Diktaturerfahrung vermitteln? 2. Kreisauer Gedenkstaettenseminar

Diktaturerfahrung vermitteln? 2. Kreisauer Gedenkstaettenseminar

Organisatoren
Gedenkstätte der Stiftung Kreisau, Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Evangelischen Akademie Berlin
Ort
Krzyżowa/Kreisau
Land
Poland
Vom - Bis
24.03.2004 - 27.03.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Sabine Ross, Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam; Ronny Heidenreich

Das 2. Kreisauer Gedenkstättenseminar fand vom 24. bis 27. März 2004 in Krzyzowa (Kreisau) / Polen statt. Die Veranstalter, die Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Stiftung Kreisau setzten damit die im April 2003 begonnenen Diskussionen fort, die sich mit der Vermittlung von Geschichte und Wirkung totalitärer Regime als Gegenstand der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit auseinandersetzten. Das diesjährige Treffen befasste sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung von Diktaturgeschichte am Beispiel von Erfahrungen mit "mehrfacher Okkupation", wie sie viele ost- und ostmitteleuropäische Staaten während des Zweiten Weltkrieges und danach erfahren mussten. Der Workshop wollte vor allem Institutionen, Initiativen und Organisationen aus Polen, Litauen und Lettland, aber auch aus Rumänien, der Ukraine und Belarus ein Forum bieten, Fragen und Kontroversen der Geschichts- und Erinnerungspolitik in den einzelnen Ländern zu diskutieren um so das wechselseitige Verständnis und die Herausbildung von Zugängen zu den verschiedenen Erinnerungskulturen zu ermöglichen.
Vor dem Hintergrund der Etablierung sowjetisch initiierter Regime und kontrollierter kommunistischer Regime in den ost- und ostmitteleuropäischen Staaten 1939/41 und 1944/45 wurde die kommunistische Diktatur, anders als in Westeuropa beispielsweise, zu einer fundamental prägenden Erfahrung mit ähnlichen Grundzügen. Hingegen wird die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation in diesen Ländern mit jeweils eigenen Schwerpunkten erinnert und dargestellt. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen unter diesen totalitären Systemen und ihren Folgewirkungen wurde zum zentralen Punkt des diesjährigen Treffens.

Mehrfache Okkupation in den baltischen Staaten und der Ukraine

Die Diskussionen und Beiträge des ersten Tages befassten sich mit der Erfahrung der mehrfachen Okkupation in der Ukraine und den baltischen Staaten. Die Debatte wurde durch den Vortrag von Andrej Pavlyshyn, Historiker und Mitglied von Amnesty International L'viv (Lemberg), eröffnet. Er betonte eingangs, dass der Begriff der "doppelten Okkupation" nicht zulässig sei, da in Folge der mehrmaligen Grenz- und Frontverschiebungen in einzelnen Landesteilen von einer mehrfachen Okkupation die Rede sein müsse, zumal die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges auch als eine Kette verschiedener Besetzungen im Bewusstsein der Bevölkerung gegenwärtig sind. Er sprach sich für eine östliche bzw. westliche Sicht der Geschichte aus, wobei der Osten Europas die Ukraine, Belarus und Russland umfasse. Gerechtfertigt sei dies durch andere gesellschaftliche Prozesse in diesen Staaten, in denen überdies das historische Bewusstsein stark tagespolitisch von "kurzfristigen Interessen" beeinflusst werde. Eine "positive Stalinisierung" der Gesellschaft, die Wiederbelebung sowjetischer Mythen und Legenden sowie die Relativierung oder gar Leugnung der Verbrechen seien auch für die Ukraine symptomatisch. Dem "weichen Regime" der Regierung stehe ein starkes nationaldemokratisches Milieu gegenüber, das dieses positive Bild der sowjetischen Vergangenheit mit anderen lange verdrängten und später national oder antikommunistischen umgewerteten Erinnerungen wie an die Hungerkatastrophen (Golodmor) oder den Kampf der Ukrainischen Unabhängigkeitsarmee (UPA) konfrontiert. Beiden Geschichtsauffassungen gemeinsam sei allerdings, dass zu bestimmten Aspekten der Vergangenheit wie dem Holocaust weitgehend geschwiegen und ein Diskurs darüber vermieden werde. Die Ukraine brauche daher ein "gesellschaftliches 1968" nach westeuropäischem Vorbild, um ihre Geschichte aufarbeiten zu können.

Einen Einblick in den westlichen Diskurs zu Umgang und Bedeutung der mehrfachen Okkupation gab im Anschluss Bernd Florath, Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin. Er führte aus, dass bedingt durch die große Koalition der UdSSR mit den westlichen Großmächten gegen Nazideutschland und seine Verbündeten im Zweiten Weltkrieg, die sowjetischen Verbrechen im Westen lange Zeit ausgeblendet oder marginalisiert worden seien. Die spezifisch deutsche Perspektive auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges, in der der Völkermord an den Juden eine exzeptionelle Stellung einnimmt, war in der Vergangenheit von harten Debatten um die Verantwortung Deutschlands geprägt, die bis heute anhalten. Im Hinblick auf den Umgang mit einer mehrschichtigen Vergangenheit plädierte er dafür, eben jene Komplexität konkreter Ereignisse aufzuzeigen und sie einschließlich ihrer Folgewirkungen zu untersuchen. Dies wäre eine Antwort auf den Kulturbruch, den der Genozid in der europäischen Geschichte darstellt. Der Völkermord an den Juden behalte daher in jedem Fall seine herausragende Stellung. Die intensive Auseinandersetzung und die Bearbeitung seiner Folgen ermögliche es zudem, andere Verbrechen wahrzunehmen. Er sprach sich gegen das Ignorieren bestimmter historischer Ereignisse zugunsten der Hervorhebung anderer aus. Es müssten neue Wege der Aneignung und Verortung nationalsozialistischer und sowjetischer Verbrechen erfolgen, ohne dass beispielsweise eine Rivalität zwischen den Erschießungen bei Baby Yar und dem Golodmor hergestellt werde.
Ergänzend dazu merkte Michael Kohrs (Vilnius) an, dass man in Litauen den Eindruck habe, durch die starke Fokussierung des Westens auf den Holocaust und die Kollaboration der litauischen Bevölkerung würden die sowjetischen Verbrechen vom Westen zu wenig wahrgenommen. Eine Vertreterin des Museums der jüdischen Kultur in Belarus fügte hinzu, dass die Vernichtung der Juden in Belarus auch staatlicherseits ignoriert und sogar infrage gestellt werde und sich gegenwärtig in ihrem Land allein Deutschland mit Projekten dieser historischen Verantwortung stelle. Dem fügte Andrej Pavlyshyn hinzu, dass die Debatte um den Holocaust in den GUS Staaten zudem durch die Nachwirkungen jahrzehntelanger antisemitischer Aspekte der sowjetischen Politik erschwert werde.

Michael Kohrs beschrieb in seinem Beitrag zur Situation in Litauen, welche Schwierigkeiten sich dort bei der Aufarbeitung nationalsozialistischer und kommunistischer Verbrechen stellten. Auffällig sei, dass die Bearbeitung der sowjetischen Vergangenheit in den 1990er Jahren nahezu ausschließlich von zurückgekehrten Exillitauern betrieben wurde, die stark antikommunistisch geprägt waren. Dies wiederum sei damit verbunden gewesen, dass sie sich zumeist einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und hier vor allem der Frage nach der litauischen Kollaboration entzogen. Diese Schieflage führte dazu, dass bis heute eine gewisse Einseitigkeit festzustellen sei, die beispielsweise auch durch Kolportierung einschlägiger Klischees in offen antisemitischen Verlautbarungen münde. Vordringliche Aufgabe sei es deshalb heute, die Geschichte der Ermordung der Juden im öffentlichen Diskurs in Litauen zu verankern.
In der Diskussion betonten die Vertreterinnen des Museums für jüdische Kultur, Minsk und der Universität Hrodna, dass sowohl der eindeutig antisemitischen Gleichsetzung von Bolschewiki und Juden als auch dem Verschweigen des Ausmaßes der Kollaboration durch eine Neuerforschung der Kriegsverbrechen begegnet werden müsse.

Im Anschluss daran stellte Valter Nolldendorfs (Riga) die Arbeit des lettischen Okkupationsmuseum in Riga vor. Ziel des Museums sei es, die Geschichte und Folgen der drei Okkupationen Lettlands aufzuarbeiten. Dabei werde ein besonderer Fokus auf die Handlungsspielräume und -motivationen der Akteure gelegt, wobei die Haltung und jeweilige Mitwirkung der Bevölkerung eine besondere Rolle spiele. So sei die freundliche Begrüßung der deutschen Besatzer 1941 durch Teile der lettischen Bevölkerung nicht ohne das Wissen um die vorhergehende sowjetische Okkupation und die damit verbundenen Verbrechen zu verstehen. Und auch die heute vorherrschende Wahrnehmung in Lettland, die die Jahre der deutschen Herrschaft (1941 bis 1944) als das kleinere Übel gegenüber der wieder unmittelbar folgenden zweiten sowjetischen Okkupation darstelle, sei nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit sowjetischen Verbrechen zu verstehen. Anhand einzelner Schautafeln der Ausstellung wurde der Rundgang anschaulich dargestellt.

Helena Briede (Riga) stellte zum Abschluss dieses Panels ein Projekt vor, das sich mit dem Holocaust in Lettland im Rahmen eines Schülerprojektes beschäftigt. Sie führte aus, es habe in Lettland im Unterschied zu anderen Staaten vor der Vernichtung der Juden während der Nazibesatzung keine ausgeprägte antisemitische Tradition gegeben. In diesem internationalen Projekt, gemeinsam durchgeführt mit Schulen in Deutschland und der Tschechischen Republik, wurden die Schicksale und Lebenswege von jüdischen Familien rekonstruiert, die von den Nationalsozialisten nach Riga verschleppt und dort ermordet wurden. Die Schüler dokumentierten im Rahmen des Projekts aber auch Fälle, in denen lettische Familien Juden vor der Vernichtung bewahrten. Das Projekt fand großen Zuspruch und stieß unter lettischen Jugendlichen auf großes Interesse.

In der anschließenden Diskussion, die sich teilweise kontrovers gestaltete, ging es um die in den vorgestellten Museen und Projekten vermittelten Geschichtsbilder. Dabei müsse gewährleistet werden, dass bspw. die Rolle der deutschen Besatzung in den betreffenden Ländern vor dem Hintergrund nachfolgend gemachter Erfahrungen mit der sowjetischen Okkupation nicht bagatellisiert, sondern differenziert dargestellt werde. Allgemeine Zustimmung fand die Äußerung der Vertreterin des Museums für jüdische Kultur Minsk, dass weder nationalsozialistische noch sowjetische Klischees Eingang in eine Ausstellung finden dürften. Vielmehr sei es wichtig, die Rolle der Kollaboration der einheimischen Bevölkerung bspw. bei der Judenvernichtung historisch korrekt darzustellen. So habe es auch Judenverfolgungen ohne Zutun der deutschen Besatzer gegeben und die Frage des eigenmächtigen oder initiierten Judenmordes sei noch ungenügend aufgearbeitet. Valter Nollendorfs verwies darauf, dass Juden auch Opfer sowjetischer Deportationen geworden seien. Er machte darauf aufmerksam, dass viele kleinere Länder, die Teil der Sowjetunion gewesen waren, sich bei der Erlangung ihrer Unabhängigkeit mit vielen weißen Flecken in der Geschichte ihres Landes konfrontiert sahen. Da man den Eindruck gehabt habe, dass der Holocaust durch die Nachkriegsprozesse und westlichen Debatten bereits aufgearbeitet schien, habe man sich vor allem auf die historischen Vorgänge konzentriert, die bis 1990 tabuisiert waren.
In der abschließenden Diskussion wurde festgestellt, dass unkritische Tendenzen nicht pauschalisiert werden könnten, sondern es darauf ankomme, sich eingehend mit den Konzepten in jeder Einrichtung zu beschäftigen, bevor eine abschließende Bewertung vorgenommen werden könne.

Zum Abschluss des ersten Tagungstages hielt Joachim Gauck (Berlin) einen Vortrag über das Phänomen der Nostalgie in ehemals kommunistischen Ländern. Der Prozess der "positiven Rückbesinnung" in Ostdeutschland sei nicht neu; er habe im vergangenen Jahr nur seinen inflationären Höhepunkt erreicht. Wie in fast allen Transformationsstaaten zu beobachten, wurde damit die erste Phase der intensiven Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Regimes abgelöst. Auch die Aufarbeitung des NS-Regimes nach 1945 sei schwierig gewesen und verlief in mehreren Etappen. Die Veränderung des öffentlichen Bewusstseins verlaufe anders als der wissenschaftlich abgekapselte Diskurs, der im gesellschaftlichen Bereich kaum eine Rolle spielte. Dabei habe die Verdrängung von Partizipation, Menschen- und Bürgerrechten im Nationalsozialismus und Sozialismus ähnlich fatale Auswirkungen gehabt. So sei in frappierender Auffälligkeit eine "Trias der gezinkten Erinnerung" von sozialer Sicherheit, Vollbeschäftigung und nicht existenter Kriminalität bei Zeitzeugen beider Diktaturen festzustellen. Erschwerend komme hinzu, so Gauck, dass Freiheit und persönliche Selbstbestimmung in Deutschland zumeist als Last empfunden würden.

Der Umgang mit der doppelten Okkupation in Polen

Den Vormittag des zweiten Seminartages bestimmte die Arbeit des polnischen Instituts des nationalen Gedenkens (IPN). Zu Beginn stellte Leszek Rysak die Arbeit der Pädagogischen Abteilung des IPN Warschau vor. Die Hauptaufgabe bestehe darin, öffentliche Bildungsarbeit zu leisten, die sich oftmals als Vermittlerin zwischen individueller historischer Überlieferung und der wissenschaftlichen bzw. öffentlich vermittelten Geschichte befinde. Im Falle Polens sei diese Diskrepanz besonders stark ausgeprägt, da die sowjetische Besetzung jahrzehntelang nicht thematisiert werden durfte. Sukzessive Veränderungen im Geschichtsbild konnten jedoch bereits seit Beginn der 1980er Jahre im Zusammenhang mit der Solidarnosc Bewegung erfolgen, so dass der Interpretationskonflikt zwischen eigener und allgemeiner Geschichte langsam aufgehoben werde. Dennoch herrscht bis heute eine große Skepsis gegenüber umfassender oder politisch motivierter Geschichtsschreibung, was auch die Arbeit des IPN tangiert.

Agnieszka Jaczynska (IPN Lublin) stellte ein konkretes Projekt zu den ukrainisch-polnischen Beziehungen im ostpolnischen Grenzgebiet vor. Dabei wurden sowohl die ukrainischen Verbrechen an der polnischen Bevölkerung als auch die polnischen Umsiedlungsaktionen für Ukrainer 1947 eingehend dargestellt. Dabei ergaben sich Widersprüche zwischen den Leidenserfahrungen von Zeitzeugen und dem sachlichen und reflektierten Charakter der Ausstellung. Als neue Form der Vermittlung arbeitet das IPN auch mit unkonventionellen Methoden der politischen Bildungsarbeit. So werden für Jugendliche Gelände- und Rollenspiele unter historischer und pädagogischer Leitung angeboten, die das Erleben von Unrecht aus Täter und Opferperspektive nachvollziehbar machen sollen. Daneben werden die Jugendlichen in Exkursionen, die mit Zeitzeugenbefragungen verbunden sind, mit den Relikten der Multiethnizität in ihrer Heimat konfrontiert.

Krzysztof Sychowicz (IPN Bialystok) stellte die Arbeit in den nordöstlichen Regionen Polens vor. Diese stellen bis heute insofern eine Besonderheit dar, als es sich auch hier um ein multiethnisches Gebiet handelt. In die Arbeit werden bewusst alle Volksgruppen einbezogen. Vorrangig werden Themen bearbeitet, die in der Vergangenheit marginalisiert oder unterbunden worden waren. So konnte eine Ausstellung zur polnisch-belarussischen Untergrundbewegung in den 1940er Jahren erarbeitet werden, aber auch ein Projekt zur Rettung von Juden durch Polen während der deutschen Besetzung. Weiterhin gibt es Workshops mit einer starken regionalspezifischen Fokussierung zu Themen des polnischen Staatssicherheitsdienstes, der Solidarnosc-Bewegung und der Verhängung des Kriegsrechts 1981. Herausgestellt wurde, dass die sowjetische Besetzung 1939/40 kaum im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist, ähnlich wie die Rolle der Armja Krajowa in diesem Gebiet verdrängt wurde. Ein aktuelles Problem, mit dem das IPN Bialystok befasst ist, ist die Auseinandersetzung um die Judenprogrome in Jedwabne. Aufgrund des starken Medieninteresses und der damit einhergehenden Polarisierung des Diskurses, die zu einer unzulässigen Reduktion dieses komplexen Ereignisses führte, war es schwer, eine sachliche Debatte über dieses Verbrechen und den polnischen Antisemitismus zu führen.

Der Umgang mit der doppelten Okkupation in der Ukraine und Belarus

Das nächste Panel befasste sich mit der mehrfachen Okkupation in Belarus und der Ukraine. Den einleitenden Vortrag hielt eine Vertreterin der Universität Hrodna. Der Zweite Weltkrieg stehe in der belarussischen Historiographie stark in der Tradition des sowjetischen Geschichtsbildes. Die Besetzung Ostpolens und die damit verbundene Wiedergewinnung der westbelarussischen Territorien wird trotz versuchter Redefintion und der Ergänzungen zum Hitler-Stalin-Pakt heute kaum anders bewertet als vor 1991. Dennoch ergebe sich aus der positiven Bewertung der "Wiedereingliederung" der Westgebiete und der negativen Bewertung des Überfalls auf Polen ein gewisser Widerspruch. Trotz dieser Umstände ist es heute im bestimmten Umfang möglich, auch die Geschichte antisowjetischer Bewegungen zu erforschen und dabei auch sensible Bereiche wie das NKWD einzubeziehen. Allerdings ergäben sich in der Praxis durch den erschwerten Zugang zu den meist verschlossenen Archiven erhebliche Probleme. Dies ziehe wiederum eine Verlagerung der Forschung auf die Oral History nach sich. Auch in der Geschichte der deutschen Besetzung gibt es noch weiße Flecken wie den Alltag, das Verhältnis der Bevölkerung zur Besatzungsmacht und die Kollaboration. Das an der Universität Hrodna angesiedelte und von den Universitäten Bialystok und Warschau sowie der Stiftung Pogranice unterstützte Projekt befasst sich mit Geschichtsbildern in den Mikroregionen im polnisch-belarussischen Grenzland. Diese interdisziplinär durchgeführte Zeitzeugenbefragung und Auswertung brachte bislang interessante Ergebnisse. So erklärten polnische Bewohner in Belarus, dass der Einmarsch der Roten Armee ein Kulturbruch gewesen sei und die sowjetischen Besatzer als Fremdkörper in ethnischer und kultureller Hinsicht wahrgenommen wurden. Die anschließenden Deportationen und Verfolgungen wurden prozesshaft wahrgenommen, konkrete Erinnerungen an lokale Persönlichkeiten hingegen bis heute tradiert. In der belarussischen Enklave im heutigen Polen wurde der Einmarsch der Roten Armee hingegen als Befreiung wahrgenommen. Der direkte Kontakt mit den Rotarmisten und den neuen Machthabern wirkte allerdings trotz der erfolgreichen sowjetischen Propaganda desillusionierend. Der Einmarsch der deutschen Armee wurde von beiden Bevölkerungsgruppen als Bedrohung empfunden. Die Vermittlung dieser Ergebnisse gestalte sich in der Praxis schwierig, da sie zum Teil konträr zur offiziellen Doktrin stehen.

Ähnlich schwierig wie in Belarus gestaltet sich die Aufarbeitung in der Ukraine. Memorial L'viv Poshuk widmet sich in ihrer Arbeit nicht nur den Verbrechen des Stalinismus, sondern sucht und dokumentiert auch Schicksale von Opfern der deutschen Besatzung und des ukrainisch-polnischen Bürgerkrieges. Nach der Euphorie der 1990er Jahre, in denen der "Reiz des Verbotenen" noch die Aufarbeitung vorantrieb, ist diese einer erneuten Geschichtsrevision gewichen. In der ersten Phase entstanden verschiedene Ausstellungen, die heute durch die gesamte Ukraine wandern. Poshuk L'viv hat zudem einen Informationsdienst eingerichtet, an den sich Angehörige von Verfolgten oder Soldaten verschiedener Nationen wenden können. Konkrete Probleme in der Praxis ergeben sich bei der Vermittlung des Wissens um stalinistische Verbrechen in den Schulen, wo Vorhaben an den Widerständen des Schulsystems scheitern. Auch im kollektiven Gedächtnis ist das Andenken an die Opfer der verschiedenen totalitären Systeme in der Ukraine nicht fest verankert. Besonders auffällig ist dies an der Devastierung von jüdischen Friedhöfen und Kriegsgräbern zu sehen.

Die fehlende kollektive Erinnerung ist auch ein Problem bei der Aufarbeitung des Holocaust in Belarus. Das Museum zur Geschichte und Kultur der belarussischen Juden, das von staatlicher Seite keine Unterstützung erfährt und aus Mitteln der Holocaust-Stiftung finanziert wird, hat sich die Verankerung des Wissens um den Völkermord an den Juden in Belarus zur Aufgabe gemacht. Es sei deutlich, dass die Vernichtung der Juden nicht nur ein deutsches Verbrechen war, sondern bereits in den 1920er Jahren eine kulturelle Vernichtung des Judentums in der Sowjetunion einsetzte, so eine Vertreterin der Einrichtung. Den zentralen Bruch in der jüdischen Geschichte stellen jedoch die großen Vernichtungsaktionen unter deutscher Besetzung dar. Dieser Kulturbruch betreffe nicht nur das belarussische Judentum, sondern tangiere die gesamte belarussische Kultur, in der die Juden vor allem in den Städten jahrhundertelang Kulturträger waren. Die Vermittlung des Holocaust wird zudem durch eine Übersättigung der belarussischen Gesellschaft mit dem Zweiten Weltkrieg erschwert. Nach jahrzehntelanger Propaganda hat sich das Bild verfestigt, dass es keine neuen Aspekte mehr zu entdecken und erforschen gebe. Dennoch gibt es Projekte, die diese verbreitete Einstellung erfolgreich aufweichen. So konnte ein landesweiter Schülerwettbewerb zum Holocaust in Belarus initiiert werden, der großen Zuspruch fand. Alle diese Initiativen sind jedoch mehr oder minder starken Behinderungen ausgesetzt. Für eine dauerhafte Verankerung im kollektiven Gedächtnis fehlt es bis heute an einem offiziellen Holocaustgedenktag in Belarus sowie an angemessenen Gedenkstätten für die Opfer des Minsker Ghettos oder des Vernichtungslagers Maly Trostenec bei Minsk.

Dieses letzte Panel beschloss Violetta Rezler-Wasielewska mit einem Vortrag über die Gedenkstätte Lambinowice (Lambsdorf). Die lange Geschichte dieses 1870 eingerichteten Kriegsgefangenenlagers und späteren polnischen Internierungslagers für Deutsche zeige besonders deutlich den schwierigen Umgang mit den verschiedenen totalitären Systemen. Während deutsche Besucher Lambsdorf als Inbegriff polnischer Greueltaten nach 1945 begreifen, sehen polnische Besucher das Lager als einen Ort des polnischen Martyriums während des Zweiten Weltkrieges. Lambsdorf als Symbol für Menschenrechtsverletzungen und Gewalt von deutscher und polnischer Seite im kollektiven Gedächtnis zu verankern, ist vorrangiges Ziel der geleisteten Arbeit. Neben Ausstellungen soll dies vor allem in der Jugend- und Bildungsarbeit geschehen. Dazu wurden mit der Universität Opole Konzepte ausgearbeitet, die den Jugendlichen mit Exkursionen über das riesige Lagergelände und Rollenspielen die verschiedenen Verfolgungsperioden verdeutlichen sollen. Dabei wird auch mit unorthodoxen Mitteln wie Kostümierung gearbeitet, was in der anschließenden Diskussion zu Kontroversen führte. Für die Zukunft soll in der Gedenkstätte ein Dokumentations- und Forschungszentrum eingerichtet werden.

Abschlussdiskussion und Ausblick auf das Treffen 2005

Zu Beginn der Abschlussdiskussion wurde auf Anregung der osteuropäischen Teilnehmer das Thema der Betreuung von Mitarbeitern in den verschiedenen Institutionen angesprochen, die sich täglich mit der leidvollen Geschichte von Personen und Orten auseinandersetzen. Das deutsche Modell der Supervision, wie es die Stiftung zu Aufarbeitung der SED-Diktatur anbietet, stieß dabei auf großes Interesse, auch wenn es in Osteuropa aufgrund fehlender Kapazitäten zurzeit nicht realisierbar erscheint. Maija Sinka (Riga) machte deutlich, dass die Auswirkungen von jahrzehntelanger Diktatur auch in der Gesellschaft Schäden hinterlassen, deren Folgewirkungen noch untersucht werden müssten. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema "Gesellschaft unter der Diktatur" wurde von den Teilnehmern für das nächste Treffen gewünscht. Eine Teilnehmerin aus Hrodna machte in ihrem Abschlussstatement noch einmal auf die Schwierigkeiten und Hindernisse bei der unabhängigen historischen Aufarbeitung in Belarus aufmerksam, die der westlichen Geschichtswissenschaft und Gedenkstättenarbeit gänzlich unbekannt sind. Sie betonte, dass die Möglichkeiten der Gestaltung in Belarus zwar gegeben seien, aber ungemein schwierig und stark behindert würden. Umso mehr sei es wichtig, dass die Arbeit im Ausland bekannt würde und durch Tagungen wie in Kreisau ein breiteres Forum erhielte. Fehlende zivilgesellschaftliche Strukturen erschwerten die Arbeit auch in der Ukraine, betonte Andrej Pavlyshyn. Deshalb sei es nötig, den begonnenen Dialog zwischen den bestehenden NGOs und dem Westen weiter fortzuführen und die Diskussion auch verstärkt auf die pädagogische Arbeit zu lenken.
Dass die Vernetzung der verschiedenen Initiativen und Institutionen Ziel dieses Treffens ist, betonte Bernd Florath in seinem abschließenden Beitrag.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts