HT 2012: Zensur – Konflikte um die intellektuelle Ressource Wissen in Mittel- und Osteuropa 1945–1989

HT 2012: Zensur – Konflikte um die intellektuelle Ressource Wissen in Mittel- und Osteuropa 1945–1989

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Gerald Volkmer, Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa durch KONRAD GÜNDISCH (Oldenburg) und BURKHARD OLSCHOWSKY (Warschau) initiierte Sektion verfolgte das Ziel, Zensur als Mittel zur Beschneidung und Kontrolle von Wissen in den kommunistischen Regimen Mittel- und Osteuropas zu untersuchen und diese als Indikator für die politische Handlungsfähigkeit der jeweiligen Systeme zwischen 1945 und 1989 zu deuten. In seiner Einführung hob Moderator Burkhard Olschowsky die Unterschiede in der Zensurpraxis der einzelnen Staaten hervor, die sich vor allem in den Konflikten und Aushandlungsprozessen zwischen Staatsapparaten und verschiedenen Gruppen (Schriftsteller, Künstler, Publizisten, Historiker) manifestierten. Olschowsky betonte vor diesem Hintergrund die Bedeutung des Vergleichs, den die Sektion zwischen der DDR, der Tschechoslowakei, Polen und der Sowjetunion ziehen wolle.

JAKUB TYSZKIEWICZ (Breslau) eröffnete die Sektion mit einem kompakten Überblick über vier Jahrzehnte Zensurpraxis in Polen. Die Machtübernahme der Kommunisten in Polen bedeutete die Einführung der Präventivzensur nach sowjetischem Muster. Das zu diesem Zweck 1946 gegründete „Hauptkontrollamt für Presse, Publikationen und Aufführungen“ sollte einerseits systemrelevante Inhalte in der Öffentlichkeit durchsetzen und Entscheidungen der Regierung in der Gesellschaft positiv darstellen. Andererseits sollten alle regimekritischen Äußerungen durch Interventionen und Verbote eliminiert werden. Manipulation und Selektion von Informationen erfolgten auch über die Selbstzensur der Autoren und die Personalpolitik der Regierung, die leitende Positionen durch Mitglieder der kommunistischen Partei besetzte. Mit einem besonderen Schwerpunkt ging der Referent auf die Einflussnahme des Regimes im Wissenschaftsbereich ein. Vor allem die polnisch-russischen Beziehungen seit dem Mittelalter wurden im Sinne der sozialistischen Verbrüderungsideologie umgeschrieben. Polnisch-russische Konflikte, zum Beispiel die Teilungen Polens im späten 18. Jahrhundert oder der Polnisch-Sowjetrussische Krieg 1919–1921 wurden weitgehend verschwiegen. Gerade am Beispiel der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs konnte Tyszkiewicz das enorme geschichtspolitische Konfliktpotenzial aufzeigen, das von der Zensur „entschärft“ werden musste – vom im Auftrag Stalins begangenen Massenmord in Katyn 1940 bis zum Verlust der polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion. Schließlich ging der Referent auf die wichtige Rolle der 1945 „wiedergewonnenen“, ehemals zu Deutschland gehörenden, polnischen Westgebiete für die Legitimation der kommunistischen Regierung ein, die 1946 ausdrücklich Berichte über „negative Ereignisse“ aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien untersagte. Zusammenfassend beschrieb Tyszkiewicz die verschiedenen Rollen, die ein Zensor einnehmen konnte: diskreter Aufseher, Berater, Staatsanwalt, Verifizierender und schließlich Koautor. Eine Missachtung der Zensurbestimmungen hatte für den Betreffenden die Einschränkung oder ein Verbot von Meinungsäußerungen in den Medien der staatlich kontrollierten Öffentlichkeit zur Folge. Diese Sanktionsmechanismen und Disziplinierungsmaßnahmen änderten sich unter dem Druck der Entstalinisierung von 1956 und vor allem der Solidarność-Revolution von 1980. Ursprünglich wurden Eingriffe der Zensur in Publikationen nicht vermerkt. Unter dem Druck der Gewerkschaft „Solidarność“ wurde 1981 das Zensurgesetz dahin gehend geändert, dass entfernte Textfragmente gekennzeichnet werden mussten. Im Gegensatz zu anderen kommunistischen Staaten konnte ab Mitte der 1970er-Jahre die Zensur zum Teil durch Untergrundpublikationen umgangen werden, die von einer unabhängigen, in den 1980er-Jahren an Breite gewinnenden Verlagslandschaft herausgegeben wurden.

IVO BOCK (Bremen) lenkte den Blick auf Zensurkriterien und Zensurpraxis in der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Besonders für die Periode zwischen dem Beginn der 1960er- und den frühen 1980er-Jahren stellte der Referent fest, dass die Zensurpraxis keineswegs einer konsequenten Anwendung der von den kommunistischen Parteien ersonnenen ideologischen Kriterien entsprach. Im Gegensatz zu den Massenmedien, vor allem Funk und Fernsehen, die bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft einer strikten Kontrolle unterworfen blieben, taten sich im Kulturbereich Freiräume auf. Zensoren genehmigten manchmal literarische Werke und Theateraufführungen, die den Mustern des „sozialistischen Realismus“ mehr oder weniger deutlich widersprachen. Dabei handelte es sich einerseits um Fehlentscheidungen oder Unterlassungen einzelner Kontrolleure, die meistens im Nachhinein als solche erkannt und sanktioniert wurden. Andererseits sah sich die Zensur gezwungen, aus ihrer Sicht problematische Publikationen, Aufführungen oder Ausstellungen zu genehmigen, weil sie dazu von Parteiorganen oder prominenten Kommunisten angehalten wurde. Parteifunktionäre setzten Publikationen gegen das Votum der Zensurbehörde durch, um politischen Gegnern im Zentralkomitee der Partei zu schaden. Gerne mischte sich Chruščev in Entscheidungen über die Freigabe von Filmen ein, so zum Beispiel 1963, als er die Zensoren anwies, die Aufführung des Fellini-Films „8 ½“ zu genehmigen. Ivo Bock ging auch auf Fälle ein, in denen Zensoren mit den Zensierten Kompromisse schließen mussten. Dies betraf in einigen Fällen die tschechoslowakische Filmbranche, vor allem wenn es sich um Regisseure mit guten Kontakten zur Parteispitze handelte. Die Angst vor Kritik im Westen machten sich einige Autoren zu Nutze, indem sie mit den Zensoren Freiräume für ihre Werke aushandelten, nachdem sie zum Beispiel mit der Absage ihrer Veranstaltungen gedroht hatten. Diese Vorgänge illustrieren die zumindest phasenweise vorhandene Bereitschaft der Funktionäre, die Existenz von Nischen im Kulturleben hinzunehmen. Die „liberalere“ Zensurpraxis war meistens selektiv und von kurzer Dauer. In Übergangs- und Schwächeperioden der kommunistischen Regime, in der Tschechoslowakei in den 1960er- und 1980er-Jahren sowie in der Sowjetunion in den frühen 1960er- und ab Ende der 1970er-Jahre, stellte diese Praxis aber auch ein Indiz für deren nachlassendes Steuerungsvermögen dar, das sich vor allem im Kulturleben bemerkbar machte.

SIEGFRIED LOKATIS (Leipzig) widmete sich in seinem Vortrag dem Verlagswesen in der DDR und der hier vorherrschenden Zensurpraxis. Der Referent betonte zu Beginn seiner Ausführungen die große wirtschaftliche Bedeutung des Buchhandels für die SED. Über 50 Prozent ihrer Einnahmen bezog die Staatspartei aus dem Verkauf von Zeitungen und Büchern, vor allem Kinderbüchern. Einerseits sollten die mehr als 100 Mitarbeiter der DDR-Zensurbehörde eine regimekonforme Überwachung des Buchmarktes sicherstellen, andererseits bedeutete eine zu scharfe Zensurpraxis eine empfindliche Beschneidung der Parteieinnahmen, so dass die Zensurbehörde das „Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ideologie“ aufrechterhalten musste. Die Lenkung der zahlreichen DDR-Verlage erfolgte durch die Zuteilung der Themenbereiche und vor allem der Papiermengen durch die so genannte „Papierkommission“ im Zentralkomitee der SED. Druckpapier erwies sich als eine zentrale strategische Ressource zur Steuerung des Buchmarktes. Auch durch die Zuweisung guter bzw. schlechter Papierqualität konnten Verlage gefördert oder benachteiligt werden. Gegen Ende der 1950er-Jahre hatten sich die den Verlagen zugeteilten Papiermengen eingependelt. Trotz der Ausdifferenzierung eines arbeitsteilig konzipierten Verlagssystems besaßen die großen Verlage wie „Aufbau-Verlag“, „Volk und Welt“, „Reclam“ oder „Inselverlag“ in den verschiedenen, von ideologischen Kurswechseln geprägten Phasen sehr unterschiedliche Handlungsspielräume. Zum Schluss wies der Referent auf die mannigfaltigen Möglichkeiten der Zensurbehörde zur Steuerung der Autoren hin, die von der „Strafversetzung“ in einen unbedeutenden Verlag bis zum völligen Publikationsverbot reichten. Trotz der strengen Organisation der Belletristik-Zensur in der DDR ergaben sich seit den 1960er-Jahren Freiräume im Bereich der schönen Literatur, welche die Funktion einer „kritischen Ersatzöffentlichkeit“ erfüllte. Wie in den sozialistischen „Bruderländern“ konnten sich die DDR-Bürger oft besser aus Büchern als aus Zeitungen informieren, da allen Regimen gemeinsam war, dass Massenmedien einer deutlich schärferen Zensur unterlagen als der Literaturbetrieb. Lokatis hob aber hervor, dass im Unterschied zur Sowjetunion, zu Polen oder zur Tschechoslowakei „die DDR-Zensur stets in einem gemeinsamen Sprachraum mit dem ‚Klassenfeind‘ in der Bundesrepublik operierte“, so dass sich die Frage stelle, „worin eigentlich genau noch die für eine realsozialistische Buch- und Verlagswirtschaft typischen, die einzelnen Länder übergreifenden Gemeinsamkeiten bestanden“.

Abgerundet wurde die Sektion durch den Vortrag des Zeitzeugen GERHARD DAHNE (Berlin), der über seine Erfahrungen als Verlagsleiter in der DDR und als langjähriger Mitarbeiter im DDR-Kulturministerium sprach. Dort war Dahne seit 1959 tätig und leitete von 1974 bis 1979 die Abteilung „Belletristik, Kunst- und Musikliteratur“ der Hauptverwaltung „Verlage und Buchhandel“. Der Referent schilderte die Unwägbarkeiten, die kulturpolitischen Konjunkturen und die variierenden ideologischen Vorgaben beim Verlegen von Büchern in der DDR. Die in der Bundesrepublik erschienene Prosa, deren Verbreitung in der DDR ihm wichtig gewesen sei und die er verlegt habe, wurde im DDR-Kulturministerium besonders beargwöhnt. Die deutsche Zweistaatlichkeit und der westliche Literaturmarkt übten auf die Zensoren in der DDR, zu denen Dahne zeitweilig zählte, indirekt Druck aus, da prominente DDR-Schriftsteller ihre Werke nicht selten in der Bundesrepublik veröffentlichten oder zu veröffentlichen drohten. Dahne nahm für sich als „Literaturpolitiker“ sowohl in Anspruch, das humanistische Erbe durch die Herausgabe der Klassiker der Weltliteratur gefördert als auch kleine Impulse zur weiteren Entwicklung der DDR-Literatur gegeben zu haben.

Im abschließenden Kommentar betonte JAN KUSBER (Mainz), dass in der Geschichte die Zeiten ohne Zensur eher die Ausnahme dargestellt hätten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätten neue Formen der Kommunikation, zum Beispiel das Fernsehen, die Zensur besonders herausgefordert und auch den Umgang der Medien mit der Zensur verändert. Kusber hob den interdisziplinären Zugang der Sektion zum Thema Zensur über die Geschichts-, Literatur- und Buchwissenschaften anerkennend hervor und regte eine Erweiterung durch die rechtswissenschaftliche Perspektive an, die das bis 1989 geltende Recht in den Blick nehmen sollte. Ein Vergleich, der die DDR, die Tschechoslowakei, Polen und die Sowjetunion einschließe, sei nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Phasen, in denen sich die kommunistischen Regime nach Stalins Tod befunden hätten, problematisch, sondern auch aufgrund der schwierigen Anwendung von Kategorien der Rationalität, wie das Beispiel Chruščevs zeige.

In der Diskussion wurden die unterschiedlichen Bedingungen deutlich, die bezüglich Forschungsstand und Quellenlage in den vier behandelten Staaten heute vorherrschen. Die Referenten betonten, dass die Archive in Deutschland, Tschechien und Russland überaus reiche Bestände zum Thema bereithielten; Jakub Tyszkiewicz bedauerte größere Überlieferungslücken in Polen. Der Stand der Forschung sei insbesondere in Deutschland und Polen fortgeschritten, aber auch in Russland sei eine größere Anzahl von Studien erschienen, obwohl der Zugang zu den dortigen Archiven gerade im letzten Jahrzehnt wieder eingeschränkt worden sei. Darüber hinaus wurden in der Diskussion verschiedene Aspekte der Aushandlungsprozesse zwischen Zensurbehörden und Schriftstellern, die Frage nach der Koautorenschaft des Zensors sowie die beim Verstoß gegen Zensurauflagen verhängten Strafen angesprochen. Trotz aller – auch in der Diskussion deutlich gewordenen – unterschiedlichen Entwicklungen sei in allen kommunistischen Zensurbehörden der Trend zu beobachten gewesen, zunehmend Akademiker einzustellen, um versteckte Regimekritik in literarischen Werken erkennen und die Autoren in der Art und Weise ihres Schreibens beeinflussen zu können. Der Kulturbetrieb war in den „Ostblockländern“ einer weniger scharfen Zensur unterworfen als die Massenmedien Funk, Fernsehen und die Tageszeitungen – eine Erkenntnis, die alle Referenten teilten. Gerhard Dahnes Äußerungen waren – anders als die übrigen Referate – von der Subjektivität eines Zeitzeugen bestimmt. Bei aller Detailkenntnis entstand der Eindruck eines Mangels an kritischer Distanz zum DDR-Literaturbetrieb mit seinen repressiven Seiten und zu seinem eigenen Wirken als Zensor. Die Frage nach der Rolle der Staatssicherheit im DDR-Zensurbetrieb blieb unbeantwortet. Insgesamt boten die Referate einen differenzierten Einblick in die Konflikte um die intellektuelle Ressource Wissen. Die Sektion zeigte auf überzeugende Art die Möglichkeiten und Grenzen dieses Vier-Staaten-Vergleichs auf, der nicht nur gewinnbringende Erkenntnisse im Bereich der Zensurpraxis einbrachte, sondern auch die Veränderungen in der politischen Handlungsfähigkeit der kommunistischen Regime beleuchtete.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Konrad Gündisch (Oldenburg)

Burkhard Olschowsky (Warschau): Einführung

Jakub Tyszkiewicz (Breslau): Zensurpraxis in Polen und seinen Westgebieten

Ivo Bock (Bremen): „Wie auf dem Basar?“ Zensurkriterien und Zensurpraxis in der Sowjetunion und der Tschechoslowakei

Siegfried Lokatis (Leipzig): Zensur und Verlage in der DDR – Handlungszwänge und Spielräume

Gerhard Dahne (Berlin): Einsichten in den Literaturalltag der DDR. Ein Zeitzeugenbericht

Jan Kusber (Mainz): Kommentar