HT 2012: „What's the matter?“ Die Provokation der Stoffgeschichte

HT 2012: „What's the matter?“ Die Provokation der Stoffgeschichte

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Haumann, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Die Sektion des diesjährigen Historikertages, die mit dem Untertitel „Die Provokation der Stoffgeschichte“ angekündigt war, weckte von vorneherein hohe Erwartungen. Diese Erwartungen gründeten sich nicht nur auf dem Versprechen provokanter Fragen oder Thesen, sondern auch darauf, dass die Stoffgeschichte einem Forschungsfeld zuzurechnen ist, das zur Zeit en vogue ist. Frank Uekötter (München), der die Sektion leitete, verwies gleich in seiner Einführung auf das wachsende Interesse am „materiellen Substrat“ historischer Prozesse. 1 Die aktuelle Herausforderung an die Geschichtswissenschaft bestehe darin, die Bedeutung dieses „materiellen Substrats“ auszuloten, konzeptionell fassbar zu machen und in empirischen Studien zu überprüfen – genau darin liege das Potenzial der Geschichte einzelner Stoffe, von denen in der Sektion Schokolade, Asbest, Gold und Sojabohnen vorgestellt wurden.

Wie weit die Auswahl der Beiträge die Definition von „Stoffen“ als gegenständliche Produkte vorzeichnete wurde bereits in ANGELIKA EPPLEs (Bielefeld) Untersuchung zu Schokolade deutlich. Epple zeichnete den Weg der Schokolade von ihren mittelamerikanischen Ursprüngen bis zur Etablierung als standardisiertes Konsumprodukt des 20. Jahrhunderts nach. Ihr kam es dabei insbesondere auf die (westliche) Definition dessen an, was „Schokolade“ ist. Die Herausbildung einer einheitlichen Vorstellung von der Zusammensetzung des Stoffes, gefördert durch den zeitgleichen Aufstieg der Lebensmittelchemie als Wissenschaft, sei nicht nur wissens- und konsumgeschichtlich interessant, sondern prägte auch zunehmend die Beschaffung des Rohstoffs Kakao und dessen Verarbeitung, so Epple. Dies wiederum schlug sich in Entwicklung und Relationen des globalen Warenstroms nieder.

Der Übergang von Schokolade zu Asbest, mit dem sich PAUL ERKER (München) befasste, erwies sich als weniger abrupt als zu vermuten war. Zwar setze Erker Asbest als „prekären Stoff“ von anderen Stoffen ab, doch konzentrierte er sich gleichwohl ebenso auf die soziale Konstruktion von Wissen über und den gesellschaftlichen Umgang mit dem Stoff. „Prekär“ sei Asbest deshalb, weil dessen Eigenschaften extrem divergierende Interpretationen zulassen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als feuerfestes Baumaterial gefeiert, rückten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dessen krebserregenden Wirkungen in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung.

BERND-STEFAN GREWE (Freiburg im Breisgau) eröffnete seinen Vortrag über Gold mit dem Hinweis auf eine Divergenz anderer Art, nämlich die Diskrepanz zwischen der „Faszination“ des Stoffes und seinem äußerst geringen Gebrauchswert. Grewe blieb aber nicht dabei stehen, diese Diskrepanz auf kulturell konstruierte Zuschreibungen zurückzuführen, sondern erklärte sie mit den Eigenschaften des Materials, das über lange Zeiträume und unter widrigen Bedingungen seinen Glanz behält. Ebenso beschrieb er Abbau- und Verarbeitungsprozesse insbesondere mit Blick auf die materiellen Eigenschaften von Gold wie dessen Vorkommen in extrem geringer Konzentration im Untergrund und dessen guter Verarbeitungsfähigkeit. Entscheidend sei, dass diese Eigenschaften gesellschaftliche und auch politische Entwicklungen beeinflussten, wie Grewe eindrucksvoll am Scheitern des indischen Importverbots für hochkarätiges Gold in den 1960er-Jahren demonstrierte.

INES PRODÖHL (Washington) ergänzte die Gruppe der vorgestellten Stoffe um die Sojabohne. Deren Geschichte sei, ähnlich wie die der Schokolade, von globalen Transfers und Rekontextualisierungen gekennzeichnet. In den USA, heute führender Produzent des Stoffes, sei die Bohne als Ersatzstoff wegen ihres Ölgehalts eingeführt worden, während sie in ihren asiatischen Herkunftsländern als ganzes zubereitet würde. Die Einführung im Kontext der Kriegswirtschaft sei auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die kulturelle Bedeutung der Sojabohne in den USA – etwa im Vergleich zu Mais – deutlich hinter ihrer ökonomischen Bedeutung zurückbleibe. Dieses Beispiel zeige, so Prodöhl, dass die Untersuchung einzelner Stoffe neue Erkenntnisse am Schnittpunkt von Wirtschafts- und Kulturgeschichte liefern könne.

Während Uekötters Diagnose des wachsenden Interesses der Geschichtswissenschaften an „Materialität“ durch die Sektion eindrucksvoll belegt wurde, zeigten die einzelnen Präsentationen und die anschließenden Diskussionsbeiträge, dass man sich dieser Herausforderung eher tastend annähert. Tatsächlich erscheint es so, als ob die kulturwissenschaftliche Prägung historischer Forschung bei der Analyse von Stoffen bestimmte Interpretationen vorzeichnet. So standen bei den einzelnen Beiträgen überwiegend nicht die Stoffe selber, sondern genaugenommen die Wahrnehmung von und der Diskurs über diese Stoffe im Vordergrund. Weitergehenden Anregungen, materielle Eigenschaften als eigenständige Faktoren in die Analyse einzubeziehen, wie dies etwa Grewe am Beispiel von Gold nahegelegt hatte, wurde auch in der Diskussion kaum nachgegangen. In dieser Beziehung war eine gewisse Skepsis des Podiums wie des Publikums unverkennbar – und dies vermutlich auch zu Recht. Denn die Forderung danach, Stoffen eine gewisse „Agency“ zuzuerkennen, steht zwar im Raum – auch in dieser Sektion fiel der Name Latour –, aber wie sich dies in historischen Studien konkret umsetzen lässt und worin der Erkenntnisgewinn bestehen kann, wurde auch hier nicht hinreichend deutlich.

Wenn die Sektion nicht weiter auf das Desiderat einging, das „materielle Substrat“ der Stoffgeschichte zu diskutieren, so bot sie doch wichtige Einsichten in das, was eine Stoffgeschichte leisten kann. Alle Referenten verwiesen explizit auf die globale Dimension der von ihnen untersuchten Stoffströme und hoben hervor, dass sich an Hand der Untersuchung des jeweiligen Stoffes komplexe Verflechtungen rekonstruieren ließen. Darunter fassten die Beiträge sowohl Spannungsverhältnisse zwischen Orten der Gewinnung und Orten des Verbrauchs als auch Prozesse der Rekontextualisierung. Diese Prozesse führten dazu, wie Prodöhl für die Sojabohne zeigte, dass Stoffströme zwar zur globalen Integration beigetragen haben, aber diese Integration durch spezifische Bedeutungszuschreibungen überlagert war. Allgemein bestand Einigkeit darüber, dass Stoffgeschichten ein geeignetes Mittel seien, um Untersuchungen auf der Makro- und Mikroebene miteinander zu verknüpfen. Über die Auseinandersetzung mit einem Stoff sei es möglich, lokale Bedingungen von Herstellung, Transport und Konsum detailliert zu betrachten und gleichzeitig wechselseitige Abhängigkeiten und die globale Relevanz dieser Abhängigkeiten in den Blick zu nehmen. Insgesamt lässt sich als Ergebnis der Sektion festhalten, dass das unumstrittene Potenzial der Stoffgeschichte darin liegt, ein probates Narrativ für die Globalgeschichte zu bieten. Das ist eine nützliche Erkenntnis, befriedigt aber nicht ganz die hohen Erwartungen an die angekündigte „Provokation der Stoffgeschichte“.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Frank Uekötter (München)

Angelika Epple (Bielefeld): Schokolade

Paul Erker (München): Asbest

Bernd-Stefan Grewe (Freiburg im Breisgau): Gold

Ines Prodöhl (Washington): Mehr als Tofu? Kultur- und wirtschaftsgeschichtliche Herausforderungen an die Sojabohne

Anmerkung:
1 Vgl. HSK Redaktion: H-Soz-u-Kult Debatte zu „Ressourcen“ in den Geschichtswissenschaften: 1. Teil, in: H-Soz-u-Kult, 20.09.2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=1876&type=diskussionenonen (09.10.2012).