Die Shoa in Schule und Öffentlichkeit. Erfahrungen, Erwägungen, Empfehlungen

Die Shoa in Schule und Öffentlichkeit. Erfahrungen, Erwägungen, Empfehlungen

Organisatoren
Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW) am Zentrum für Demokratie Aarau; Professur der Didaktik der Gesellschaftswissenschaften und ihre Disziplinen der PH FHNW und der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz Luzern (PHZ Luzern)
Ort
Aarau
Land
Switzerland
Vom - Bis
21.01.2012 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Barbara Sommer Häller, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz Luzern

Mit der Tagung «Die Shoa in Schule und Öffentlichkeit» wurde am 21. Januar 2012 in Aarau der diesjährige internationale Tag des Gedenkens an den Holocaust begangen. Dieser Gedenktag war 2003 von der Plenarversammlung der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) aus Anlass der Ankunft der russischen Truppen in Auschwitz auf den 27. Januar festgesetzt worden.

Im Hinblick auf diesen Tag ruft die EDK seither jedes Jahr Kantone und Institutionen auf, sich im Rahmen von Gedenkveranstaltungen zu engagieren. Trotz dieses Aufrufs fällt das Engagement bei den meisten Kantonen zurückhaltend aus. Viele Bildungsdirektionen nehmen den Tag zwar zur Kenntnis und leiten das jährliche Erinnerungsschreiben der EDK weiter, realisieren aber kaum eigene Projekte. Nichtsdestotrotz haben Lehrpersonen und Dozierende unterschiedlicher Stufen sowie Akteure verschiedenster Institutionen in den letzten Jahren Erfahrungen in der Thematisierung der Shoa gemacht, diese Erfahrungen zum Teil systematisch ausgewertet und ihre Konzepte und Theorien dazu geschärft.

Um diese Erfahrungen der interessierten Fachwelt zugänglich zu machen, organisierte die PH FHNW zusammen mit Kooperationspartnern eine Veranstaltung, an der Fachleute im Rahmen von Workshops die derzeitige Shoa spezifische Vermittlungspraxis diskutierten. Dazu wurde ein Reflexionsfeld aufgespannt, das einerseits die Zielgruppen möglicher Vermittlungsaktivitäten unterschied und andererseits die drei didaktischen Grundfragen nach Zielen, Themen und Inszenierungen beleuchtete.

In seiner Begrüßungsrede zur Tagung wies PETER GAUTSCHI (Luzern) daraufhin, dass die Shoa in der Schweiz derzeit in der Öffentlichkeit noch omnipräsent und als Thema des Geschichtsunterrichts unbestritten sei, letzteres aber mit Blick auf den Lehrplan 21 künftig keinesfalls als gesichert gelten dürfe. Dies sei aufgrund der erinnerungskulturellen Entwicklung, nämlich dem anstehenden Übergang der Thematik ins kulturelle Gedächtnis, besonders problematisch. MEIK ZÜLSDORF-KERSTING (Osnabrück) thematisierte in seinem Eröffnungsreferat den Holocaust als Zivilisationsbruch. Wie sein Vorredner ging er außerdem grundsätzlichen Fragen zur Thematisierung der Shoa nach und blickte auf empirische Befunde zum Umgang mit dem Thema.

Die erste Sektion, moderiert von Meik Zülsdorf-Kersting, galt der Schulpraxis. ANDREA BECHER (Osnabrück) forderte auf der Grundlage einer Studie, in der sie nachweisen konnte, dass bereits Grundschulkinder Vorstellungen von der Zeit des Holocaust haben, dieses Thema in der Grundschule Deutschlands nicht auszusparen. Sie zeigte, welche Phänomene, Quellen und Darstellungen im Grundschulunterricht herangezogen werden können und stellte erprobte Materialien und Zugangsweisen vor. Analog ihrer Vorrednerin konnten CHRISTIAN MATHIS und NATHALIE URECH (beide Aarau) nachweisen, dass auch Schweizer Primarschschulkinder bereits Vorstellungen von der Zeit des Holocaust haben. Im Unterschied zu Andrea Becher kamen sie zum Schluss, dass auf der Primarstufe Holocaustunterricht zwar möglich, aber nicht zwingend sei. REVITAL LUDEWIG und RUTH KEMPNICH (beide St. Gallen) stellten in ihrem Beitrag ihre Studie zur Holocaust Education in der Schweiz vor. Ziel ihrer Studie sei es, Empfehlungen für Verbesserungen des Unterrichts auszuarbeiten und diese im Rahmen von Weiterbildungsangeboten Lehrpersonen weiterzugeben. Im Unterschied zu ihren Vorrednerinnen und Vorrednern legt ihre Studie den Fokus auf die Lehrpersonen.

Die zweite Sektion, moderiert von Peter Gautschi, galt den Zeitzeugnissen. MARTIN LÜCKE und ALINA BOTHE (beide Berlin) legten dar, inwieweit und unter welchen Bedingungen innerhalb des schulischen Unterrichts ein sekundärer Dialog zwischen Schülerinnen, Schülern und virtuellen Zeugnissen von Überlebenden stattfinden kann. Insbesondere der Umstand, dass in den individuellen Erzählungen der Lernenden zum Thema unerwartete und teilweise auch verstörende Sinnbildungen entstanden, mache deutlich, wie wichtig der Dialog über individuelle Narrative ist. Der Beitrag von MARKUS KÜBLER (Schaffhausen) zeigte einmal mehr, dass man auch in der Schweiz zur Zeit der Judenverfolgung über Handlungsspielräume verfügte und dass das Thema «Die Schweiz und die Shoa» vielerorts auch beinahe 70 Jahre nach dem Krieg noch nicht bewältigt ist. Am Beitrag von MIRIAM VICTORY SPIEGEL (Zürich) wurde sichtbar, dass Begegnungen zwischen Holocaust-Überlebenden und Lernenden immer noch eine gute Möglichkeit sind, der Geschichte ein «menschliches Antlitz» zu verleihen. Weiter wurde deutlich, dass mit der Einführung der Maturaarbeiten der Auseinandersetzung mit der Shoa eine neue und große Aufmerksamkeit zukam.

In der dritten Sektion, moderiert von Meik Zülsdorf-Kersting, stand die universitäre Binnenperspektive im Fokus. CHRISTIAN KUCHLER (Regensburg) ging in seinem Referat der Frage nach dem Potential von Unterrichteinheiten basierend auf persönlichen Quellen von jüdischen Überlebenden und Opfern der Shoa nach und berichtete von einem Projekt an der Universität Regensburg, bei dem Studierende Unterrichtsmaterialien aus authentischen Quellen entwickelten. GERALD LAMPRECHT (Graz) stellte ein konkretes Forschungsprojekt des Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz mit Schülerinnen und Schülern zweier Grazer Mittelschulen vor. Bei diesem Projekt zu den Judenchristen der evangelischen Pfarrgemeinde «Heilandskirche» wurden die Schülerinnen und Schüler aktiv in den Forschungsprozess eingebunden und hatten wesentlichen Anteil an der Fertigstellung des Projektes, dessen Ergebnisse in Form einer Wanderausstellung und eines Ausstellungskataloges veröffentlicht wurden.

In der vierten Sektion, moderiert von Peter Gautschi, beschäftigte sich DANIELA ZUNZER (Fribourg) mit Sinn und Zweck von Exkursionen an originale Orte und mit den Bedingungen für ein gutes Gelingen. Allgemein lasse sich sagen, dass freiwillige Studienreisen zur Thematik eine grosse Resonanz finden. Besonders günstig sei es aber, wenn vor Ort Zeitzeugen zu Wort kommen. URS URECH (Aarau) berichtete von einer eintägigen Lehrerstudienreise nach Auschwitz. Auch diese profitierte vom Umstand, dass Zeitzeugen vor Ort waren und erzählten. Allerdings wurde die Reise teilweise auch heftig kritisiert. Es wurde den Veranstaltenden unangemessene Popularisierung der Shoa vorgeworfen. Bei DANIEL GERSONs (Basel) Beitrag wurde besonders deutlich, was sich bereits am Vorabend in der Theateraufführung und dann auch in den Diskussionen während der Tagung manifestiert hatte: Es ist unbedingt notwendig, die Täter besser in den Blick zu bekommen. Gerson zeigte auf, wie gerade auch bei Studienreisen zwar Opfer und Retter thematisiert werden, die Täter aber völlig ausgeblendet bleiben, obwohl es eine Reihe von geeigneten Quellen gebe, die auch die Auseinandersetzung mit den Tätern ermöglichen würden.

An der Tagung wurde sichtbar, dass vor allem die Theorie, aber auch die Empirie zum schulischen und außerschulischen Umgang mit der Shoa gut entwickelt sind. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von erprobten Praxisbeispielen, die den Schülerinnen und Schülern in dieser anspruchsvollen Thematik relevante Lerngewinne ermöglichen. Auffällig war hier allerdings, dass in der Vermittlungspraxis die Täter und ihre Perspektive bisher mehrheitlich ausgespart bleiben. Eindrücklich konnten die Tagungsbeiträge zudem die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit der Shoa in Schule und in Öffentlichkeit aufzeigen. Diese vielschichtige und anspruchsvolle Auseinandersetzung wird auch künftig gesellschaftlich bedeutsam bleiben.

Konferenzübersicht:

Peter Gautschi: Eröffnung

Meik Zülsdorf-Kersting: Wie umgehen mit dem Zivilisationsbruch Holocaust? Gedanken zur Thematisierung des Unaushaltbaren

1. Sektion Schulpraxis

Andrea Becher: Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern

Christian Mathis, Natalie Urech: Holocaust, ein Thema für die Primarschule?

Ruth Kempnich, Revital Ludewig: Eine Studie über Holocaust-Education in der deutschsprachigen Schweiz (2011–2013)

2. Sektion Zeugnisse

Martin Lücke, Alina Bothe: Das virtuelle Zeugnis – eine geschichtsdidaktische Herausforderung

Markus Kübler: Die Judenkartei Gailingens 1936–1940: ein einzigartiges Dokument für die Schule

Miriam Victory Spiegel: Begegnungen zwischen Holocaust-Überlebenden und Schülerinnen und Schülern aus pädagogischer Sicht

3. Sektion Hochschulpraxis

Christian Kuchler: Jüdische Perspektiven auf den Holocaust – Erinnerungsliteratur im Unterricht

Gerald Lamprecht: Zur Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust in Schule und Universität – ein Projektbericht

4. Sektion Schauplatz

Daniela Zunzer: «Die Exkursionen nach Dachau müssen Sie unbedingt beibehalten»: Originale Orte und ihre Bedeutung für die Vermittlung des Holocaust

Urs Urech: «Vom Ort des Grauens ins Schulzimmer», Bericht über eine Studienreise nach Auschwitz

Daniel Gerson: Von der Leichtigkeit des Einfühlens in die Opfer und von der Schwierigkeit des Verstehens der Täter


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