Der Brief als Genre: Definitionen und Gattungsgrenzen (4.–11. Jahrhundert)/Écriture et genre epistolaire (IVe–XIe siècle)

Der Brief als Genre: Definitionen und Gattungsgrenzen (4.–11. Jahrhundert)/Écriture et genre epistolaire (IVe–XIe siècle)

Organisatoren
DFG-ANR-Projekt Epistola. Der Brief auf der Iberischen Halbinsel und im lateinischen Westen. Tradition und Wandel einer literarischen Gattung (4. bis 11. Jahrhundert)
Ort
Poitiers
Land
France
Vom - Bis
05.06.2013 - 08.06.2013
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Von
Katharina Götz / Cornelia Scherer, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Schon in der Einführung zur Tagung machte THOMAS DESWARTE (Angers) unter Rückgriff auf ein Zitat des Erasmus von Rotterdam deutlich, dass sich der Brief in Form und Stil seinem Verfasser und seinem Zweck „wie ein Tintenfisch“ anpasse. Dabei müsse im Hinterkopf behalten werden, dass die Form nicht vom Inhalt des Textes zu trennen sei, genauso wenig wie der Stil. Wie das bei einzelnen Autoren erfolgte und welche literarischen Strategien dabei im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter Anwendung fanden, wurde auf der Tagung des DFG-ANR-Projektes EPISTOLA in Poitiers diskutiert.

In der ersten Sektion ging es um die Frage, inwiefern in den Briefen, die ja bis heute den Eindruck einer Unmittelbarkeit und Nähe zum Autor erwecken, tatsächlich ein Individuum zum Sprechen komme. Den Anfang machte LIONEL MARY (Paris), der die Briefe des Venantius Fortunatus an Gregor von Tours unter pragmatischen, psychologischen und gesellschaftlichen Aspekten untersuchte. Die Texte entstanden aus unterschiedlichen Schreibanlässen, wie Dank, Empfehlungen oder Widmungen, und gewähren Einblick in das Verhältnis von Venantius und dem Bischof von Tours, auch wenn sie den Rahmen einer persönlich-privaten Korrespondenz spätestens mit der Veröffentlichung der Briefe durch Venantius noch zu Lebzeiten Gregors verließen. IDA GILDA MASTROROSA (Florenz) zeigte anhand der Variae Cassiodors die Selbstdarstellung des Ostgotenkönigs Theodorich gegenüber anderen Herrschern auf. Es stellt sich die Frage, welchen Anteil Cassiodor daran zugeschrieben werden kann, dessen Einfluss sich in den diplomatischen Schreiben unter anderem durch gelehrte Diskurse zeigt. MICHAEL I. ALLEN (Chicago), der eine Neuedition der Briefe des Lupus von Ferrières vorbereitet, untersuchte in seinem Vortrag die unterschiedlichen Bezeichnungen und die besondere Sprache, die der Abt nutzte, um sich an die Bischöfe in seinem Umfeld zu wenden. Beides seien Zeugnisse für das unterschiedliche Verhältnis des Mönches zu seinen Adressaten. In eine ähnliche Richtung wies der Vortrag von SHIGETO KIKUCHI (Tokio), der nach der politischen Dimension der Prädikate und Epitheta in den Briefen der Karolingerzeit fragte. Die Neueinführung beziehungsweise Wiederentdeckung bestimmter Bezeichnungen, wie majestas, stehe mit der Propagierung eines bestimmten Herrscherbildes in Zusammenhang. MICOL LONG (Pisa) ging in ihrem Beitrag der Frage nach mit welchen Metaphern und Ausdrücken der Brief, der in antiker Tradition als „Ersatz der Person“ galt, im 11. Jahrhundert belegt wurde. Da der Brief als Vergegenwärtigung des Abwesenden galt, sei er mit Gesten der Wertschätzung belegt worden. Diese wiederum gewährten in ihrer verschrifteten Form Einblicke in das Innere des Empfängers und wären so zum Spiegel der Seele geworden – ein weiterer antiker Topos, der im Mittelalter wirkmächtig blieb.

Mit dem Vorschlag, die Variae Cassiodors als ‚Herrrscherlob in Briefform‘ zu lesen, die die ostgotischen Könige als ideale Herrscher mit klassisch-römischen Tugenden darstellten und so in den orbis Romanus einzugliedern versuchten, eröffnete CHRISTINE RADTKI (Köln) die zweite Sektion, die literarischen Strategien der Briefform gewidmet war. ELENA MAREY (Moskau) untersuchte den Zitatgebrauch bei Braulio von Zaragossa. Dieser habe die Zitate gemäß dem Wissen seiner Adressaten und dem Inhalt seiner Schreiben gewählt, beispielsweise seien Zitate antiker Autoren wie Horaz und Virgil nur in Briefen an gebildete Kleriker zu finden. Zwei Briefe Alcuins, die er im Namen der fränkischen Bischöfe und im Namen Karl des Großen verfasste, standen im Zentrum des Vortrags von FLORENCE CLOSE (Lüttich) und CHRISTIANE VEYRARD-COSME (Paris). Alcuin habe verschiedene rhetorische Mittel genutzt um seinen Schreiben eine polemische Note zu geben. Sie sollten die Überlegenheit der fränkischen, und damit orthodoxen Position im Adoptianismusstreit unterstreichen und durchsetzen. MICHAËL COUSIN (Poitiers) erläuterte am Beispiel der Korrespondenz des Alvarus von Cordoba mit dem zum Judentum konvertierten Diakon Bodo-Eleazar, dass die Spontanität mit der die Briefe scheinbar verfasst wurden, Teile einer ausgefeilten literarischen Strategie gewesen seien. Zu dieser gehörten unter anderem der Gebrauch vielfältiger Zitate, die Wiederaufnahme der Argumente des Briefpartners in indirekter Rede und die bewusste Einsetzung des cursus. EGBERT TÜRK (Saarbrücken) zeigte auf, dass sich Heloïse in ihrer Korrespondenz mit Abelard bewusst zahlreicher Stilmittel bedient habe, um den fernen Geliebten damit unter Druck zu setzen, was die Frage nach ihrer Ausbildung aufkommen lässt. Der appellativen Funktion des Briefes bediente sich laut LUDWIG VONES (Köln) der Mönch Garsias, als er in einem Text, der auch Merkmale einer Predigt oder eines Traktats trägt, die Reliquienpolitik und die Leistungen seines Abtes Oliba für das Kloster Cuixà darlegte und publik machte.

Die in diesem Vortrag bereits angeklungene Offenheit der Gattung Brief gegenüber anderen Textsorten war Thema der dritten Sektion. SALVADOR IRANZO (Barcelona) verwies auf die große Bandbreite der Briefform, derer sich in der Westgotenzeit sowohl Vorworte, Traktate, Gedichte und sogar Rechtstexte bedient hätten. Die Idee, dass Briefe andere Textsorten, quasi wie ein Umschlag, aufnahmen, stand im Zentrum des Vortrags von VINCENT DEBIAIS (Poitiers). Anhand poetischer Texte, insbesondere von Inschriften in Versform in Briefen bei Paulinus von Nola, Venantius Fortunatus und Alcuin wurde die Entwicklung dieser Praktik zwischen der Spätantike und der Karolingerzeit erkennbar. Den unterschiedlichen Funktionen von Briefen in Prosa und in Versen ging FRANCA ELA CONSOLINO (L’Aquila) in ihrem Vortrag über die Briefe des Venantius Fortunatus nach. Es scheint, dass die Prosa-Briefe eher bei der ‚privaten‘ Korrespondenz zum Einsatz kamen, während Versbriefe der Selbstdarstellung dienten und auch vom Dichter veröffentlicht wurden. Theodulf von Orleans hingegen, von dem nur Briefe in Versen überliefert sind, habe diese Form genutzt um seine Briefe anderen Textgattungen und deren Funktionen anzunähern, wie ENIMIE ROUQUETTE (Paris) zeigte. So seien die Briefe an die karolingischen Herrscher zu veritablen Elogen geworden oder hätten der Unterhaltung und Satire gedient, indem Theodulf seine Schreiben in die Tradition des carmen publicum stellte. CORNELIA SCHERER (Erlangen) ging in ihrem Vortrag dem Gebrauch des Begriffs Dekretale im Frühmittelalter nach. Sie untersuchte die verschiedenen Bezeichnungen für Briefe in der Collectio Hispana mit dem Ergebnis, dass die Verwendung in den Überschriften Tendenzen erkennen lassen. So werde beispielweise decretum und Zusammensetzungen mit diesem Wort verwendet, um auf Konzilsbeschlüsse hinzuweisen. PHILIPPE BLAUDEAU (Angers) wertete das constitutum des Papstes Vigilius aus dem Jahr 553 als ein außergewöhnlich gutes Beispiel für die päpstlichen Versuche, Entscheidungen mit Hilfe von Briefen zu ihren Gunsten zu entscheiden. Er zeigte in seinem Vortrag auf welcher rhetorischen Mittel sich Vigilius bediente, um den Kaiser und das Konzil von seiner Position zu überzeugen – wenn auch letztlich erfolglos. Für eine Re-Kontextualisierung der ‚Brieftraktate‘ des Augustinus plädierte PIERRE DESCOTES (Paris). Um diese Texte tatsächlich zu verstehen, müsse man das Verhältnis zwischen dem Kirchenlehrer und seinem Adressaten beachten und zudem bedenken, dass jede Abhandlung mit ihren Argumentationsstrategien auf ein bestimmtes Publikum ziele, das sich durch seine Bildung, Kultur und Grad der Christianisierung mitunter stark unterscheide. RUTH MIGUEL FRANCO (Palma de Mallorca) diskutierte anhand der Widmungsbriefe Isidors von Sevilla die Ambivalenz der Texte zwischen Kommunikationsmittel und literarischem Zeugnis. Diese ließen offen, ob es sich um Schreiben an eine bestimmte Person, die zusammen mit dem Werk versendet wurden, handle oder doch um ein Vorwort, das für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt war. Dass der Brief besonders geeignet war Gefühle in Worte zu kleiden, zeigte URSULA VONES-LIEBENSTEIN (Köln) am Manuale der Dhouda auf. Die Verfasserin habe die Briefform gewählt, um eine besondere Nähe zu ihrem Sohn, dem Adressaten, herzustellen. Der letzte Vortrag von FANNY OUDIN (Paris) verließ den zeitlichen Rahmen der Spätantike und des Hochmittelalters und beschäftigte sich mit der Inserierung von Briefen in altfranzösischen Texten. Die Repräsentation der Schriftstücke mache deutlich, dass der Brief einerseits mit der Schrift und damit mit einer Kulturtechnik von Experten in enger Verbindung gestanden habe, aber anderseits durch Verlesen wieder in die Sphäre des Mündlichen übergehen konnte: Letzteres allerdings losgelöst von seinem tatsächlichen Wortlaut.

KLAUS HERBERS (Erlangen) betonte in seinen Schlussbemerkungen die große Bandbreite des Genres ‚Brief‘ von dem die Tagung Zeugnis gegeben habe. Um mit dieser Vielfalt in Hinblick auf eine historische Analyse umzugehen, sei es wichtig einige Aspekte besonders zu beachten, darunter das Aufzeigen des antiken Erbes in der Briefkultur des Mittelalters, die Funktionen der Texte bei der Konstruktion sozialer Beziehungen, die performativen Akte, die sowohl die Herstellung, die Überbringung und den Empfang der Briefe umfassen, sowie das ‚Nachleben‘ der Briefe. Insbesondere die letzten beiden Punkte werden auf der nächsten Tagung des EPISTOLA-Projektes, die sich mit Fragen der Übermittlung und Überlieferung beschäftigen wird (Erlangen, 22.–24.5.2014), erneut aufgegriffen und weiterführend diskutiert werden.1

Konferenzübersicht

Eröffnung und Einführung/Ouverture et introduction (Thomas Deswarte, Angers)

1. La Lettre : Lieu d’une Individualite?

Lionel Mary (Paris): Lumen amore meo: les lettres de Venance Fortunat à Grégoire de Tours

Ida Gilda Mastrorosa (Florenz): Identité royale et individualité culturelle dans les Variae de Cassiodore: la rhétorique de la diplomatie

Michael I. Allen (Chicago): S’adresser à un évêque dans les lettres de Loup de Ferrières

Shigeto Kikuchi (Tokio): Prädikate und Epitheta in den Briefen der Karolingerzeit. Zu den Funktionen der Selbstbezeichnung und Anrede in der schriftlichen Kommunikation

Micol Long (Pisa): La lettre « substitut de la personne » au XIe siècle : Pierre Damien, Baudri de Bourgueil et les autres

2. Les Strategies Litteraires de l’Epistola

Christine Radtki (Köln): Cassiodorus Variae – panegyric in letter form

Elena Marey (Moskau): Les citations des auteurs antiques et chrétiens dans les lettres de Braulio de Saragosse (631–651)

Florence Close (Lüttich); Christiane Veyrard-Cosme (Paris): Procédés et enjeux de l’écriture polémique dans le dossier épistolaire anti-adoptianiste du concile de Francfort (794)

Michaël Cousin (Poitiers): Spontanéité et stratégies littéraires à l’œuvre dans les lettres d’Alvare de Cordoue

Ludwig Vones (Köln): „Sermo“ in Briefform, Reliquienkult und Klosterpolitik. Das Schreiben des Mönches Garsias an Bischof Oliba von Vic über Gründung und Ausstattung des Klosters Sant Miquel de Cuixà

Egbert Türk (Saarbrücken): Héloise à Abélard. Les « rhetorici colores » au service d’une stratégie illocutoire

3. Le Genre Epistolaire : Contours et Porosites

Salvador Iranzo (Barcelona): La ductilidad del género epistolar en época visigoda

Vincent Debiais (Poitiers): Les pièces poétiques dans la lettre du haut Moyen Âge

Franca Ela Consolino (L’Aquila): Formes et fonctions de la lettre chez Venance Fortunat

Enimie Rouquette (Paris): Les lettres en vers de Théodulf d’Orléans

Cornelia Scherer (Erlangen): Wie wird ein Papstbrief zur Dekretale? Überlegungen zu einem Gattungsbegriff

Philippe Blaudeau (Angers/IUF): Le constitutum de Vigile (14 mai 553) : un exemple extrême de décision pontificale par lettre

Pierre Descotes (Fondation Thiers/Paris): L’épistolarité des « lettres-traités » de saint Augustin

Ruth Miguel Franco (Palma de Mallorca/Balearen): Las epístolas dedicatorias de Isidoro de Sevilla

Ursula Vones-Liebenstein (Köln): Das Manuale der Dhuoda: ein Fürstenspiegel in Form des Briefes einer Mutter an ihren Sohn

Fanny Oudin (Paris): L’insertion épistolaire en ancien français, ou les paradoxes d’un « dit par escripture »

Klaus Herbers (Erlangen): Schlussbemerkungen/Conclusions

Anmerkung:
1 Mit Hilfe der Mobilitätsbeihilfe durch das CESCM Poitiers konnten fünf Studenten/Studentinnen aus Frankreich, Portugal und Deutschland an der Tagung teilnehmen.


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Französisch, Deutsch, Spanisch
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