Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie. Württembergische Psychiatriegeschichte im regionalen, nationalen und internationalen Vergleich

Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie. Württembergische Psychiatriegeschichte im regionalen, nationalen und internationalen Vergleich

Organisatoren
Forschungsbereich Geschichte der Medizin, Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm
Ort
Zwiefalten
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.06.2012 - 15.06.2012
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Von
Waltraud Ernst, Department of History, Philosophy and Religion, Oxford Brookes University/UK; Bernd Reichelt, Forschungsbereich Geschichte der Medizin, ZfP Südwürttemberg, Zwiefalten; Uta Kanis-Seyfried, Forschungsbereich Geschichte der Medizin, ZfP Südwürttemberg, Ravensburg

Die Organisatoren dieser internationalen wissenschaftlichen Tagung hatten sich eine Aufgabe gestellt, wie sie erst in allerjüngsten Forschungszusammenhängen und vereinzelt thematisiert wurde. Für die Annäherung an das Forschungsthema „Zentrum und Peripherie“ bot sich der Tagungsort der Zwiefalter Klinik geradezu an: im Süden Württembergs, tief in der Provinz am Fuß der Rauen Alb und weitab großer Städte und Verbindungsstraßen gelegen, gehört die 1812 gegründete psychiatrische Anstalt Zwiefalten (heute Standort einer Landespsychiatrie) neben Bayreuth, dem Pirnaer Sonnenstein und wenigen anderer (zumal heute noch existenter) Klinikstandorten zu den ältesten deutschen Einrichtungen für die Versorgung sogenannter Geisteskranker. Ihrem peripheren Standort zum Trotz war sie in den zwei Jahrhunderten ihres Bestehens immer wieder auch Zentrum zeitgenössischer Interessenlagen, Politik und Entwicklungen. Im 20. Jahrhundert war es die unrühmliche Rolle des Hauses unter anderem als „Zwischenanstalt“ im Räderwerk der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Strategie, die Beihilfe zur Ermordung sogenannter geisteskranker und behinderter Menschen in der nahe gelegenen Tötungsanstalt Grafeneck, die den bis in die 1920er-Jahre dauernden, in vielerlei Hinsicht positiven Entwicklungen der sich zunehmend öffnenden Anstaltspsychiatrie ein vorläufiges Ende setzte.

Einen Höhepunkt der öffentlichen Abendveranstaltung zu Beginn der Tagung stellte die Einführung in eine Wechselausstellung dar, die zurzeit im Württembergischen Psychiatriemuseum in Zwiefalten zu sehen ist. Die an der Universität Innsbruck sowie dem Landesarchiv Bozen (Italien) angesiedelte wissenschaftliche Arbeitsgruppe eines Interreg-Projekts der EU zur Geschichte der psychiatrischen Landschaft des historischen Tirol stellte die Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“ vor. LISA NOGGLER-GÜRTLER (Wien/Stans), CELIA DI PAULI und ERIC SIDOROFF, MARIA HEIDEGGER und ELISABETH DIETRICH-DAUM (alle Innsbruck) führten nach dem Vortrag anschließend durch die Ausstellung. Die allein mit kunstvoll und kreativ konstruierten Möbeln und biographischen „Fallgeschichten“ arbeitende Ausstellung widmet sich dem Schicksal 30 exemplarisch ausgewählter Psychiatriepatientinnen und -patienten, die im historischen Raum Tirol zwischen 1830 und den 1970er-Jahren behandelt wurden, unter anderem in den Anstalten Hall i.T. und Innsbruck, sowie Pergine bei Trento. Wie die Ausstellung verdeutlicht, sind die „psychiatrischen Landschaften“ Tirols und Südwürttembergs auch aufgrund des deutsch-italienischen Optionsabkommens zwischen Hitler und Mussolini zwischen 1940 und 1942 aufs Engste miteinander verknüpft.

Nach diesem öffentlichen Tagungsauftakt folgten zwei Tage nicht-öffentlicher Debatte der Forschungsbeiträge von 11 Referentinnen und Referenten. Die erste Sektion unter dem Motto Psychiatriegeschichte in Württemberg, die den shifting boundaries zwischen Zentrum und Peripherie gewidmet war, wurde von Waltraud Ernst (Oxford) geleitet. JULIA GRAUER (Tübingen) stellte die Ergebnisse ihrer Untersuchung der „Privatirrenpflegeanstalt“ der Wundärzte Irion und Koch in Fellbach, 1843-1891 vor; insbesondere im Hinblick auf die personellen und institutionellen Verhältnisse in einer solchen Anstalt im Vergleich zu größeren, vor allem staatlichen Anstalten. Grauer stellte mit dem Fokus auf eine Privatirrenanstalt das ‚Periphere‘ ins Zentrum ihrer Betrachtung. Für die Psychiatriegeschichte Württembergs bedeutet dies, Neuland zu betreten. Denn beispielsweise im Unterschied zur britischen Medizinhistoriographie sind deutsche Privateinrichtungen der Versorgung psychisch Kranker in historischer Perspektive noch immer wenig untersucht. In diesem Zusammenhang wurden die Biographien der beiden Wundärzte vorgestellt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie die örtlichen Gegebenheiten in Fellbach untersucht, Patientenunterlagen ausgewertet und drei Krankengeschichten nachgezeichnet.

UTA KANIS-SEYFRIED (Ravensburg) stellte in ihrem Referat die württembergische Anstaltszeitung „Schallwellen“, vor, die in den Jahren 1897 bis 1936 in der Heil- und Pflegeanstalt Schussenried herausgegeben wurde. Am Beispiel von in der Zeitung veröffentlichten Gedichten, Lebenserinnerungen, Kommentaren und Briefen wurde zunächst die Vernetzung von Mikro- und Makrogeschichte, d.h. die Einbettung des Individuums und seiner Lebenswelt in systemisch konstruierte Wirklichkeitsbereiche (Politik, Institutionen und Marktwirtschaft) bzw. in zeitgenössische gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen verdeutlicht. Fokussiert auf das Tagungsthema zeigte sich bei näherer Betrachtung, dass die Vorstellungen von „Zentrum“ und „Peripherie“ wechselseitige Beziehungen eingehen, auch austauschbar sind, über die Zeit, und sich in ihrer Zuordnung an der historiographischen Perspektive ausrichten (können). Beeindruckend waren hier Flexibilität und Permeabilität der – zum Teil vermeintlichen, realiter oder historiographisch nur postulierten – Grenzen. Letztendlich beeinflusst und bestimmt die Blickrichtung von Akteuren und Forschern, wo jeweils „Zentrum“, und wo „Peripherie“ zu verorten sind.

CAY-RÜDIGER PRÜLL (Mainz) befasste sich mit der benachbarten badischen Psychiatrie. Prüll zeigte am Beispiel der Region Freiburg und ihrer beiden psychiatrischen Einrichtungen, dem psychiatrischen Krankenhaus Emmendingen und der Freiburger Universitätsklinik, dass die Bindung von Zentrum und Peripherie an unterschiedliche psychiatrische Konzepte Überschneidungen aufwies, sehr akteur-orientiert war und unterschiedliche Spielräume eröffnete. Dabei wurde Prüll zufolge zugleich die Gewichtung von Zentrum und Peripherie in Abhängigkeit vom politischen Kontext zwischen den verschiedenen Akteuren immer neu ausgelotet – ein Befund, der nach bisherigem Wissen für wesentliche Teile der Psychiatriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auch verallgemeinert werden könne. Auch in Bezug auf beispielsweise die britische Psychiatriegeschichtsschreibung bedeuteten Prülls Thesen eine Herausforderung, da seine Befunde keine eindeutige universitäts- und forschungsgeleitete deutsche Psychiatrie vermitteln (wie sie in Großbritannien mitunter verstanden wurde), wie auch die britische Psychiatrie nicht dem Bild einer streng institutionsgebundenen Disziplin entspricht.

HEINER FANGERAU (Ulm) ging auf das im 19. Jahrhundert sich ausbreitende Krankheitsbild der sogenannten Neurasthenie ein sowie auf die konstitutionellen Versuche, diese psychische Störung außerhalb der etablierten Heil- und Pflegeanstalten, quasi an deren Peripherie, in privaten Sanatorien und Spas, zu behandeln. Unter dem Begriff der Neurasthenie waren Symptome wie Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit oder konstante Erregung zusammengefasst. Die Erkrankung selbst wurde, wie Fangerau am Beispiel der Einrichtungen der Göttinger Rasemühle (Provinz Hannover) zeigte, als körperliche und seelische Reaktion mit den sich drastisch verändernden Lebensumständen im Zuge des industriellen Zeitalters in Verbindung gebracht, wobei entsprechende Therapieangebote sich zunächst nur an großbürgerliche und vor allem zahlungskräftige Kunden richteten. Da aber bald deutlich wurde, dass auch die unteren sozialen Klassen an Neurasthenie litten, warnten mehrere Psychiater vor einer Chronifizierung des Leidens und der darauf folgenden großen Zahl arbeitsunfähiger Kranker, evtl. im Sinne einer Marginalisierung dieser Beschwerden. In diesem Beitrag analysierte Fangerau die Entwicklung der Volksnervenheilstätten in Deutschland zwischen 1900 und 1920 als Versuch, eine „erste Verteidigungslinie“ in der Peripherie der psychiatrischen Krankenhäusern zu schaffen, die chronischen psychiatrischen Erkrankungen vorbeugen und deren „Eindringen“ in zentrale psychiatrische Einheiten verhindern sollte.

SEBASTIAN KESSLER (Ulm) eröffnete die II. Sektion, die der deutschsprachigen “Psychiatriegeschichte in interregionaler bzw. deutsch-kolonialer Perspektive“ gewidmet war. Kessler stellte ein Projekt, zusammen mit Heiner Fangerau, vor, dessen Erkenntnisinteresse sich auf die „Auswirkung von Stadt-Land-Beziehungen auf psychiatrische Fallzahlen und Diagnosespektren in Zeiten von sozioökonomischen Krisen“ konzentriert. In diesem historisch-epidemiologischen Beitrag vertrat Kessler die These, dass die Fallzahl von psychiatrischen Patienten im ländlichen Gebiet im Verlauf von sozioökonomischen Krisen sowohl ansteige, als auch, dass Diagnosen von geistigen Erkrankungen zunähmen, die im Zusammenhang mit Armut und sozialer Ungleichheit stünden. Ausgewertet wurden die Standlisten der Psychiatrie Günzburg während der Weltwirtschaftskrise von 1929 (Untersuchungszeitraum 1929–1931), sowie der Weltwirtschaftskrise von 1973 (Untersuchungszeitraum 1973–1975).

MONIKA ANKELE (Hamburg/Wien) ging der Frage nach, inwieweit bei der Planung und Errichtung einer psychiatrischen Anstalt auch verkehrstechnische Überlegungen mit einbezogen wurden und welche Argumente bezüglich der Anbindung einer Krankenanstalt an ein städtisches Zentrum wie auch an umliegende Gemeinden vorgebracht wurden. Den Fokus auf Bewegungen – welcher Art auch immer – zu legen, die sich zwischen Peripherie und Zentrum bzw. wie hier zwischen Anstalt und Stadt vollziehen, bedeutet zugleich auch - wie der Beitrag auf beeindruckend kreative Art und Weise zeigen konnte: psychiatrische Anstalten nicht als „Welten für sich“ zu denken, sondern sie – im übertragenen, wie auch im wortwörtlichen Sinne – an die (Außen-)Welt anzubinden, sowie vice versa deren Nutzungsverhalten der Anstalt in den Fokus zu nehmen. Ein weiterer Aspekt der Forschungen Ankeles weist auf die sich verändernde Selbst- und Fremdwahrnehmung der damaligen psychiatrischen Anstalten bzw. der sie Vertretenden / Beurteilenden: Ursprünglich „peripher“ konzeptioniert und etabliert (außerhalb der Metropole) wurden die Einrichtungen, auch infolge von Industrialisierung- und Urbanisierungsprozessen zunehmend „zentrums-nah“ – die von Ankele ins Spiel gebrachte Symbolik der „Linie“ wurde als solche: „kürzer“. Dies korrespondiere Ankele zufolge auch mit dem Wandel der Wahrnehmung und dem zunehmenden Wunsch von Angehörigen der PatientInnen sowie Angestellten der Einrichtung. STEFAN WULF (Hamburg/Berlin) berichtete von 32 Fällen aus dem historischen Krankenakten-Bestand der Irrenanstalt Friedrichsberg in Hamburg, bei denen die Patienten unmittelbar vor Aufnahme in die Anstalt aus den afrikanischen Kolonialgebieten zurückgekehrt waren. Dies betraf unter anderem Offiziere, Soldaten oder Kolonialbeamte. Die überlieferten Krankengeschichten und Gutachten machen es möglich, Wahrnehmung, Deutung sowie Be- und Verhandlung des Wahns auf drei Ebenen zu fassen: erstens in der Kolonie, zweitens in der Hamburger Anstalt sowie drittens während der Schiffs-Passage als einer spezifischen Schwellenphase zwischen kolonialer Peripherie und europäischer Kolonial-Metropole. Dadurch wurde, Wulf zufolge, ein „Changieren“ des Wahns im Kontext stark differenter Räume und Bedingungen sichtbar, eine wiederholte Verschiebung der (ärztlichen) Perspektiven und Zielsetzungen im Umgang mit den Betroffenen. Die im Vergleich zu anderen Kolonialmächten divergierende Situation des Deutschen Reichs ‚nach Versailles‘ wurde abschließend ebenso diskutiert, wie der Beginn der Versuche mit künstlicher Malariainfektion bei progressiver Paralyse in der Friedrichsberger Anstalt.

WALTRAUD ERNST (Oxford/UK) ermöglichte mit ihrem Beitrag einen vergleichenden Blick auf das Vereinigte Königreich und seinen indischen Kolonialraum. Den Fokus ihrer Ausführungen legte Ernst auf die verschiedenen Sichtweisen der jeweiligen Akteure auf die ‚indische Psychiatrie‘ vor dem Zweiten Weltkrieg. Hierbei, so Ernst, zeigten sich jeweils deutliche Unterschiede sowohl zwischen Ideen und Haltungen britischer Regierungsvertreter und Ärzten im Mutterland (Zentrum), den Praktizierenden in der indischen Kolonie (Peripherie), als auch zwischen britischen Psychiatern mit Arbeitsort in Indien und deren westlich ausgebildeten Kollegen. West gegen Ost-Divisionen und die Zentrum-Peripherie-Dichotomie fanden darüber hinaus in Gesundheitspolitik und professioneller Akkreditierung ihren Niederschlag und beeinflussten Wahrnehmungen und Beziehungen zwischen dem indischen und britischen medizinischen Personal in der Kolonie.

Die Psychiatriegeschichte jenseits des Nationalstaats war Gegenstand der III. Sektion dieses Tagungsprogramms, deren erster Beitrag der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet war: THOMAS MÜLLER (Ravensburg) stellte in seinem Beitrag zur Forschung über die Psychiatriegeschichte im Nationalsozialismus Methoden, ‚Gegenstände‘ und Erkenntnisinteresse eines noch jungen Forschungsprojekts vor, an dem mehrere Forscherinnen und Forscher beteiligt sind. Erste Ergebnisse wurden vorgestellt, ein aktueller Stand der Teilprojekte referiert. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Geschichte der südwestdeutschen Psychiatrie im Nationalsozialismus, ihre Vorbedingungen, wesentliche Entwicklungsschritte sowie Konsequenzen für die Medizin. Vor dem Hintergrund bekannter, auch überregionaler bzw. internationaler Forschungsarbeiten zum Thema, werden regionale Besonderheiten und Fallstudien als mikrohistorischer Beitrag der Forschung beigestellt. Im zweiten Teil diskutierte Müller lebensweltliche Aspekte medizin- und psychiatriehistorisch Arbeitender - und veranschaulichte dies wiederum am eingangs vorgestellten Projekt zur Thematik der Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Betrachtung des Spannungsfelds psychiatriehistorischer Forschung zwischen öffentlichem Interesse am Thema und den Zielen akademisch-wissenschaftlichen Arbeitens zum Gegenstand schloss den Vortrag ab.

AKIRA HASHIMOTO (Nagoya/Japan) ging in seinem Vortrag auf die engen Beziehungen deutscher und japanischer Psychiatrie ein. Er fokussierte auf jene, bisher wenig bearbeitete Phase der Psychiatrie Japans, die bereits von einer beginnenden Ablösung der japanischen Psychiatrie von der deutschen Academia, und eine Hinwendung zur nordamerikanischen Medizin geprägt war. Allerdings fokussierte Hashimoto hier mit der Wahl seines Untersuchungsgegenstands und im Sinne einer Kontrastierung auf jene informelle Gruppe japanischer Ärzte, die an deutschen Konzepten, Lehren, an der Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen festhielten. Vor allem Uchimura Yûshi, der von 1923 bis 1925 in München studierte und 1936 zum ordentlichen Psychiatrieprofessor der Universität Tokio ernannt wurde, erwies sich auch nach akademischer Umorientierung hin zum Angelsächsischen als einer der führenden Vertreter der deutschen Psychiatrie in Japan. Hashimoto nahm ausführlich zu weiteren deutsch-japanischen Wissenschaftsbeziehungen der Psychiatrie Stellung, und skizzierte auch den Einfluss dieser Beziehungen auf Lehrstuhlbesetzungen exemplarisch.

AKIHITO SUZUKI (Yokohama/Japan) porträtierte und analysierte in seinem Vortrag die Entwicklung japanischer psychiatrischer Forschung und das Erschließen neuer Zusammenhänge und Problemstellungen der Akteure derselben, die schließlich in den 1950er-Jahren in Theorie, politischen Entscheidungen sowie im wissenschaftlichen Diskurs ihren Niederschlag fanden. Ausgangspunkt war die in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren begonnene Untersuchung von Geisteskrankheiten in vor-definierten ‚Gruppen‘ (Kriminelle, Prostituierte und geistig behinderte Kinder) sowie die psychiatrische Untersuchung von Kranken in geographischen Randgebieten, wie etwa auf kleineren Inseln oder in abgelegenen Dörfern Japans. In diesem Zusammenhang wiederum machte besonders der bereits von Hashimoto im vorausgehenden Beitrag hervorgehobene Psychiater Uchimura Yûshi von sich reden. In seine Forschungskonzeptionen zum Verständnis sogenannter Geisteskrankheiten der Ethnie der Ainu aus dem Jahr 1938 sowie der psychisch Kranken der Inseln Hachijô und Miyake, um 1940, flossen auch evolutionstheoretische sowie eugenische Ideen und Vorstellungen ein, die in der deutschen Psychiatrie zum Repertoire gehörten. Suzuki konnte plausibel aufzeigen, in welch überraschendem Maß die Entwicklung und Konzeptionierung der japanischen Psychiatrie seines Untersuchungszeitraums von der Idee, der Umsetzung und den Ergebnissen der „psychiatric surveys“ peripherer Gesellschaften, peripher-geographischer Räume und marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen geprägt war. Als stärkster Einfluss der im internationalen Vergleich lange Zeit prominenten deutschen Psychiatrie in Japan war Suzukis Ansicht nach die Anlehnung an die Idee eines standardisierten diagnostischen Systems zu verzeichnen. Ganz besonders interessant für die Historiker der deutschen Psychiatrie war an beiden Referaten der japanischen Kollegen Hashimoto und Suzuki, wie deutlich sich japanische Psychiater von radikaleren Vorschlägen zur Umsetzung eugenischer Prinzipien distanzierten.

Ein Ziel der Konferenz war die Annäherung an das Thema im interdisziplinären Dialog. Die genannten Teilnehmenden sind ‚beheimatet‘ in der Allgemeingeschichte, der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, den Empirischen Kulturwissenschaften, den Medienwissenschaften, der Museologie, der Kunst(-geschichte), sowie der Anthropologie. Die Veröffentlichung zentraler Tagungsbeiträge ist in Vorbereitung.

Konferenzübersicht:

Kurzvorträge:

Uta Kanis-Seyfried: Eine kurze Geschichte der Klinik Zwiefalten

Bernd Reichelt: Zum Forschungsstand der Psychiatriegeschichte Württembergs

Veronika Holdau: Aus dem Reisetagebuch Carl von Schaeffers

Martina Henzi: Der württembergische Psychiater Maximilian Anton Sorg

Lisa Noggler-Gürtler, Celia di Pauli, Eric Sidoroff, Elisabeth Dietrich-Daum, Maria Heidegger: „Ich lasse mich nicht für einen Narren erklären“/„Non vi permetterò più di farmi passare per matto“. Eine Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol – Südtirol – Trentino.

Sektion I: Psychiatriegeschichte in (Süd-) Württemberg

Julia Grauer, Universität Tübingen: Die Privatirrenpflegeanstalt der Wundärzte Irion und Koch in Fellbach, 1843–1891

Uta Kanis-Seyfried, ZfP Südwürttemberg: Erbfeindschaft, Kriegsbegeisterung und die ‚Post aus dem Schützengraben‘. Zeitgeschichte in der württembergischen Anstaltszeitung ‚Schallwellen‘, 1897–1936

Cay-Rüdiger Prüll, Universität Mainz: Zentrum und Peripherie in der Badischen Psychiatrie. Zur Geschichte der Kliniken in Freiburg und Emmendingen, ca. 1850 bis 1945

Sebastian Kessler/ Heiner Fangerau, Universität Ulm: Auswirkung von Stadt-Land-Beziehungen auf psychiatrische Fallzahlen und Diagnosespektren in Zeiten von sozioökonomischen Krisen

Sektion II: Psychiatriegeschichte in interregionaler Perspektive

Heiner Fangerau, Universität Ulm: Action perspectives in the periphery of psychiatry: the Volksnervenheilstätten movement between 1900 and 1920

Monika Ankele, Universität Hamburg/Wien: Eine Chronik der Linie. Über die Annäherung von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Krankenanstalt Langenhorn bei Hamburg

Stefan Wulf, Universität Hamburg/Berlin: Kolonialer Wahn – Patienten aus den „Schutzgebieten“ Afrikas in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg (1900 -1915/20)

Waltraud Ernst, Oxford Brookes University, Oxford / UK: Centres, Peripheries and Transnational Psychiatries: The Case of British India, c. 1925 -1940

Sektion III: Psychiatriegeschichte jenseits des Nationalstaats

Thomas Müller, ZfP Südwürttemberg /Universität Ulm: NS-Psychiatrie im deutschen Südwesten. Internationale Verwicklungen der Akteure – internationaler Blick auf NS-Deutschland.

Akira Hashimoto, Aichi Universität Nagoya/Japan: Japanische Psychiater „zwischen“ den akademischen Zentren der Psychiatrie der westlichen Hemisphäre. Uchimura Yushi (1897–1980) und seine Zeitgenossen

Akihito Suzuki, Keio University, Yokohama /Japan: The pathology and the self of middle-class in early-20th-century Tokyo. Psychiatric Surveys of Peripheral Populations in Japan in the 1930s and 40s


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