltägliche Geschäft der Finanzbehörden im Zusammenhang mit der Verfolgung der Juden.

Zwangsarbeit in den Kommunen wurde durch Annette Schäfer (Karlsruhe) thematisiert. Sie stellte fest, dass die ausgeprägt prekäre Personalsituation in allen kommunalen Betrieben - hervorgerufen durch die Konkurrenz der Rüstungsindustrie - die Bereitschaft der Kommunen zum vorbehaltlosen Einsatz aller zur Verfügung stehenden Gruppen von Zwangsarbeitern förderte. Sie leisteten mit ihrer Arbeit, die vorrangig dem Erhalt der städtischen Infrastruktur diente, einen erheblichen Beitrag zur Stabilisierung der so genannten "Heimatfront".

Lutz Miehe (Magdeburg) erläuterte die Verfolgung der Sinti und Roma als "unerwünschte Volksgenossen" in Magdeburg. Er verwies auf die Intensivierung der bereits in den 20er Jahren begonnenen Erfassung von Mitgliedern einzelner Gruppen durch die Polizei der Stadt seit 1933 und erläuterte den Prozess der Diskriminierung und Entrechtung sowie den Weg der Betroffenen über ein Lager am Rande Magdeburgs bis in die Vernichtungslager. Entsprechende Vorgaben wurden durch städtische Politik, Arbeitsamt und die Inhaber der Firmen, denen Sinti und Roma zugewiesen worden waren, widerspruchslos umgesetzt, wobei das Ineinandergreifen verschiedener Verwaltungsorgane reibungslos funktionierte und die Bevölkerung tatenlos zusah.

Im Rahmen der Diskussion zu beiden Tagungsteilen wurde nochmals bestätigt, dass Beamte nationalsozialistische Politik dann widerspruchslos umsetzten, wenn sie sich auf formale Verordnungen stützen konnten. Der Abbau des Rechtsstaates im formal legalen Gewand erfolgte demnach nicht ausschließlich durch fanatische Nazis in den Stadtverwaltungen, sondern durch das Funktionieren der einzelnen Beamten als "Rädchen im Getriebe". Im Bezug auf eugenische, antisemitische und antiziganistische Maßnahmen verbanden sich dabei häufig tradierte Stereotype mit pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen, die letztendlich zur Entrechtung, Verfolgung und Ermordung führten.

Die öffentliche Podiumsdiskussion widmete sich dem Thema: "Nationalsozialismus in der Region - Regionalismus im ‚Führerstaat'?" Detlef Schmiechen-Ackermann verdeutlichte, dass der Nationalsozialismus trotz des Herrschaftstypus einer zentralistischen Diktatur die Region und ihr Integrationspotential nicht ignorierte. Im Mittelpunkt der Diskussion sollten deshalb die Fragen nach dem Verhältnis von traditionellem Heimatbewusstsein und Nationalsozialismus, nach Konsequenzen aus der Art des "Regionbuilding" und "Nationbuilding" in Deutschland für den Nationalsozialismus sowie nach zentralistischen Tendenzen bei gleichzeitiger Integration über die Region stehen. Dieses wurde anhand der Gaue Thüringen, Sachsen und Magdeburg-Anhalt erläutert.

Jürgen John (Jena) wies auf die fehlenden Forschungsergebnisse hinsichtlich der Rolle der Gaue im NS-Staat hin, obwohl diese seit 1936 zunehmend und seit 1942 umfassend mit Kompetenzen ausgestattet wurden. Bisherige Untersuchungen beziehen sich lediglich auf die Gauleiter sowie auf die Zeit des Aufstiegs und der Durchsetzung des Nationalsozialismus. Trotzdem bestehe Konsens in der Grundfrage, dass das nationalsozialistische Deutschland keineswegs ausschließlich ein zentralistischer Führerstaat war, sondern wechselnde Spannungsverhältnisse zwischen Verreichlichung und Regionalisierung, zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung bestanden. Aufgabe der Forschung sei es demzufolge, die genaue Spezifik des NS-Regionalismus auf der wichtigsten regionalen Ebene, der Gaue zu untersuchen und zu einer vergleichenden Gauforschung zu gelangen.

Das Verhältnis von Regionalkultur und NS-Bewegung verdeutlichte Thomas Schaarschmidt (Leipzig) am Beispiel Sachsens. Er verwies auf ideologische Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Heimatbewegung sowie die Hoffnungen, die letztere nach 1933 in die neue Regierung setzten. Zu Konflikten kam es jedoch durch die Einbindung der um Autonomie bemühten Vereine in die zentralistischen Strukturen der NS-Kulturorganisationen sowie durch den Widerspruch zwischen regionalkulturellen Vorstellungen und der Konzeption einer einheitlichen Volksgemeinschaft. Ab 1936 versuchten sich die Gaue stärker in Szene zu setzen, was in Sachsen zur Gründung des Gauheimatwerkes und der Konstruktion eines Idealbildes des Gaus führte.

Mathias Tullner (Magdeburg) stellte die Spezifik des Gaus Magdeburg-Anhalt heraus. Hier standen sich die relativ späte Durchsetzung der Nationalsozialisten in der Stadt Magdeburg sowie die besondere Position Dessaus als Sitz der ersten nationalsozialistisch geführten Landesregierung gegenüber. Im Mittelpunkt der NS-Politik im Gau Magdeburg-Anhalt standen vor allem wirtschaftliche Fragen und der Ausbau des Gaus zum Rüstungszentrum. Hierbei wurde das Gebiet Halle-Merseburg als "Herz Deutschlands" bzw. "Wiege des Reiches" stilisiert und ein Mitteldeutscher Arbeiterkult geschaffen. Hingegen scheiterten Konzepte einer spezifischen regionalen Identität, wie die Schaffung eines Ostfalen-Bewusstseins, bereits frühzeitig.

In der Diskussion wurden Fragestellungen für die weitere Forschung, wie die nach der Rolle der Region als Ursprungsort, Ideenschmiede oder Experimentierfeld bei der Genese reichsweiter Politik, der Einbindung der Gaue in staatliche Instanzen oder der Einordnung des Nationalsozialismus in den allgemeinen Regionsbildungsprozess benannt.

Ausgewählte Aspekte von Herrschaft, Alltag und Verfolgung standen im Mittelpunkt des zweiten Konferenztages. Katrin Minner (Halle) stellte Ergebnisse ihrer Arbeit zu Ortsjubiläen in der NS-Zeit im heutigen Sachsen-Anhalt vor. Neben Kontinuitäten in der bürgerlichen Festkultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik warf Minner die Frage nach Wandel und Annäherung an nationalsozialistische Politik auf. Letztere wurde vor allem durch den Bedeutungsverlust bürgerlicher Gruppen bedingt. Ortsjubiläen der Jahre 1933 bis 1939 gestalteten sich nicht vordringlich als "Feste von oben", sondern integrierten den Nationalsozialismus in den Alltag der lokalen Gesellschaft.

Am Beispiel der Rostocker Kulturwochen der Jahre 1934 bis 1939 beleuchtete Lu Seegers (Hannover) städtische Kulturpolitik im Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt ihres Beitrages standen Fragen der Pflege und Popularisierung der Klassiker, der Integration der Heimatbewegung, Verweise auf städtische Traditionen im Sinne der Integration des Bürgertums und des Stadtleitbildes von Rostock im Dritten Reich. Seegers stellte fest, dass sich der Nationalsozialismus sowohl als "Bewahrer der Vergangenheit" als auch "Träger der Zukunft" präsentierte. Durch die Betonung der kulturellen Eigenständigkeit der Stadt, den Versuch, dem Konsens bürgerlicher Vorstellung z.B. hinsichtlich der Hanse und des Niederdeutschen zu entsprechen, und den Einsatz von Heimat- und Regionalbewusstsein in einer bis dahin nicht gekannten Form wurde eine Identifikation ermöglicht, die zur Stabilisierung der NS-Herrschaft beitrug.

Martina Steber (Augsburg) berichtete über Heimatpflege in Kempten auf dem Weg zur "Hauptstadt des Allgäu". Sie verwies auf den Versuch zur Hervorhebung des bäuerlichen Charakters der Stadt Kempten und des Allgäu. Durch die hohe Bedeutung, die der Heimatpflege in Kempten durch die Nationalsozialisten beigemessen wurde, gelang es völkisches und agrarromantisches Gedankengut in weite gesellschaftliche Kreise zu transportieren.

In einer kurzen Diskussion wurde u.a. auf starke Kontinuitätsbefunde in allen vorgestellten Beispielen und auf die Notwendigkeit vertiefender Forschungen im Zusammenhang mit der Milieuerosion verwiesen.

Frauen im Dritten Reich zwischen Familienidylle und Geburtenkrieg standen im Zentrum der Ausführungen von Ute Hoffmann (Bernburg). Sie verdeutlichte, dass NS-Politik nicht hätte erfolgreich sein können, wenn sie etwas völlig Neues, bis dahin Unbekanntes präsentiert hätte. So kam die Aufwertung der Stellung als Hausfrau und Mutter den Vorstellungen vieler Frauen entgegen. Hoffmann stellte heraus, dass es bis heute einfacher ist, Frauen in allen Lebenslagen als Opfer männlicher Politik zu betrachten, dass Frauen jedoch auch zu Täterinnen wurden. Eine häufig stattfindende Dämonisierung weiblicher Täterschaft ist dabei jedoch nicht angemessen, da es sich hier um "durchschnittliche Frauen" handelte.

Dennis Riffel (Berlin) stellte ein Projekt des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung vor, das sich der Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland widmet. Offensichtlich hatte ein regionaler Schwerpunkt in Berlin - der Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde - bestanden. Anhand bisher in der Datenbank gesammelter Einzelfälle erläuterte Riffel allgemeine Erkenntnisse über die Helfer und die Menschen, die ein Überleben im Untergrund versuchten.

In einer abschließenden Diskussion sollten noch einmal Perspektiven einer modernen Stadtgeschichte der NS-Zeit aufgezeigt werden. Detlef Schmiechen-Ackermann und Sabine Mecking verwiesen auf vorangegangene Tagungen in Hannover und Augsburg, die nicht nur einzelne Beispiele sammelten, sondern übergeordnete Fragestellungen aufwarfen. Vor allem wurde die Notwendigkeit betont, bestimmte Städtetypen zu kennzeichnen und für eine stärker komparatistische Perspektive plädiert. Hierbei könnten Fragen der Konfession, sozioökonomischer Faktoren und des Bedeutungszuwachses bzw. -verlustes von Städten im Nationalsozialismus als Leitfaden dienen. Verwaltungshandeln und (inszenierter) Alltag sollten dabei im Zusammenhang betrachtet werden. In dieser Hinsicht kann die Tagung als ein erster Schritt gesehen werden.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts