"Staatsgründung auf Raten?" Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR

"Staatsgründung auf Raten?" Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR

Organisatoren
Militärgeschichtliches Forschungsamt, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.04.2004 - 21.04.2004
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Von
Bernhard Chiari, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

Anliegen der Veranstaltung war es, die Folgewirkungen des 17. Juni 1953 sowie des Mauerbaus auf Politik, Militär und Gesellschaft der DDR zu untersuchen. Das Tagungsthema "Staatsgründung auf Raten?" griff als Leitmotiv die unter Historikern bislang nicht abschließend bewertete und auch während des Kolloquiums äußerst kontrovers diskutierte These auf, durch die Verfestigung des Herrschaftssystems der SED nach dem Volksaufstand sei es zu einer "inneren Staatsgründung" gekommen. Josef Rupieper näherte sich dem Thema durch die Analyse der internationalen Lage während des Kalten Krieges und skizzierte die Wirkungen des Volksaufstandes und des Mauerbaus auf die internationale Politik. Er analysierte die DDR insbesondere als Problem der amerikanischen Politik, weil diese an "Schnittpunkten von drei überlappenden Konflikten lag - der Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnis, der Entwicklung in Ost- und Mitteleuropa und der Beziehungen zur Sowjetunion" (Rupieper).

Fachhistoriker beleuchteten die Folgen der Ereignisse für das Militär- und Sicherheitssystem der DDR und die Wirtschaft des Landes sowie die Reaktionen der sowjetischen Truppen, der DDR-Justiz und des Ministeriums für Staatssicherheit. Zudem waren der Alltag der Bevölkerung, die sich verändernden Rahmenbedingungen für das Wirken von Opposition und Kirche, die DDR-Medien und ihre Widerspiegelung im Denken der Menschen, die Beziehung zwischen Volk und Volkspolizei sowie die Militarisierung der Gesellschaft in den fünfziger und sechziger Jahren Themen von Vorträgen.

An den Beispielen der Aufrüstung und Militarisierung der DDR verdeutlichten Torsten Diedrich und Clemens Heitmann eher kontinuierlich verlaufende Prozesse, die wesentlich stärker von der internationalen Konfrontation im Kalten Krieg und von den Bedürfnissen der Besatzungs- und späteren Führungsmacht im Warschauer Pakt - der UdSSR - determiniert wurden, als von Volksaufstand und Mauerbau. Deutlich wurde allerdings, dass nach dem Volksaufstand ein Prozess der "inneren Mobilmachung" des Sicherheitsapparates gegen Unruhen im DDR-Staat bis Anfang der sechziger Jahre ein wesentliches Moment bei der Ausgestaltung der Sicherheitsarchitektur durch die SED darstellte. Die Abschottung der Gesellschaft durch den Mauerbau ermöglichte einen noch intensiveren Zugriff der Herrschenden auf die Bevölkerung. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1962 und eine immer umfassendere Militarisierung der DDR-Gesellschaft spiegelten diese Entwicklung wider.

Thomas Lindenberger und Roger Engelmann zogen aus ihren Analysen der Volkspolizei und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) letztlich den Schluss, dass Volksaufstand und Mauerbau zwar nicht wegzudiskutierende Einflüsse auf beide Sicherheitsorgane gehabt hätten, die wesentlichen Entwicklungszäsuren jedoch nicht von den untersuchten Ereignissen bestimmt worden seien. Die Krisen 1953 und 1960/62 markierten Kulminationspunkte der beiden "Dauergefährdungen des Systems durch Protest und Abwanderung" (Engelmann) und dynamisierten die Entwicklung von Volkspolizei und MfS. Prägende Veränderungen beider Organisationen scheinen sie hingegen nicht bewirkt zu haben.

Die Thesen von Ilko-Sascha Kowalczuk (krankheitsbedingt nicht vorgetragen) legen demgegenüber eine doch sehr wesentliche Veränderung des Repressions- und Überwachungsapparates nach dem 17. Juni 1953 nahe. Kowalczuk betrachtet nicht nur die Sicherheitsorgane als solche, sondern bezieht die Partei-, Staats- und Gesellschaftsstrukturen insgesamt ein, die nachweislich nach dem Volksaufstand alle eine von der SED-Führung initiierte Säuberung und Überprüfung erfuhren. Nach seiner Deutung ließ erst die traumatische Erfahrung des 17. Juni 1953 "ein Disziplinierungs- und Unterdrückungssystem entstehen, dass mit dem Bau der Mauer seinen brachialsten Ausdruck fand". Erhart Neubert stützte aus der Sicht von Opposition und Kirche die Auffassung, dass beide Ereignisse tiefgreifende Zäsuren markieren, nachhaltig auf die Oppositionellen in der DDR wirkten und in ihren Folgewirkungen wesentlich zur Stabilisierung des SED-Herrschaftssystems beitrugen. Sie leiteten einen Wandel vom "klassischen" Widerstand, der mit konspirativen Mitteln dem System zu schaden versucht, hin zu einer legalen Opposition der Reform und Veränderung ein.

Weitere Referenten konstatierten mit Blick auf Volksaufstand und Mauerbau die Veränderungen in der Wirtschaft (Rainer Karlsch) und der Rechtsstellung der sowjetischen Truppen (Kurt Arlt) bis hin zu dramatischen Maßnahmen des DDR-Regimes zum Machterhalt im Innern bzw. veränderten Rahmenbedingungen für oppositionelles Handeln. Peter Hübner verdeutlichte das Krisenmanagement der SED mit Repression und sozialen Verbesserungen nach dem 17. Juni auf der einen und dem veränderten Zugriff auf die Bevölkerung nach dem Mauerbau auf der anderen Seite, die Resignation, aber auch Freiräume für die DDR-Bürger mit sich brachten. Zu ähnlichen Ergebnissen führten die Überlegungen von Stefan Wolle über die Wirkung auf die mentale Verfasstheit der DDR-Bevölkerung. Für die Bürger verbanden sich mit dem 17. Juni sowohl das Empfinden der Niederlage als auch das Hoffen auf Veränderungen im politischen System. Als die Mauer auch das letzte Schlupfloch in die Bundesrepublik verschloss und damit eine "geschlossene DDR-Gesellschaft" erzeugte, wuchs neben dem Anpassungsdruck auch die Suche nach Nischen im Innern.

Ein sehr konträres empirisches Bild der politischen Strafjustiz nach 1953 und 1961 vermittelte Falco Werkentin. Der Volksaufstand bewirkte eine eher zurückhaltende Abrechnung der Justiz mit den Systemgegnern, während den Mauerbau eine Phase des Justizterrors begleitete. Erst die Abriegelung der DDR ermöglichte eine Verfeinerung der Methoden politischer Strafjustiz und gar eine kurzzeitige Etappe der strafpolitischen "Liberalisierung".

Heike Amos, und Gerald Diesner griffen Probleme des strukturellen Ausbaus der SED-Herrschaft über den Parteiapparat sowie der Medieninszenierung des SED-Staates und deren Rezipierung durch die Adressaten auf. War der Volksaufstand eine Bewegung "von unten" gegen den Staat, handelte es sich bei der Sperrung der DDR-Grenze um eine initiierte Aktion der Herrschenden. Beide Ereignisse wurden in der offiziellen Meinungsbildung und im DDR-Geschichtsbild folglich entweder verdrängt oder als sozialistischer Sieg gefeiert.

Die Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, ob man tatsächlich von einer "inneren Staatsgründung" nach dem Volksaufstand sprechen könne. Da in der Mehrzahl der analysierten nationalen und internationalen Bereiche deutlich andere Einschnitte die Entwicklung bestimmten, und der verwendete Terminus politikwissenschaftlich und staatsrechtlich klar definiert sei, wurden die "innere Staatsgründung" als Modell mehrheitlich angezweifelt und stattdessen die Herausarbeitung von Konsolidierungsphasen der SED-Herrschaft befürwortet. Die Debatte vertiefte zudem den Blick auf die internationale Wirkung und erweiterte die Tagungsergebnisse um den Aspekt der bundesdeutschen Reflektion. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 verfestigten den Status Quo in Europa und verschärften Antikommunismus und Kalten Krieg. Zu gewichtigen Veränderungen in der Strategie führten sie hingegen auf beiden Seiten nicht. Demgegenüber erzwang der Mauerbau bei Strafe eines Nuklearkrieges die Akzeptanz der Teilung Europas in zwei divergierende Blöcke und Deutschlands in zwei selbständige Staaten. Er bildete damit letztendlich Grundlage und Ausgangspunkt des Umdenkens über die Strategie der "kleinen Schritte" hin zu einem Entspannungsprozess. Die Herausgabe eines Sammelbandes ist für 2005 geplant.

http://www.mgfa.de
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Deutsch
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