Forschungsstand und Perspektiven der deutschen Mediävistik

Forschungsstand und Perspektiven der deutschen Mediävistik

Organisatoren
Istituto Storico Italiano per il Medioevo; Deutsches Historisches Institut in Rom
Ort
Rom
Land
Italy
Vom - Bis
19.02.2004 - 20.02.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Jochen Johrendt, München/Rom

Die erste gemeinsam vom Istituto Storico Italiano per il Medioevo und dem Deutschen Historischen Institut in Rom veranstaltete Tagung veranschaulichte Forschungsstand und Perspektiven der deutschen Mediävistik an beispielhaften Themenfeldern wie der Ordensforschung, dem ‚performative turn', der Geschichte politischer Ordnungen, Adel im spätmittelalterlichen Reich, der Sozialgeschichte und den neueren Entwicklungen bei der Erschließung von Quellen.

Massimo Miglio (Rom) skizzierte in seinen einleitenden Bemerkungen die lange Zusammenarbeit zwischen der italienischen und deutschen Mediävistik, namentlich am Beispiel des Istituto Storico Italiano per il Medioevo und den Monumenta Germaniae Historica sowie dem zunächst Preußischen, dann Deutschen Historischen Institut in Rom. Die Koordination von Editionsprojekten begann bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die jüngste Frucht dieser Zusammenarbeit ist das 2002 erschienene Registro della cancelleria di Federico II del 1239-1240. Diese Form der Zusammenarbeit soll in jedem Fall fortgesetzt werden, doch mahnte Miglio zugleich an, daß es notwendig sei, neue Formen der Kooperation zu entwickeln, die über einen gegenseitigen Informationsaustausch hinausgehen.

In seiner Einleitung umriß Michael Matheus (Rom) die Ziele und die unterschiedlichen Perspektiven der Tagung, indem er den Bogen von Rom als internationalem Forschungszentrum bis hin zur partiell national ausgerichteten Mediävistik schlug. Dabei verdeutlichte er die unterschiedlichen Forschungstraditionen und inneren Strukturen des Faches am Beispiel des Epochenbegriffs und verband damit die Frage nach der Brauchbarkeit und Sinnhaftigkeit einer Epochengrenze um 1500 für eine europäisch ausgerichtete und vergleichende Geschichtswissenschaft. Während in der deutschen Mediävistik und auch von seiten der frühneuzeitlichen Forschung immer stärker die Reformation als das einschneidende Ereignis dargestellt wird und selten Themen behandelt werden, die den Einschnitt um 1500 überlagern, gilt dies für die italienische Mediävistik nicht. Die Epochenbezeichnungen basso und tardo medioevo sind eher unscharf, und die am Paradigma der Konfessionalisierung ausgerichtete Konturierung scheint im katholisch gebliebenen Italien nur von mäßigem Nutzen zu sein. Umgekehrt findet die Humanismus- und Renaissanceforschung in Deutschland aufgrund der Epocheneinteilungen weniger Beachtung. Je stärker die Reformation als Konstituens der Frühneuzeitforschung herangezogen wurde, desto mehr geriet die Renaissance als Forschungsgegenstand ins Abseits. Aus diesem Grund findet die Diskussion über den Zusammenhang von Renaissance und Reformation meist außerhalb der geschichtswissenschaftlichen Disziplin im engeren Sinne statt.

Die Perspektiven der mittelalterlichen Ordensforschung im deutschsprachigen Raum wurden von Gert Melville (Dresden) thematisiert. Im Unterschied zur Verfassungsgeschichte kam der Erforschung der vita religiosa in Deutschland nie die Rolle einer Leitforschung zu. Als wesentliche Neuanstöße verwies Melville exemplarisch auf Arbeiten von Tellenbach und seiner Schule, Herbert Grundmann, Stefan Weinfurter und anderen. Trotz dieser beeindruckenden Aktivitäten, die sich auch in Unternehmen wie dem Corpus consuetudinum monasticarum, der Germania Benedictina, der Germania Sacra und Einrichtungen wie dem Institut für franziskanische Geschichte ablesen lassen, ist im Hinblick auf die Betrachtung der mittelalterlichen vita religiosa als einer spezifischen Kristallisationsform des gesellschaftlichen, kirchlichen und kulturellen Lebens eine bemerkenswerte Forschungslücke zu konstatieren. Nach diesen die Forschungsgenese erläuternden Ausführungen widmete sich Melville einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Dresdner Sonderforschungsbereich 537 "Institutionalität und Geschichtlichkeit", der die institutionellen Strukturen von sozialen Formationen näher beleuchtet. Dort werden institutionsanalytische Theorie einerseits und konkrete historische Untersuchung der vita religiosa andererseits miteinander verbunden. Grundvoraussetzungen sind dabei, daß es sich um vergleichende Ordensgeschichte handelt und der Begriff der Institution nicht auf ein organisationsgeschichtliches Phänomen reduziert wird, sondern ebenso die Entwicklung von Leitideen, Wert- und Normsystemen sowie die gesellschaftliche Funktion der religiösen Orden umfaßt. Die Untersuchung der Wechselwirkung von ideellem und praktischem Lebensvollzug in institutionellen Zusammenhängen ist gerade für die Ordensforschung ein besonders fruchtbarer Ansatz. Keine andere Lebensform strebt ähnlich stringent eine totale Institutionalisierung an wie die vita religiosa, beispielsweise durch den Katalog der Tugenden sowie detaillierte und präzise Organisation fast aller Lebensbereiche.

Gerd Althoff (Münster) rückte die Verfassungsgeschichte des Reiches in den Mittelpunkt seines Vortrages Die deutsche Mittelalterforschung und der performative turn. Dabei sah er die Veränderungen in der deutschen Mediävistik weg von der Darstellung der hochmittelalterlichen Kaiserherrlichkeit nicht ursächlich durch die sog. kulturalistische Wende oder den performative turn bedingt, sondern auch durch die Anregungen der oral history und Ethnologie, die die starke Fixierung der Forschung auf den Staat in Frage stellten. Die Fokussierung auf Netzwerke und Gruppenbildungen führte wie die Betonung der Konsensualität als Grundlage hochmittelalterlicher Herrschaft zu einer Abwendung von der herrscherlichen Zentrale, die das Zentrum des bisherigen Interesses bildete. In den so abgesteckten Rahmen stellte Althoff seine Darstellungen zur Analyse von "Aushandlungsprozessen" und "rituellen Verhaltensmustern", die er als Spielregeln der Politik deutete. In diesem Bereich konstatierte er einen regen Austausch mit der außerdeutschen Mediävistik, namentlich der amerikanischen. Hinter dem sog. performative turn stehe die Annahme, "daß Phänomene der sozialen Wirklichkeit durch symbolisches Handeln nicht nur abgebildet, sondern überhaupt erst hervorgebracht werden." Aus dieser Perspektive läßt die Analyse ritueller Handlungen der Herrscher Königsherrschaft in weiten Bereichen in einem anderen Licht erscheinen, was er an einigen Beispielen ausführte: Die traditionelle Sichtweise der Ottonen- und frühen Salierzeit als der Epoche des machtvollen Kaisertums, das durch Adel, Papst und Kirche zu Grabe getragen worden sei, wurde durch diesen Ansatz mehrfach hinterfragt und korrigiert. Dies demonstrierte Althoff am Beispiel des herrscherlichen Handelns vor dem sog. Investiturstreit, das wesentlich stärker durch die öffentliche Demonstration der königlichen humilitas und clementia geprägt war, während mit Heinrich III. dann die clementia immer mehr durch den rigor iustitiae verdrängt wurde.

Bernd Schneidmüller (Heidelberg) bot in seinem Referat Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter einen chronologisch gestalteten Aufriß der deutschen Verfassungsgeschichte, der mit dem monumentalen Werk von Georg Waitz begann und bis in die Gegenwart reichte. Dabei verdeutlichte er immer wieder die jeweilige Zeitgebundenheit der unterschiedlichen Ansätze und Ergebnisse. Vor dem Hintergrund einer bis 1871 noch nicht eingetretenen staatlichen Einheit hatten Historiker und Philologen die Nation "bis in germanische Urzeiten zurückverlängert und damit enthistorisiert." Knapp skizzierte Schneidmüller den verfassungsgeschichtlichen Ansatz während der nationalsozialistischen Zeit, der Verfassung als "Ordnung" mit Bezug auf ganz Europa verstand. Nach 1945 erfolgte eine Konzentration auf die Region. Auch hier thematisierte er die enge Verknüpfung von tagespolitischen Ereignissen und scheinbar objektivem, nach abschließender Sicherheit strebendem Forschungsinteresse, etwa im Hinblick auf die Einheit der Nation. Dabei konzentrierte Schneidmüller sich auf den Konstanzer Arbeitskreis. Das Schwerpunktprogramm zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter ließ schließlich die Zweifel an tradierten Annahmen wie der germanischen Treue und der unreflektierten Staatlichkeit der Germanen zur Gewißheit werden, zu der František Graus maßgeblich beitrug. Die jetzigen Wege der deutschen Verfassungsgeschichte beschrieb Schneidmüller als eine verstärkte Hinwendung der deutschen Forschung zum europäischen Vergleich, verbunden mit der Einsicht in die mangelnde Dauerhaftigkeit von Formen und Faktizität der Dinge.

Andreas Ranft (Halle/Saale) skizzierte in seinem Referat über Adel, Höfe, Residenzen im spätmittelalterlichen Reich die neuere Entwicklung der vergleichenden Adelsforschung im nordalpinen Raum. Ausgangspunkt seiner Darstellung waren die Untersuchungen Werner Paravicinis aus den 1980er Jahren zu den Preußenreisen des europäischen Adels. Daran verdeutlichte er die Selbstidentifikation des Adels durch ähnliche Verhaltensmuster, die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts zunehmend von Bestrebungen zur Durchsetzung einer sozialen Exklusivität geprägt waren (Adelsnachweis/Ahnenprobe und Turnierpraxis der Vorfahren). In diesem Zusammenhang beleuchtete er die Bedeutung der Feste, die nicht nur die Funktion einer Demonstration der Herrschaftsbefähigung darstellten, sondern durch den Ausschluß der bürgerlichen Welt zunehmend auch herrschaftslegitimierend wirken sollten. Für den Adel, der sich auf die neue Form der Konzentration fürstlicher Herrschaft ausrichtete, war der Hof der Raum, in dem ihm die Partizipation gelang. In diesem Zusammenhang kamen unter anderem Hoforden zur Sprache, die der Loyalitätsbindung des Adels an den Fürsten dienten. Die Untersuchung der Residenzen entlang des Modells des Göttinger Pfalzenforschungsprojektes hat sich "als durchaus produktiver Irrweg erwiesen." Hof und Residenz sind nicht in eins zu setzen, da die Residenz "lediglich Gehäuse" war und der Hof "durchaus in Bewegung" bleiben konnte. Abschließend skizzierte Ranft in lockerem Zusammenhang weitere Untersuchungsfelder seines Referatthemas. So haben Studien über Zeremoniell und Raum gezeigt, "daß die Herrschaftsinszenierungen keineswegs dem bislang angenommenen Axiom einer größtmöglichen Prachtdemonstration unterliegen." Neuere Studien ließen deutlich werden, daß der Herrscherhof mit dem Beginn der Territorialisierung für den Hochadel zunehmend unattraktiv und die Fürsten und Kurfürsten erst unter Friedrich III. und besonders unter Maximilian wieder in das höfische Zeremoniell eingebunden wurden. Für das Selbstverständnis des Adels spielte offenbar das fürstliche Haus eine enorme Rolle. "Beide, Haus und fürstlicher Bauherr, gehören offensichtlich untrennbar zusammen." Diese Tendenz führte zu dem Bedürfnis jeder neuen Generation, sich baulich darzustellen, was Ranft am Beispiel des Schlosses Zerbst verdeutlichte. Im Innenhof dieser ehemals slavischen Wasserburg standen bis 1681 sechs verschiedene fürstliche Häuser aus vier Jahrhunderten.

Die Sozialgeschichte wurde von Knut Schulz (Berlin) thematisiert, deren Erträge der letzten zwanzig Jahre er an den drei Gebieten der Grundherrschaft, der Migration sowie des Handwerks und der Zünfte beispielhaft demonstrierte. Generell beklagte er die schwindenden rechtshistorischen Kenntnisse innerhalb dieser Forschungsrichtung, ohne die seiner Meinung nach Sozialgeschichte nicht möglich ist. So ist die zu starke Unterscheidung zwischen Grundherrschaft und Stadt im Lichte der neueren Forschung eher zu relativieren, wie das Wormser Hofrechts beispielhaft verdeutlicht. Gerade an normativen Quellen sind rechtlich gefaßte soziale Entwicklungen zu erkennen. Im Zentrum der neueren Forschungen stehen momentan die Untersuchungen zur familia, die maßgeblich durch Karl Bosl seit den 60er Jahren angestoßen wurden. Als Früchte dieser Ansätze nannte er unter anderem das Institut für vergleichende Städteforschung und Publikationen wie die Trierer Historischen Forschungen und die Tagungsberichte des Konstanzer Arbeitskreises. Die Ausführungen zur berufsorientierten Migration unterteilte Schulz in drei Abschnitte. Der erste war den Universitätsbesuchern gewidmet. Die Migrationsbewegungen deutscher Studierender nach Italien ließen durch die Gründung von Universitäten im regnum teutonicum stark nach. Die Mehrzahl der Immatrikulierten stammte dann aus der Stadt der Universität, bzw. aus deren direktem Umfeld, und besuchte in der Regel lediglich eine Universität. Schulz' zweiter Abschnitt behandelte die Handwerksgesellen, die besonders seit den 80er Jahren im Hinblick auf die Gesellenorganisation Gegenstand der Forschung sind, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer hohen quantitativen Bedeutung für die Städte: Teilweise stellten sie 25 bis 30 % der arbeitenden Bevölkerung. Zentrale Fragestellungen sind ferner die Motive und Bedingungen der Migration, Abgrenzung, Identitätsbildung sowie Migrationserfahrungen der Handwerksgesellen, wobei in den letzen Jahren besonders das Thema des Fremden fokussiert wird. Im seinem dritten Abschnitt stellte Schulz die Forschungen zu den Neubürgern vor. Hier sind vor allem die Arbeiten von Rainer Christoph Schwinges hervorzuheben, der sich anhand von 228 Bürgerbüchern und 28 Bürgerlisten in einem Zeitraum von 1250 bis 1550 mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hat. Abschließend thematisierte Schulz Handwerk und Zünfte. Die Forschungen von Maschke untersuchten Charakter und Funktion der politischen Zunft, ihren Einfluß und die Partizipationsmöglichkeiten. Neuere Forschungsergebnisse haben deutlich gemacht, daß die klassische Unterscheidung von Kaufleuten und Zünften nach ihrer unterschiedlichen Erwerbstätigkeit nicht mehr trägt, da auch die Zünfte auf großen Messen präsent waren, um neue Moden, Preise u.a. zu vergleichen. Insgesamt müsse man jedoch feststellen, daß im Bereich der Erforschung von Zünften und Handwerk neue entscheidende Stimuli fehlen.

Den Abschluß der Tagung bildete ein öffentlicher Vortrag von Rudolf Schieffer (München): Die Erschließung der Quellen: Alte Probleme und neue Entwicklungen. Er verdeutlichte den heute immer stärker werdenden Legitimationszwang für neuere Editionen und fragte zugleich kritisch: "Sind wir, ungewollt zumindest, auf dem Weg zu einer historischen Mediävistik, die Quellen bloß noch aus gedruckten Büchern (bzw. deren elektronischen Derivaten) kennt und für ihre Debatten hinreichende Stimulanz in der aus den immer gleichen Quellen geschöpften Literatur zu finden glaubt?" Insgesamt läuft die mediävistische Zunft zunehmend Gefahr, daß die kritische Aufbereitung eines Quellenbestandes immer mehr zu einer Sache hochgradiger Spezialisten wird, die am Rande und nicht im Zentrum der Fachwelt stehen. Wozu diese Tendenzen führen, sieht man an Fälschungsverdikten, die teilweise mit einer "ziemlich irritierenden Leichtfertigkeit" gefällt werden. Dies ist sicherlich auch durch einen deutlichen Rückgang der hilfswissenschaftlichen Ausbildung bedingt. Die Notwendigkeit und heilsame Wirkung eines innerfachlichen Disputs steht außer Frage, doch die immer deutlicher zutage tretenden Tendenzen in der deutschen Forschungspolitik, langfristig angelegte geisteswissenschaftliche Grundlagenforschungen nicht weiter zu fördern, bedroht die fundierte Bearbeitung größerer Quellenkorpora ebenso wie die Erstellung von Wörterbüchern, Sachlexika oder Bestandsverzeichnissen. Im Hinblick auf die zunehmende Zahl von Editionen, die z. T. ausschließlich im Internet publiziert werden, warf Schieffer die Frage nach der Koordination derartiger Angebote auf, da diese dann nicht mehr wie beim Buchdruck durch eine Institution publiziert werden, die einen gewissen Mindeststandard garantiert. Die Bedeutung der Editionsarbeit für die Geschichtswissenschaft bleibt jedoch unabhängig vom Medium, in dem ihre Erträge zur Verfügung gestellt werden, ungeschmälert, und das Edieren selbst stellt nach wie vor "eine permanente Herausforderung zur Verbreiterung, Festigung und Durchdringung des Fundamentes dar, auf dem alle historische Arbeit aufruht."

[Dieser Text wird auch als AHF-Information veröffentlicht.]