Von der Geburt bis zum Tode. Individuelle und gesellschaftliche Dimensionen von Alter und Geschlecht in der Urgeschichte. From Birth to Death. Individual and Social Dimensions of Age and Gender in Prehistory

Von der Geburt bis zum Tode. Individuelle und gesellschaftliche Dimensionen von Alter und Geschlecht in der Urgeschichte. From Birth to Death. Individual and Social Dimensions of Age and Gender in Prehistory

Organisatoren
L.R. Owen (Tübingen), Dr. M. Porr (Halle/Sa.) und Dr. R. Struwe (Berlin)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.03.2004 - 28.03.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Ruth Struwe, Berlin

Gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung

Alter und Geschlecht sind zentrale Dimensionen eines jeden Menschenlebens. Sie wirken sich auf jede Handlung im täglichen Leben aus, unabhängig davon, ob sie bewusst werden oder nicht, ob sie gewollt sind oder nicht. Alter und Geschlecht sind wichtige Konditionen, die das Leben in einer Gemeinschaft bestimmen. Dies trifft für unsere Gesellschaft heute zu, und es betraf Gesellschaften in der Vergangenheit.

Auf der gut besuchten Konferenz wurde thematisiert, welche individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen von Alter und Geschlecht in der Urgeschichte der Menschheit erkennbar und verifizierbar sind. Was also wissen wir von Alters- und Geschlechterrollen in der Urgeschichte? "Rollen" implizieren Normen. Ein archäologischer Befund kann der Beleg für ein Einzelgeschehen oder als Folge fortlaufender Handlungen entstanden sein. Beim wissenschaftlichen Bemühen um gültige Aussagen wird verallgemeinert, statistisch ausgewertet, werden Ergebnisse erreicht und Normen ermittelt. Die Chance, die Vielschichtigkeit prähistorischen Lebens, das Individuelle zu erkennen, geht dabei in der Regel verloren.

Die Bedeutung der physischen Anthropologie für die Konferenzthematik liegt auf der Hand. Ohne Alters- und Geschlechtsbestimmung, ohne biologisches Verständnis für die archäologisch geborgenen menschlichen Überreste hätten Aussagen kaum eine Basis. Dies machte der Vortrag von K.W. ALT (Mainz) über Dimensionen von Alter und Geschlecht in der Ontogenese des Menschen ebenso deutlich wie die eindrucksvolle Vorführung der Thematik von Geschlecht und Familie anhand einer Analyse alter DNA durch J. BURGER (Mainz). Dennoch sollte unterstrichen werden, dass prähistorische Fragestellungen von der Archäologie auch mit Hilfe der Anthropologie gestellt werden sollten, weil sonst Fragen nach der gesellschaftlichen Rolle von Alter und Geschlecht verloren gehen und die Archäologie auf einen Teil ihres Untersuchungsfeldes verzichtet. Dieses hatte die Archäologin J. SOFAER DEREVENSKI (Southampton) in ihrem Vortrag anhand des Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen aufgezeigt, das durch physische Veränderungen im Lebenslauf auch in urgeschichtlichen Zeiten dargestellt werden kann.

Wie vergleichende Ethnographie zu Deutungen archäologischer Funde und Befunde führen kann, wurde in den zwei folgenden Beiträgen demonstriert. Die Bedeutung des Arbeitens mit Analogien hat im Fach eine Ethnologie lange Geschichte. Die Disziplin selbst hat in den letzten Jahrzehnten an ihrem eigenen Verfahren der Quelleninterpretation harsche Kritik geübt: sind nicht viele Auffassungen von Geschlechterrollen und Altersstufen bei "vorindustriellen Gesellschaften" Spiegelbilder westlicher Denkweisen des 19. Jahrhunderts? Diese Stereotypen werden oft noch immer von der Archäologie aufgegriffen, ohne diese quellenkritischen Ansätze in der Nachbardisziplin zur Kenntnis zu nehmen. Analogisches Arbeiten sollte auf einer Methodologie gründen. Ethnoarchäologie erfordert eine wissenschaftliche Systematik, wie L. R. OWEN (Tübingen) geschrieben hat und wie sie und in ihrem Beitrag zur bisher verkannten Rolle der Frauen und Alten in prähistorischen Wildbeutergesellschaften überzeugend darlegte. Die ethnologische Forschung hat sozialwissenschaftliche Fragen zu Alter und Geschlecht neu untersucht, die Verteilung von Aufgaben und Rollen unter den Generationen analysiert und damit neue Erklärungsansätze vorgelegt. Diese sind unbedingt von der archäologischen Forschung zu rezipieren. Das Referat zu ausgewählten Utensilien australischer Ureinwohnerfrauen von S. KÄSTNER (Tübingen) illustrierte dies. Ähnlich waren auch die Überlegungen zur archäologischen Verifikation von Geburtsvorgängen anhand von Gruben, wie sie im ethnologischen Material nachgewiesen und im archäologischen Befund bisher so nicht gedeutet wurden (S. BERGMANN, Neuwied).

Die Quellenlage einzelner Perioden der Urgeschichte erlaubt im unterschiedlichen Maße eine Untersuchung der hier interessierenden Fragen. Geeignet sind besonders Bestattungen und bildliche Darstellungen, die archäologisch auszuwerten sind. Seltene Reste organischer Werkstoffe lassen die Vielfalt materieller Kultur erahnen und belegen Tätigkeiten neben direktem Lebensunterhalt, die auch von physisch noch nicht oder nicht mehr leistungsstarken Gemeinschaftsmitgliedern erbracht werden konnten. Nachgewiesene Aktivitätszonen auf Siedlungsplätzen geben Raum zum Erkennen von alters- und geschlechtstypischem Handeln.

Die mainstream-Archäologie hat insbesondere die Herausbildung vertikaler Strukturen in den Mittelpunkt ihrer Forschung gestellt, so dass die Bedeutung horizontaler sozialer Verknüpfungen, wie sie alters- und geschlechtsbedingt entstehen konnten, häufig übersehen wird. Auch diese Tatsache war Anlass für weiterführende soziologische Betrachtungen in den Referaten von M. JUNG, (Frankfurt/M). und M. PAWLETA, (Poznan).

In den Beiträgen zur Altsteinzeit stellte sich die Frage, ob sich dort Altersrollen oder das gesellschaftliche Geschlecht überhaupt nachweisen lassen. Kinder die mit wertvollen Waffen ausgestattet wurden, zu deren Benutzung sie nicht in der Lage gewesen wären, wie z.B. in Sungir (Russland), oder auch Abbilder von Frauen im Jungpaläolithikum werden gerne als Beispiel für mögliche Aussagen dazu aufgeführt. Für die frühere Zeit bleibt die Möglichkeit zur Untersuchung dieser Problemstellungen jedoch fraglich, was T. WHITE (Durham) auszuloten versuchte. Hochinteressant war die Deutung von ca. 30.000 Jahre alten Mammutfiguren aus Südwestdeutschland als Symbol für die Frau und von Löwendarstellungen für den Mann, wie es M. PORR (Halle/Sa.) unter Einbeziehung ethologischer Faktoren zu diesen Tierarten darlegte.

Mit dem Auftreten von Gräberfeldern ab der Mittel-/Jungsteinzeit eröffnen sich dann unter Zuhilfenahme der Anthropologie enorme Möglichkeiten der Analyse der Fragen von Alter und Geschlecht, aber auch der fundierten Interpretationen des gesellschaftlichen Geschlechts, des Gender. Besondere Fundkategorien standen im Mittelpunkt zweier Referate zur Jungsteinzeit: zum einen die Rolle künstlicher Schädeldeformationen auf Zypern - häufiger und stärker ausgeprägt beim weiblichen Geschlecht (K. LORENTZ, Athen) -, zum anderen die Bedeutung von Geschlecht und sozialem Stand bei der berühmten Gletschermumie aus dem Ötztal (K. SPINDLER, Innsbruck).

Die Quellen aus der sich verändernden Welt der Bronzezeit bieten vielfältige Möglichkeiten, den Fragen nach Alter und Geschlecht besonders anhand der Ausstattung der Toten mit Schmuck, Waffen und Gerätschaften nachzugehen. Auf der Tagung hat M. L. STIG SØRENSEN (Cambridge) zunächst herausgestellt, dass es bisher nur in unbefriedigendem Maße gelungen ist, die Dynamik der Alters- und Geschlechtsbeziehung in urgeschichtlicher Zeit zu erkennen, was sie dann konkreter anhand ihrer Überlegungen zur mitteleuropäischen Bronzezeit ausführte. An weiteren Beispielen verschiedener Regionen Europas wurde das Erreichte dargestellt: zum einen in Griechenland am Beispiel der Schachtgräber von Mykene und an Beigaben in Kindergräbern mykenischer Zeit (S. VOUTSAKI, Groningen; CH. GALLOU, Tripolis), zum anderen in Mitteleuropa am Beispiel von Kinderbestattungen der frühen Bronzezeit (G. ZIPF Halle/Sa.) sowie zu Brandbestattungen der späten Bronzezeit (A. GRAMSCH Leipzig; F. SCHOPPER Frankfurt/O.). S. SABATINI stellte eine Studie zu Hausurnen des nördlichen Europas vor und M. SÁNCHEZ ROMERO bedachte anhand von Beigaben in Kindergräbern in Andalusien auch den Aspekt des Spielzeugs. Deutlich wurde bei diesen Referaten, dass insbesondere die anthropologische in engem Zusammenwirken mit der archäologischen Analyse neue Aspekte in der Frage zu Alter und Geschlecht hervorbringt, wie es beeindruckend im Beitrag von GRAMSCH gezeigt wurde.

Mit dem Eintreten in die Eisenzeit und der Möglichkeit, schriftliche Quellen bei der Deutung archäologischer Befunde hinzuzuziehen, eröffnet sich eine neue Perspektive, interessierende theoretische Fragen zu untersuchen und zu kommentieren. Dies klang in den Beiträgen von F. NIKULKA (Lübstorf) zu hallstattzeitlichen Gräberfeldern in Bayern, von J.N. NIELSEN (Aalborg) und von T. MAKIEWICZ (Poznan) zu kaiserzeitlichen Gräberfeldern an, und wurde beim interessanten Versuch von R. KARL (Bangor), Eigentumsformen und Rolle der Geschlechter für frühe keltische Gesellschaften zu erkennen, ganz in den Mittelpunkt gerückt. In der Diskussion wurde jedoch die Zulässigkeit der Ausgangsfragen auch aufgrund der Quellenlage infrage gestellt.

Schließlich kam auch zur Sprache, welchen Beitrag die prähistorische Archäologie leisten kann, um auch aktuelle Probleme unserer Gesellschaft verständlicher werden zu lassen, bzw. wie die Archäologie immer wieder benutzt wird, um Ansichten zur Gegenwart zu rechtfertigen. Entsprechende Verallgemeinerungen werden nicht nur durch wissenschaftliche Veröffentlichungen, sondern auch durch populäre Literatur, Kinderbücher und Ausstellungen verbreitet, was B. RÖDER (Basel) exemplarisch darstellte.

In der Abschlussdiskussion wurde herausgestellt, wie wichtig zuverlässige anthropologische Bestimmungen sind, um Aussagen zu Alter, Geschlecht und zur sozialen Rolle von Individuen und Gruppen zu erlangen. Die Ethnologie ist wiederum von Bedeutung, um überhaupt zu Fragen an das urgeschichtliche archäologische Material zu kommen. Gräber standen im Mittelpunkt für die Zeiten, in denen sie die Masse des Materials bilden. Diese sind dann verständlicherweise die wichtigste Quelle der gesellschaftlichen Darstellung. Deutlich wurde auch, dass Aussagen zur Rolle von Alter und Geschlecht in der Wirtschaft und im Ritus früher Zeit möglich sind. Es wurde folgerichtig gefordert, komplexe Modelle zur Interpretation archäologischer Befunde zu erarbeiten und das analogische Schlussfolgern zu verbessern. Dazu gehört auch, zu erkennen, dass es fließende Grenzen zwischen den Kategorien Mann, Frau, Kindern und Älteren gibt und dass zu starre Interpretationen letztlich hinderlich sind. Kultur hat ihre eigenen fließenden Konnotationen. Benötigt wird problemorientierte Forschung, die nicht bei der Ausbreitung prozentualer Anteile von Alter und Geschlecht mit Hilfe archäologischen Materials stehen bleiben darf.

Im Verlauf der Konferenz wurde auch für Außenstehende sichtbar, dass archäologische Quellen einzubeziehen sind, wenn es um Fragen von Alter und Geschlecht geht. Die biologische Bestimmung reicht nicht aus, wenn vergangene gesellschaftliche Zustände erforscht werden. Die Archäologie mit ihren spezifischen Methoden der Analyse und Bewertung kultureller Hinterlassenschaften ist unverzichtbar. Die vergleichenden Sozialwissenschaften, Soziologie und Ethnologie, stellen schließlich eine besondere Form des Korrektivs dar, da es durch sie häufig erst möglich wird, die eigene kulturelle Sicht zu reflektieren. Die Archäologie ist gefordert, um aus dem Zusammenspiel von Menschen und Objekten vergangenes Leben wiedererstehen zu lassen. Sie ist gefordert, Menschen und menschliches Handeln in der Vergangenheit sichtbar zu machen, was sie in eine kritische Beziehung zum bislang in der Urgeschichtsforschung Erreichten setzt. Es bleibt eine transdisziplinäre Aufgabe, die Frage nach dem Gewicht und der Beziehung von Alter und Geschlecht im Verlauf des Lebens zu untersuchen - individuell wie gesellschaftlich betrachtet.

Die Tagungsbeiträge werden im Jahrgang 45 der Ethnographisch-Archäologischen Zeitschrift als Doppelheft 2/3 im Mai 2005 erscheinen.

Kontakt

Dr. Ruth Struwe, wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte,
Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger