Gedächtnis, Erinnern und Vergessen im Kontext soziologischer Theorien

Gedächtnis, Erinnern und Vergessen im Kontext soziologischer Theorien

Organisatoren
Arbeitskreis Gedächtnis, Erinnern und Vergessen in der Sektion Wissenssoziologie der GDS; Oliver Dimbath, Lehrstuhl für Soziologie, Universität Augsburg; Michael Heinlein, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München; Rainer Schützeichel, Institut für Soziologie, Universität Duisburg-Essen; Peter Wehling, Lehrstuhl für Soziologie, Universität Augsburg / Kulturwissenschaftliches Kolleg, Universität Konstanz
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.03.2012 - 23.03.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Agata Sadowska, Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“, Fachrichtung Osteuropäische Geschichte, Universität Konstanz

Während die Themenfelder Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in der Geschichts-, Kultur- und Literaturwissenschaft bereits seit langem diskutiert und in unzähligen Untersuchungen analysiert wurden und werden, hat sich die Soziologie bislang in Zurückhaltung geübt.1 Diese Tendenz versucht der Arbeitskreis „Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen“ (GEV) in der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zu durchbrechen und führte eine erste, den Arbeitskreis konstituierende Tagung durch. Man wolle, so die Organisatoren der Tagung, eine Diskussion über ein in der Soziologie unterrepräsentiertes Thema, das aber einige Forscher beschäftige, anstoßen und das Defizit eines soziologischen Zugangs zu GEV beheben. Die Ziele dieser Zusammenkunft waren daher: Den Stellenwert der Felder Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen insbesondere im Vergleich zu anderen theoretischen und begrifflichen Ansätzen zu überprüfen, das Begriffsangebot der drei Felder zu schärfen und damit den empirisch arbeitenden Wissenschaftler/innen ein soziologisch profiliertes Begriffssystem zur Verfügung zu stellen sowie empirische Forschungsfelder abzustecken, die im Kontext dieses Ansatzes fruchtbar gemacht werden können. Darüber hinaus seien Fragen nach Anschlussmöglichkeiten zu Nachbardisziplinen sowie einer Identifizierung soziologischer Methoden für die GEV-Forschung zentral. So sollte während der Tagung nicht nur ein Arbeitskreis zusammenfinden, sondern auch eine Bestandsaufnahme der verschiedenen aktuellen Forschungen zum Themenfeld GEV innerhalb der Soziologie gemacht werden.

Das erste Panel stand im Zeichen der „Terminologie und Systematik in Theorien des Sozialgedächtnisses“: Welche zentralen Begriffe können in einer Soziologie der Erinnerung fruchtbar gemacht werden? Welche theoretischen Ansätze lassen sich für das Themenfeld anwenden? MATTHIAS BEREK (Leipzig) machte in seinem Beitrag zwei Vorschläge: Erstens, kollektives Gedächtnis als Wissensvorrat und zweitens, Erinnerungskultur als symbolische Form zu beschreiben. Während das kollektive Gedächtnis als Teilmenge des gesellschaftlichen Wissensvorrats gedeutet werde, die typisiert sei und als relevant genug für die Ablagerung im gesellschaftlichen Wissensvorrat betrachtet werden könne, sei die symbolische Form dieser Wissensvorräte die Erinnerungskultur. Diese beinhalte alle Elemente, die Legitimations- und Identitätsfunktion erfüllen, Wirklichkeit herstellen und für Integration und Kohärenz von Gesellschaften sorgen. Berek plädierte zudem für die begriffliche Unterscheidung zwischen Gedächtnis als einem Bestand des Wissens über die Vergangenheit und Erinnerung als dem Prozess, bei dem auf das Gedächtnis zurückgegriffen werde.

JÖRG MICHAEL KASTL (Ludwigsburg/Reutlingen) zeigte am Beispiel einer künstlichen Grammatik, welche Funktionen nicht-deklarative Gedächtnisleistungen für soziale Gedächtnisse haben können. Dabei unterschied er zwischen drei Gedächtnissystemen, die von einem expliziten, bewussten, also autobiografischen über ein semantisches bis hin zu einem impliziten, non-deklarativen Gedächtnis reichen. Non-deklarative Leistungen seien nach Kastl eigentlich keine Gedächtnisleistungen, erst im Zusammenspiel der drei Gedächtnissysteme komme es zur Erinnerung.

In seinem Beitrag eröffnete GERALD SEBALD (Erlangen) neben den beiden Theorieströmungen, die die Erforschung sozialer Gedächtnisse durchziehen, einen neuen, dritten Ansatz. Während der Co-Determinismus und der Relationismus (beide nach Francois Dépelteau) eine Dichotomie zwischen Handlung und Struktur aufweisen, wollte Sebald dies überwinden. Seiner Meinung nach müsse eine Theorie von sozialen Gedächtnissen eine integrative Beschreibungssprache entwickeln. Soziale Gedächtnisse können unter Zuhilfenahme des Sinn-Begriffs als grundlegender Bestandteil in jedem Sinnvollzug betrachtet werden. Sie seien demnach keine fest gefügten Strukturen, sondern vielmehr Prozesse von Ergebnissen vergangener Sinnvollzüge, die für die aktuelle Situation zur Verfügung stehen.

Mit dem Karteisystem präsentierte ALBERTO CEVOLINI (Reggio Emilia) die Genese und Funktion eines Gedächtnisses von formalen Organisationen, das somit mehr als eine reine Gedächtnisstütze sei und eröffnete das zweite Panel zur „Archivierung und Klassifikation“. Die Kartei erscheine für eine formale Organisation als ein künstliches aber zuverlässigeres Gedächtnis, so Cevolini. Der Verlass auf lediglich die Erfahrungen, Informationen und Erinnerungen von Mitgliedern berge die Gefahr von Informationsverlust bei einem Ausscheiden eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin aus der Organisation. Das Ziel einer Organisation sei es, Informationen zu verarbeiten, die eine Voraussetzung für das Fällen von Entscheidungen darstellen. Die Kartei trage zu diesem Prozess bei, weil sie nicht nur Informationen enthalte, die für die Entscheidung relevant seien, sondern auch die Entscheidungen selbst, die ihrerseits zu Informationen würden. In Anlehnung an Niklas Luhmann beschrieb Cevolini schließlich das Gedächtnis als die Organisation des Zugriffs auf Informationen, das in einer formalen Organisation der Kartei entspreche. Gedächtnis sei niemals eine lose Sammlung von miteinander unverbundenen Erinnerungen, vielmehr produziere es stets Sinn – so sei auch die Kartei nicht bloß eine Sammlung loser Informationen.

STEFAN NICOLAE (Trier) eröffnete in seinem Beitrag den Zugewinn der Pragmatischen Soziologie für die Soziologie des Gedächtnisses am Beispiel der Ausstellungsreihe „Körperwelten“. Betrachte man die Klassifikationsverschiebung in der Erinnerungspraxis im Bezug auf die Plastinate, so spiegele sich die Art, wie sich die Kategorien durch den Akt der Plastination von Mensch zum Artefakt (Objekt) verschiebe, auch in der Praxis der Zuschreibung und Anerkennung eines Erinnerungspotenzials des Plastinats wieder. Hier entstehe ein Spannungsverhältnis zwischen Gedächtnis als einer Auswahl an über die Jahre gesammelten Erfahrungen und Bildern und dem Erinnerungspotenzial. Dabei beziehe sich der Begriff Erinnerungspotenzial auf die Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung, wobei letztere stets einen gegenwärtigen Bezug aufweise. Der zu plastinierende Körper werde schließlich durch die Plastination zu einem Medium von Erinnerung, dessen Erinnerungspotenzial aber gleichzeitig in Frage gestellt werde und somit eine gewisse Multidimensionalität der Erinnerung entstehe.

„Gedächtnis, Erinnern und Vergessen als Problem der soziologischen Zeit- oder Gegenwartsdiagnose“ standen im Zentrum des dritten Panels. FELIX DENSCHLAG (Oldenburg) befasste sich in seinem Beitrag mit Beschleunigung und Vergessen bei Hartmut Rosa und Walter Benjamin. Beschleunigung sei sowohl für Hartmut Rosa als auch für Walter Benjamin das Hauptmerkmal der modernen Gesellschaft. Diese gehe mit einer Entfremdung einher, die sich auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise im Raum oder der Dingwelt, wiederspiegele. Dabei sei die moderne Gesellschaft zwar erlebnisreich aber erfahrungsarm und deshalb komme der Erinnerung eine zentrale Bedeutung zu. Denn durch die Reizüberflutung, als Charakteristikum der modernen Gesellschaft werde das Erinnern zum Akt der Vergegenwärtigung und somit zum zentralen Element in der modernen Gesellschaft.

In seinem Beitrag skizzierte FRAN OSRECKI (Wien) die Struktur und Entwicklung soziologischer Zeitdiagnostik als einen Gegenstandsbereich der Soziologie. Bedingt durch eine zunehmende Ausdifferenzierung der soziologischen Wissenschaft seit etwa den 1930er Jahren und eine damit einsetzende Entzweiung der Fachsprache von intellektuell-öffentlichen Diskursen sei die Zeitdiagnostik zunehmend als eigenständiges Genre erschienen. Dabei sei ihr Gegenstand vor allem in der Beschreibung der Eigenschaften der Gegenwartsgesellschaft in ihrer Gesamtheit zu sehen, was aber der Selbstbeschreibung der Soziologie entspreche, so Osrecki. Darüber hinaus seien eine fehlende soziologische Interpretation, ein geringer Abstraktionsgrad sowie die schwere Operationalisierbarkeit zentrale Probleme dieses Genres. Die zeitdiagnostische Argumentationsweise zeichne sich durch die Beschreibung der Gegenwart als Epochenschwelle, den radikalen Bruch mit alten gesellschaftlichen Strukturen sowie die Konzentration auf bis vor kurzem nicht existente Phänomene aus. Daher sei der Umgang der Zeitdiagnostik mit der Vergangenheit als problematisch zu bezeichnen, in der die Geschichte als generalisiert und mit in der Vergangenheit umstrittenen Theorien beschrieben werde. Der Erfolg von zeitdiagnostischen Studien liege schließlich mitunter darin, dass die Öffentlichkeit über keine institutionalisierten Erinnerungsmechanismen gesamtgesellschaftlicher Strukturen verfüge.

Das vierte und letzte Panel befasste sich mit der Rolle von „Gedächtnis, Erinnern und Vergessen im Kontext gesellschaftlicher Integration“. Zentral waren dabei die Möglichkeiten und Grenzen der drei Felder für gesellschaftliche Phänomene. LARS ALBERTH (Wuppertal) fragte nach dem Stellenwert der Erinnerung in Walter Benjamins Geschichtsphilosophie. Dabei sei die historische Geschichtsschreibung ein Modus einer herrschaftsvermittelten Überlieferung von Erfahrungen. Sie münde in willkürliche Erinnerungen, so Alberth. Dem stehe nach Benjamin die marginalisierte Erfahrung gegenüber, die in der Geschichtsschreibung verloren zu gehen drohe. Als Anschlusskonzept verwies Alberth in Anlehnung an Pierre Noras Ansatz der Erinnerungsorte auf Konzepte jenseits nationalstaatlicher Gedenkkategorien: Gegenüber einer staatlich forcierten Gedenkapparatur, die notwendig auch selektiv sei und Erinnerungen in Geschichte transformiere, seien die Erinnerungen marginalisierter oder exkludierter Gruppen stärker zu berücksichtigen und zu dokumentieren.

Einen empirischen Einblick in die Erinnerungsforschung im Hinblick auf soziologische Trauerforschung präsentierte NINA JAKOBY (Zürich). Während der klassische Trauer-Diskurs, der insbesondere von der Schulmedizin getragen werde, anhand von fünf Trauerphasen insbesondere auf das therapeutische Vergessen ziele, werde Erinnern als neues Paradigma in der Trauerforschung als Abgrenzung des dominanten Modells zunehmend wichtiger. Demnach sei der Trauerprozess ein ständiger Kommunikationsprozess mit dem Verstorbenen und trage dadurch zur Generierung von Erinnerung bei. Als Repräsentationen der Erinnerung können auch so genannte virtuelle Friedhöfe fungieren. Als vom tatsächlichen Ort der Bestattung getrennter Raum für individuelle Erinnerung werden die „web memorials“ zu einer virtuellen Erinnerungskultur, die keinerlei zeitliche Beschränkung aufweise aber auch selektierte und von den Trauernden geformte Erinnerungen darstelle.

Die Frage nach der Rolle der Erinnerung für die Integration stand im Fokus des Beitrags von NINA LEONHARD (Hamburg). Dabei komme es bei politischen Umbrüchen auch zu einem Umbruch in der Geschichtspolitik, die eine Voraussetzung für die Einführung einer neuen politischen Ordnung darstelle. Gleichzeitig werde die neue politische Ordnung durch Bezugnahmen auf die Vergangenheit legitimiert und etabliert. Bei einer Konkurrenz von alten und neuen Wissensbeständen über die Vergangenheit komme es nach Leonhard zu einem Integrationsproblem, das überwunden werden müsse. In solchen Konfliktfällen könne die Soziologie gewinnbringend zeigen, wie soziale Ordnungen aufrechterhalten werden.

VALENTIN RAUER (Frankfurt/Main) sprach sich in seinem Vortrag für eine stärkere Einbindung von Artefakten bei der Untersuchung von Erinnerungskulturen aus, die zentral für Erinnerungsprozesse seien. Die meisten theoretischen Ansätze der Erinnerungsforschung seien akteurszentriert oder beziehen sich auf Erinnerungsorte, doch werde die Materialität, also die handlungsrelevante Gegenständlichkeit der Erinnerung oftmals nicht betrachtet. Dies verdeutlichte er mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie und griff dabei auf Beispiele aus Postkonfliktgesellschaften zurück, wie Polen oder Vietnam. Demnach sei Handeln nicht nur auf den einzelnen Akteur beschränkt, eine Geste werde vielmehr auf ein Objekt (Erinnerungsmarker) übersetzt beziehungsweise delegiert, das wiederum einen dazu bringe, bestimmte Dinge im Erinnerungsakt zu tun, beispielsweise nicht zu Lachen oder zu leise zu sein.

Insgesamt verdeutlichte die Tagung die Bandbreite der verschiedenen Untersuchungsgegenstände soziologischer Arbeiten zum Themenkomplex Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen: Von einer theoretischen Auseinandersetzung im disziplinären Grenzbereich zur Philosophie oder der Kulturwissenschaft bis hin zu empirischen Untersuchungen reicht die Diversität der soziologischen Arbeiten. Dadurch wurde die Notwendigkeit einer solchen Arbeitsgruppe deutlich, denn die vielen verschiedenen theoretischen Zugänge konnten nur ansatzweise vorgestellt und in den Diskussionen nur oberflächlich besprochen werden. So wäre es dem Arbeitskreis GEV zu wünschen, dass die geplanten Ziele weiterhin verfolgt und auch umgesetzt werden. Von einer solchen Entwicklung würden nicht nur die Soziologie, sondern auch die Nachbardisziplinen profitieren.

Konferenzübersicht:

Block I: Terminologie und Systematik in Theorien des Sozialgedächtnisses

Mathias Berek (Leipzig): Gedächtnis, Wissensvorrat und symbolische Form. Der Beitrag von Wissenssoziologie und Kulturphilosophie zur Gedächtnistheorie

Jörg Michael Kastl (Ludwigsburg): Latenz und Emergenz – Funktionen nicht-deklarativer Gedächtnisleistungen für soziale Gedächtnisse

Gerd Sebald (Erlangen): Sinn und Gedächtnis

Block II: Archivierung und Klassifikation

Alberto Cevolini (Reggio Emilia): Die Organisation des Gedächtnisses und das Gedächtnis der Organisation

Stefan Nicolae (Trier): Pragmatische Soziologie ohne Gedächtnis? Klassifikationsverschiebung als Erinnerungspraxis

Block III: Gedächtnis, Erinnern und Vergessen als Problem der soziologischen Zeit- oder Gegenwartsdiagnose

Felix Denschlag (Oldenburg): Beschleunigung und Vergessen: Hartmut Rosa und Walter Benjamin

Fran Osrecki (Wien): „Wie wir heute nicht mehr sind“: Soziales Vergessen als Voraussetzung soziologischer Gegenwartsbeschreibung

Block IV: Gesellschaftliche Integration durch Gedächtnis, Erinnern und Vergessen

Lars Alberth (Wuppertal): „Sich einer Erinnerung bemächtigen“ – Geschichte und Gedächtnis bei Walter Benjamin

Nina Jakoby (Zürich): Die Zeit heilt alle Wunden? Erinnern und Vergessen im Kontext soziologischer Trauerforschung

Nina Leonhard (Hamburg): Gedächtnis, Wissen und soziale Integration

Valentin Rauer (Frankfurt/Main): Das (Über-)Leben der Dinge. Ansätze einer materialen Gedächtnistheorie von Postkonfliktgesellschaften

Anmerkung:
1 Dies stellten die Organisatoren bereits in der Einleitung des 2011 erschienenen Sammelbandes fest, vgl. Oliver Dimbath / Peter Wehling (Hrsg.), Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder, Konstanz 2011.


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