Netzwerkanalyse in der historischen Anwendung

Netzwerkanalyse in der historischen Anwendung

Organisatoren
Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität, München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.11.2012 - 18.11.2012
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Von
Danica Brenner, Trierer Arbeitsstelle für Künstlersozialgeschichte (Projekt artifex), Universität Trier

Die siebente Auflage des Methodenworkshops zur Historischen Netzwerkanalyse fand vom 16. bis 18. November 2012 in den Räumlichkeiten des Instituts für Bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München statt. Der Workshop stellte, wie auch die vorangegangenen Veranstaltungen der Reihe, eine Plattform zum Erfahrungsaustausch von an der historischen Netzwerkforschung Interessierten sowie in der Methodik erfahrenen HistorikerInnen und Forschenden benachbarter Disziplinen dar. Neben der Präsentation der umfangreichen Möglichkeiten der Netzwerkanalyse in den historischen Wissenschaften wurden anhand von Einzelbeispielen auch dieser zugrundeliegende Matrizen und Datenbankmodelle sowie Methoden zur Auswertung diverser Quellentypen vorgestellt.

Die eröffnende Sektion des Workshops wurde von Thomas Schütte moderiert und stellte einführend die Netzwerkanalyse mit ihren Möglichkeiten im historischen Forschungskontext vor.

Als erster Beiträger verwies FLORIAN KERSCHBAUMER (Klagenfurt) auf den zunehmenden Einfluss von Netzwerkkonzepten in den Geschichtswissenschaften. Dabei finde der Terminus "Netzwerk" nicht mehr nur als Metapher Verwendung, sondern gewinne sukzessive an Bedeutung in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Methoden, wie sich am Beispiel der historischen Netzwerkforschung zeige. Kerschbaumer verwies auf deren Dynamik und zeigte unter anderem mit Verweis auf Summerschools, Forschungscluster sowie einer großen Anzahl einschlägiger Publikationen und schließlich einer Reihe von Methodenworkshops zur historischen Netzwerkforschung auf, wie sich die Netzwerkanalyse auch im Kontext der historischen Disziplinen im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren immer mehr etablieren konnte.

In seinem thematisch-methodisch einführenden Beitrag gab MARTIN STARK (Hamburg) praktische Anmerkungen zur Verwendung formaler Methoden der sozialen Netzwerkanalyse in der historischen Netzwerkforschung. Anhand von Fallstudien aus der historischen Netzwerkanalyse und den historisch orientierten Sozialwissenschaften diskutierte er einige in der Forschungspraxis relevante formale Verfahren der Netzwerkanalyse um auch den noch nicht einschlägig vorgebildeten Workshop-Teilnehmern einen Einblick in Chancen und Risiken der Verwendung von berechnenden Verfahren in der historischen Netzwerkforschung zu bieten. Stark betonte, dass sich Methoden der formalen Netzwerkanalyse häufig sehr fruchtbar in den historischen Forschungsprozess integrieren ließen, jeder Forscher aufgrund seines konkreten Themas, des mitunter erheblichen zeitlichen Mehraufwandes und der spezifischen Quellenlage jedoch individuell entscheiden müsse, ob dies für ihn sinnvoll und zielführend sei.

LEA-KATHARINA STELLER (Budapest) wies in ihrem Vortrag auf die historische Situation der sogenannten Ungarndeutschen hin. Sie behandelte die Siedlungs-, Sozial- und Unterdrückungsgeschichte der deutschstämmigen Ungarn vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und stellte Zusammenhänge zur europäischen Zeitgeschichte her.

VALENTINA STUSS, SOPHIA STOTZ und MATTHIAS REINERT (alle München) stellten die DFG-geförderte und in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) bearbeitete Deutsche Biographie Online1 vor. Ziel des Projektes sei es, kooperativ die Online-Bestände diverser Forschungsinstitute mit Hilfe der Gemeinsamen Normdatei tiefer zu erschließen und als "zentrales historisch-biographisches Informationssystem" auf der Projekthomepage zu vernetzen. Ein Bestandteil sei die Extraktion von Personenbeziehungen, die auf dem Ansatz "lokale Grammatiken" beruhe. Zudem nannten sie verschiedene Beispiele für die Nutzung des Open-Source-Korpusprozessors Unitex 3. Mithilfe der Modellierung lokaler Grammatiken seien sehr genaue Annotationen von Informationseinheiten möglich, was jedoch mit hohem Aufwand verbunden sei.

Unter der Moderation von Linda von Keyserlingk wurden zudem verschiedene Fallbeispiele für die Anwendung der historischen Netzwerkforschung vorgestellt.

NASIM KOWALSKI (Köln) gab in dem ersten Beitrag dieser Sektion einen Werkstattbericht ihres Promotionsvorhabens über wirtschaftliche Netzwerke im ländlichen Raum am Beispiel des Ingelheimer Grundes im Spätmittelalter. Ziel ihrer Arbeit sei es, mit Hilfe der Netzwerkanalyse Funktionsmechanismen sowie formelle und informelle Normen des ländlichen Wirtschaftens und dessen soziale Implikationen zu beleuchten. Der Schwerpunkt ihrer Ausführungen lag auf der der Netzwerkanalyse zugrunde liegenden prosopographischen Datenbank, deren quellennahe Strukturierung den spezifischen Problemen der Datenauswertung mittelalterlichen Quellen begegne. Kowalski zufolge verspricht besonders bei der Arbeit mit seriellen Quellen ein netzwerkanalytischer Zugriff gute Ergebnisse.

KATRIN BICHER (Berlin) bot einen Werkstattbericht ihres Promotionsvorhabens über das Netzwerk des Wiener Vereins für musikalische Privataufführungen. In ihrem Beitrag konzentrierte sie sich auf die letzten Jahre des Vereins und verdeutlichte, wie sie anhand der Rekonstruktion der Vereinsgeschichte nach Gründen für bestimmte Entscheidungen und Entwicklungen suche, die zur Einstellung der Vereinstätigkeiten im Dezember 1921 führten. So sei Arnold Schöneberg bis zum Herbst 1920 die zentrale und dominierende Figur im Netzwerk des Vereins gewesen. Bichler stellte mögliche Szenarien vor, wie sich dieses Netzwerk in Folge der Abreise Bichlers umstrukturiert haben könnte und veranschaulichte ihre Methodik zur Quellenauswertung anhand eines Briefwechsels von Vereinsmitgliedern.

THOMAS SCHÜTTE (München) stellte sein Dissertationsprojekt „Michael Kardinal von Faulhaber in der bayerischen Politik 1918-1933“ vor, in dem er anhand ihm zufolge neu zugänglicher Quellen die Rolle Kardinal Faulhabers in der bayerischen Kultus-, Innen-, Außen- und Gesellschaftspolitik in der Zwischenkriegszeit beleuchte. In das Zentrum seines Vortrages stellte er die stenographischen Tagebücher Faulhabers, in denen sich alle persönlichen Gespräche seiner Amtszeit verzeichnet fänden. Schütte präsentierte erste Ergebnisse und wies besonders auf das Potential einer explorativ angelegten formalen Netzwerkanalyse hin, welches er sich in drei Stichjahren nutzbar mache.

Weitere Fallbeispiele wurden unter Moderation von Martin Stark vorgestellt. Als erste Rednerin dieser Sektion sprach EVA JULLIEN (Luxemburg), deren Promotionsvorhaben sich mit institutionellen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Handwerker der Stadt Luxemburg im 14. und 15. Jahrhundert beschäftigt. In ihrem Vortrag stellte sie ihre Nutzung der Netzwerkanalyse zur Bestimmung des sozialen Prestiges und der Handlungsmöglichkeiten einzelner Akteure vor.

Neben dem Aufbau ihrer Personenbank in xls-Matrizen thematisierte Jullien auch Probleme der Auswertung prosopographischer Daten. Als Anwendungsbeispiele der Netzwerkanalyse nannte sie unter anderem ein Two-Mode-Netzwerk zur politischen Partizipation der stadtluxemburgischen Handwerkerschaft und führte am Beispiel der Verwandtschaftsbeziehungen der Handwerker aus, dass auch lückenhafte Netzwerkdaten durch eine Schrumpfung zu einem zusammenhängenden und analysefähigen Gesamtnetzwerk aggregiert werden könnten.

GERHARD PANZER (Dresden) thematisierte in seinem Beitrag am Beispiel kunstsoziologischer Forschungen über die Kunstwelt in Kassel während der 1920er-Jahre Kunstwelten und deren Erschließung anhand inhaltlich und technisch verknüpfter Affiliationsdaten. Dabei erläuterte er, wie historische Kunstwelten mittels Beziehungen zwischen Akteuren, Institutionen, Organisationen und Ausstellungsereignissen als verschiedene Typen von Affiliationen rekonstruiert werden können.

LINDA VON KEYSERLINGK (Dresden) stellte ihr Dissertationsprojekt über das Netzwerk des zivil-militärischen Widerstandes von 1938-1944 vor, welches rund 350 Personen und etwa 3000 Beziehungen umfasse. Als Vorteile der Netzwerkanalyse nannte sie unter anderem die Aufhebung des Gegensatzes von strukturalistischer und akteursbezogener Theorie sowie die Möglichkeit, komplexe Inhalte und Dynamiken von Netzwerken visualisieren und heterogene Quellenarten systematisch bearbeiten zu können. Wesentliche Voraussetzung für eine Netzwerkanalyse sei neben einer ausreichenden Quellengrundlage vor allem auch eine geeignete Datenbankstruktur, weshalb Keyserlink nachdrücklich für eine rege Diskussion über geeignete Datenbanksysteme und -strukturen für die historische Netzwerkforschung plädierte.

KIMMO ELO (Turku) berichtete in seinem Beitrag über das HUMINT-Netzwerk der Auslandsspionage im Ostseeraum über Möglichkeiten und Grenzen der Verwendung sogenannter SIRA-Daten bei der Rekonstruktion von Quellennetzwerken der für die DDR-Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung A (HV A). Die seiner Arbeit zugrunde liegenden SIRA-Daten liegen in Form einer aus fünf Teildatenbanken bestehenden relationalen Datenbank zur Informationsrecherche vor, die zur Verwaltung von Arbeitsergebnissen der Spionage entwickelt wurde. Kimmo stellte seine Nutzung dieser Datenbank für die historische Netzwerkanalyse vor und thematisierte Möglichkeiten und Rahmenbedingungen sowie Grenzen der Arbeit mit der Datenbank SIRA.

Die letzte Sektion des Workshops wurde von Florian Kerschbaumer moderiert und beschäftigte sich mit Datenmodellierung und Datenbanksystemen.

In seinem bibliometrischen Werkstattbericht über die Arbeit mit Datensätzen, Datenbanken und Netzwerken setzte sich MICHAEL WOHLGEMUTH (Bielefeld) mit dem Thema der Datenmodellierung auseinander. Nach einer einführenden Betonung der Bedeutung der Netzwerkanalyse für bibliometrische Fragestellungen skizzierte Wohlgemuth Gemeinsamkeiten und Unterschiede der historischen Netzwerkforschung und der Bibliometrie hinsichtlich des Erkenntnisinteresses und der Methodik. Da sich ihm zufolge beide Anwendungsdomains auf diesen Ebenen in wichtigen Teilbereichen ähneln, sei davon auszugehen, dass Erfahrungen der Bibliometrie auf dem Gebiet der Speicherung und Verarbeitung großer Datenmengen fruchtbar für netzwerkhistorische Fragestellungen eingesetzt werden könnten.

MARTEN DÜRING (Nijmegen) stellte in seinem methodenorientierten Vortrag erste Schritte auf dem Weg zur Erhebung und Auswertung von historischen Netzwerken vor. Dazu gehören ihm zufolge die an Methoden der qualitativen Sozialforschung orientierte Kategorienbildung, das Edge-Array-Codiersystem sowie die Arbeit mit Visualisierungen. Düring verglich Netzwerkvisualisierungen mit Landkarten und hob deren Charakter als modellhafte, in ihrer Aussagekraft begrenze Repräsentationen von Realitäten dar. Zudem stellte er am Beispiel des Edge-Array-Codiersystems Methoden der Datenbankkonzeption und -erhebung vor. Er betonte dabei das Potenzial von Netzwerkvisualisierungen, Informationen über mehrere Quellen hinweg zu aggregieren, durch hypothesengeleitetes Filtern strukturelle Muster sichtbar zu machen und durch eine soziale Einbettung genutzte und ungenutzte Handlungspotentiale systematisch zu differenzieren.

In der abschließenden Diskussionsrunde wurde, wie auch in der regen Diskussion während der gesamten Veranstaltung, nochmals die große Bedeutung des Austauschs über Methodik und Anwendungsmöglichkeiten des noch jungen Feldes der historischen Netzwerkforschung deutlich.2

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch den Veranstalter

Begrüßung durch Prof. Dr. Ferdinand Kramer, Institut für Bayerische Geschichte

Sektion 1: Netzwerkanalyse in ihren Möglichkeiten
Moderation: Thomas Schütte

Florian Kerschbaumer (Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte): "Die Netze weiter knüpfen". Historischer Netzwerkforschung im deutschsprachigen Raum: Bilanz und Perspektiven

Martin Stark (Universität Hamburg): Möglichkeiten und Grenzen der quantitativen Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften

Lea-Katharina Steller (Ungarische Akademie der Wissenschaften, WSDMM): Deutscher Traditionszusammenhang im Ungarischen Mittelgebirge

Valentina Stuss / Sophia Stotz / Matthias Reinert (Bayerische Akademie der Wissenschaften): Projekt: www.deutsche-biographie.de

Sektion 2: Fallbeispiele, allgemein
Moderation: Linda von Keyserlingk

Nasim Kowalski (Universität Köln, Historisches Institut): Wirtschaftliche Netzwerke im ländlichen Raum – Eine Untersuchung am Beispiel des Ingelheimer Grundes im Spätmittelalter

Katrin Bicher (Humboldt-Universität zu Berlin): Das Netzwerk des Wiener Vereins für musikalische Privataufführungen

Thomas Schütte (Ludwig-Maximilians-Universität München): Michael Kardinal von Faulhaber in der bayerischen Politik 1918-1933

Sektion 3: Fallbeispiele, Schwerpunkt
Moderation: Martin Stark

Eva Jullien (Université du Luxembourg, Laboratoire d'Histoire): Handwerker der Stadt Luxemburg im 14. und 15. Jahrhundert

Gerhard Panzer (TU Dresden, Institut für Soziologie): Wie lassen sich Kunstwelten mit inhaltlich und technisch verknüpften Affiliationsdaten analytisch erschließen?

Linda von Keyserlingk (Militärhistorisches Museum Dresden): Das Netzwerk vom 20. Juli 1944. Transparenz der Analyseergebnisse durch die richtige Datenbankstruktur

Kimmo Elo (Universität Turku, Institut für Politik und Zeitgeschichte): HUMINT-Netzwerk der Auslandsspionage der Stasi im Ostseeraum

Sektion 4: Datenmodellierung und Datenbanksysteme
Moderation: Florian Kerschbaumer

Michael Wohlgemuth (Universität Bielefeld): Von Datensätzen, Datenbanken und Netzwerken. Ein bibliometrischer Werkstattbericht

Marten Düring (Radboud Universitaet Nijmegen): Edgearray: Multiplexe Beziehungen in Excel erheben

Anmerkungen:
1 <http://www.deutsche-biographie.de> (29.05.2013).
2 Weitere Informationen zur historischen Netzwerkforschung finden sich auf der Internetseite der Veranstalter <http://historicalnetworkresearch.org> (29.05.2013), die in Kürze auch Auszüge des Workshops online bereitstellen wird.


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