Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft von ca. 500 - 1000

Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft von ca. 500 - 1000

Organisatoren
Prof. Dr. Brigitte Kasten, Universität des Saarlandes
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.02.2004 - 15.02.2004
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Von
Gesine Jordan, Universität Bielefeld/Saarbrücken

"Spoleto 1966, Xanten 1980, Gent 1983, Göttingen 1987, Flaran 1988." 1 So griffig konnte Ludolf Kuchenbuch in seiner einschlägigen Einführung von 1991 den Gang der neueren, belgisch-deutsch-internationalen Forschung zur Grundherrschaft im früheren Mittelalter zusammenfassen. Eine Kette von wissenschaftlichen Arbeitstreffen steht für die Leistung einer Forschergeneration, die in den 80er Jahren der modernen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vor allem der Karolingerzeit das tragende Gerüst gegeben hat, indem sie Licht in das Gewirr von Namen, Zahlen und Abgaben der Güterverzeichnisse brachte.

Unter der Leitung von Brigitte Kasten hat sich nun im Februar 2004 in Bremen noch einmal dieselbe Forschergeneration versammeln lassen. Natürlich muss sich eine anlässlich der Emeritierung von Dieter Hägermann veranstaltete Tagung ganz besonders an der Elle der legendären früheren Treffen messen lassen: hat die Grundherrschaftsforschung noch einmal große Schritte gemacht (oder doch viele kleine) und gingen sie nach vorn? Wenn eine erfolgreiche Forschergeneration einen Abschied feiert, birgt das seine Gefahren - vor allem die einer allzu satten Zufriedenheit. Ist es also der Bremer Tagung gelungen, Bewegung in den Köpfen zu halten, konnte und durfte man sich dort noch streiten, statt sich nur schon Jahrzehnte währender Einigkeiten zu versichern? Gab es nur Rückschau auf oder auch Weiterbau an einem riesigen Werk, und erschienen die Riesen, die sich hier noch einmal trafen, als solche, auf deren Schultern zu steigen sich für die Zwerge wohl lohnte? Es sei vorab gesagt: Aber ja.

Zu den sicher erinnernswertesten Leistungen desjenigen Forschers, den die Bremer Tagung ehren sollte, gehört die Unverfrorenheit, mit der dieser in den 80er Jahren ein kleines Bataillon von Schülern auf die Edition und die minutiöse Untersuchung der frühmittelalterlichen Urbare angesetzt hatte (Prüm, Weißenburg, Montierender, Fulda, Saint-Maur-de-Fossés, Saint-Amand-les-Eaux, Saint-Germain-des-Prés). Jeder dieser singulären und singulär überlieferten Texte des 9. Jahrhunderts hatte seine Gralswächter in den Archiven und Institutionen vor Ort, die sich über die editorische Anmaßung der vermeintlich hergelaufenen Bremer Doktoranden entsetzten. Die Beharrlichkeit, mit der Hägermann forschungspolitische, nationale und landesgeschichtliche Quellenclaims ignorierte, zeitigte schließlich eine kleine Perlenschnur von beispielhaften Editionen und grundlegenden Studien seiner Schüler, ohne die die neuere Grundherrschaftsforschung gar nicht möglich gewesen wäre.
Von einer Herausforderung der Mediävistik durch die Kulturwissenschaft ahnte bei dieser Autopsie der Polyptycha allerdings noch niemand etwas, und so ist der Titel der Bremer Tagung: "Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft von ca. 500 - 1000" auch als letztendliche Annahme dieser Herausforderung zu lesen. Der Mensch, nicht die Institution sollte auf dem von Brigitte Kasten als Vertreterin einer jüngeren Generation konzipierten Treffen im Mittelpunkt stehen.

Den Brückenschlag zwischen klassischem Forschungsfeld und moderner Mediävistik sollten Referate aus drei Bereichen gewährleisten: zum einen eine Handvoll von Vorträgen, die bei eher kulturgeschichtlicher Anlage der Fragestellung mehr oder weniger gut an den Themenbereich des ‚ländlichen Menschen' angebunden waren, zweitens eine große Gruppe von Beiträgen zu offenen oder kontroversen Fragen der Grundherrschaft, und drittens die ganz und gar interdisziplinäre, nämlich Archäologie und Geschichte verbindende Sektion ‚Der Mensch und sein Werkzeug'.

Unter den zur ersteren Gruppe gehörenden Vorträgen überzeugte besonders der von Alain Dierkens (Brüssel) über die Frage des im 9. Jh. beschränkten Zugangs von Frauen zu Kloster-, Pilger- und vor allem Begräbniskirchen. Gegen eine These von Julia Smith macht Dierkens ein misogynes Moment in diesem Vorgang aus.
Des Problems der schwer greifbaren bäuerlichen Frömmigkeit, der ländlichen religiösen Praktiken nahmen sich Cordula Nolte (Greifswald) für das Gallien Gregors von Tours und Heinrich Schmidt (Oldenburg) für den Bereich des spät und auf dem platten Lande nur schleppend christianisierten Sachsen und Friesland an. Die lebhafte Diskussion, die beide Vorträge hervorriefen, verharrte vielleicht in Fragen, die einer Expertenrunde für religiöse Mentalitäten und laikale Frömmigkeit nicht weiter aufregend erschienen wäre, belegte aber doch eindrucksvoll, dass eine Öffnung der aufs handfest-materielle schauenden Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu einer Geschichte auch der ‚Erfahrungshorizonte' möglich und im Gange ist.
Die von Brigitte Englisch (Paderborn) aufgeworfene Frage einer Verbindung der früh- und hochmittelalterlichen Weltkarten mit illiterat-bäuerlichem ‚Erfahrungswissen' rief ebenfalls intensive Diskussion hervor, doch kam man zu dem einhelligen Ergebnis: mappae mundi und Bauern haben wenig miteinander zu tun.
Dagegen hätte der zugleich quellennah und soziologisch angelegte Vortrag von Yitzhak Hen (Beer-Sheva) über ‚Food and Drink in Merovingian Gaul' als Praxis sozialer und ethnischer Distinktion eine eingehendere Diskussion verdient gehabt, und zwar nicht nur, weil es sich dabei um den konzeptionell stärksten Beitrag handelte. Hen sprach in Bremen vor einem Kreis von Forschern, der es als seine vornehmste Aufgabe begreift, den Blick der Mediävistik von den herrschaftlichen Taten, Ideen und Zeremonien auf die ‚eigentliche Basis' all dessen zu lenken: auf die Grundherrschaft als wirtschaftliche Grundlage des karolingischen Königtums und der blühenden Kultur der Reichsklöster, auf den Silberbergbau der Ottonen, ohne den, wie in den Bremer Diskussionen zu hören war, nichts von dem, was die großen Ausstellungskataloge zeigen, möglich gewesen wäre. Nicht zuerst und nie ausschließlich nach den politischen und geistigen Leistungen einer Herrschaft zu fragen, sondern immer zunächst einmal danach, woher Herrscher und Gefolge die materiellen Ressourcen - Essen und Trinken - nahmen: das war eine der wichtigsten Botschaften der Forschungsrichtung Grundherrschaft. Wenn also Hen unter Rückgriff auf Bourdieu vorführte, wie in der Merowingerzeit Essen und Trinken ganz konkret soziale Distinktion, Machtgefälle und Herrschaftsgefüge herstellten und repräsentierten, hätte er eigentlich gerade in Bremen mehr erwarten dürfen als nur den freundlichen Zuspruch, den er erhielt.

Von den aus Geschichte, Philologie und Technikgeschichte stammenden Beiträgen im eher klassischen Themenfeld der Grundherrschaft können viele überzeugende hier nur kurz genannt werden: Wolfgang Haubrichs (Saarbrücken) über Zugänge der Ortsnamenkunde zur agrarischen Mentalität und zur Organisation größerer Königsgutkomplexe; Janet Nelson (London) über die Wirtschaftspolitik Karls des Großen und Karls des Kahlen; Dieter Hägermann (Bremen) über Technik und Gesellschaft im Transformationsprozess von der Spätantike zum Mittelalter; Konrad Elmshäuser (Bremen) über die Logistik der Grundherrschaft zu Lande und zu Wasser.
Einige weitere seien aber hervorgehoben: So ging es wirklich voran im Sinne der eingangs zitierten legendären Grundherrschaftstagungen beim Vortrag von Jean-Pierre Devroey (Brüssel) über ‚Mobilité paysanne et colonisation'. Devroey wies eindrucksvoll nach, dass bäuerliche Mobilität in vielerlei Form eher der Regelfall als die Ausnahme gewesen sein kann und dass diese Mobilität als im Rahmen der Grundherrschaft, nicht zuletzt nämlich als Folge grundherrlicher Disponierung über Mansen und Mancipien zu denken ist. Vor allem am Polyptychon von Viel-Saint-Remi wies Devroey nach: selbst wo der Mansus patrilinear vererblich ist, trifft man vielfach auf jüngere Brüder von Mansenhaltern, die anderenorts in der Grundherrschaft eingesetzt wurden, d.h. zur Mobilität gezwungen waren.
Dieses Ergebnis stand in einem gewissen inhaltlichen Gegensatz zum Ertrag der Vorträge von Michel Parisse (Paris) und Werner Rösener (Gießen), die sich beide der seit eh und je am heißesten diskutierten Frage zuwandten: Sklaven oder Hörige? Parisse bot in Auseinandersetzung mit der These Pierre Bonnassies eine differenzierte und feine Semantikanalyse der Privaturkunden des 10. Jahrhunderts und beharrte in deren Ergebnis ebenso wie in der Diskussion darauf, dass diese Frage nicht lösbar sei. Es gibt keine einfache und exakte Übersetzung von servus; und nicht einmal, wenn man noch so sehr nach Region und Zeit differenziert, lässt die Semantik der Urkunden sich in eine Systematik pressen, die nach servi und mancipia, Hörigen und Sklaven, Personen- und Sachenrecht unterscheidet. Rösener stellte dagegen den Prozess ‚Vom Sklaven zum Bauern' dar, zog die große Entwicklungslinie bis etwa ins 11. Jahrhundert und konstatierte (bei Beachtung regionaler Unterschiede etc.), dass der Umschlagpunkt von der Sklaverei zur Hörigkeit jeweils in der Ansiedlung von Unfreien auf Herrenland zu suchen sei: in der Verbäuerlichung der servi.
Die sich anschließende Diskussion sprengte jeden von der Tagungsleitung vorgesehenen Zeitrahmen, blieb aber an Differenziertheit hinter den Vorträgen selbst zurück. Am Ende waren alle sich einig: die auf Sklaverei bis zum Jahr 1000 beharrenden Bonnassie, Bois, Duby haben jedenfalls unrecht. Überhaupt mochte man hier den vielleicht schwächsten Punkt der Bremer Tagung entdecken. Zufällig, aber bezeichnend war es, dass genau vier Vorträge zu Fragen des bipartiten Systems den gleichen rhetorischen Einstieg wählten: indem sie jeweils eine These von Bonnassie, Bois, Duby und Fossier an den Anfang stellten, um sie dann zu dekonstruieren. Ein bald dreißigjähriger Krieg gegen diese französische Forschungsrichtung - lohnt sich der überhaupt noch, zumal da er doch gewonnen erscheint? 2 Sollten nicht inzwischen über Sklaverei, Hörigkeit und Dienst alle so sachlich reden können wie Michel Parisse?
Sachlichkeit bewies auch Brigitte Kasten (Saarbrücken), die als einzige Frau ins Herz der Grundherrschaft vorstieß. In ihrem Vortrag über die Frage agrarischer Innovationen durch Prekarieverträge referierte sie Teilergebnisse des Saarbrücker DFG-Projekts ‚Prekarien' und verneinte für das Gebiet nördlich der Alpen die von Laurent Morelle aufgestellte These eines gezielten Einsatzes von Prekarieverträgen zur Bodenmelioration. Die von ihr so benannte und von der Diplomatik bislang unentdeckte Meliorationsklausel als Leihebedingung entpuppte sich als eine vertragliche Regelung, durch die der Grundherr den Mehrwert des mobilen Zubehörs zum Leihegut etwa von neuerrichteten Bauten oder von (in ihrer Arbeitsleistung?) meliorierten servi abschöpfte.
Hans-Werner Goetz (Hamburg) stellte in seinem Beitrag über die ‚private' Grundherrschaft nach den St. Galler Urkunden sämtliche geläufigen Bewertungen von deren Entstehung und Organisationsgrad in Frage und erschloss damit ein Forschungsfeld, das noch für die eine oder andere Wissenschaftlergeneration reichen dürfte - von zufriedenem Stehenbleiben war hier keine Spur.

Dass es für Zwerge, die auf die Schultern der Grundherrschaftsriesen steigen wollen, am allermeisten in der historisch-archäologischen Sektion zu lernen gab, sei gleich festgehalten. Dem wirtschaftsarchäologischen Grundsatzreferat von Udo Recker (Wiesbaden) und Michael Schefzik (Halle) folgte ein durchaus lebhaft umstrittener und deshalb fruchtbarer Beitrag von Andreas Hedwig (Marburg) zur historischen Interpretation archäologischer Grabungsergebnisse am Beispiel Nordhessens, dazu ein grundlegender Beitrag von Karl-Heinz Ludwig (Bremen) über neuere Forschungsergebnisse zu Metall, Geld und Bergbau vor der Geldwirtschaft. Die Schnittstelle zwischen Technik- und Wirtschaftsgeschichte, Erkundung frühmittelalterlicher Kultur und Archäologie erwies sich als fruchtbar etwa dort, wo es um die Ergebnisse archäologischer Forschung zur Gründung der frühen Klöster ging, und mehr noch als während der vorangegangenen Abschnitte der Tagung hatte die Moderation ihre liebe Not damit, die überall aufflackernden Diskussionsfeuerchen zu löschen.

Ein mehr die Sinne als den Geist ansprechendes Rahmenprogramm, das neben Führungen durch den Landesarchäologen Manfred Rech, die Domkustodin Ingrid Weibezahn und den Schiffahrtsspezialisten Ulrich Weidinger (alle Bremen) auch den öffentlichen Festvortrag von Matthias Springer (Magdeburg) zur Frage der Verortung des Menschen im Volk einschloss, stieß auf viel Gegenliebe.

Wird man also der eingangs zitierten Kette hinzufügen müssen: Bremen 2004? Es ging jedenfalls immer noch voran, man durfte sich streiten und wollte das zumindest in Teilen der Tagung auch, weshalb wohl auch häufig die Atmosphäre eines echten Arbeitstreffens an die Stelle des Vortrag-Frage-Antwort-Spiels trat. Zu lernen gab es viel - und das ist, was man von einer ‚großen' Tagung verlangen kann.

Anmerkungen:
1 Kuchenbuch, Ludolf ,Die Grundherrschaft im früheren Mittelalter, Idstein 1991.
2 Vgl. die Einleitung zu McCormick, Michael, The Origins of the European Economy. Communication and Commerce A. D. 300-900, Cambridge 2001 und Verhulst, Adriaan, The Carolingien Economy, Cambridge 2002