Doings-Sayings-Writings. 2. Historiker-Workshop des DFG-Graduiertenkollegs 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“

Doings-Sayings-Writings. 2. Historiker-Workshop des DFG-Graduiertenkollegs 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“

Organisatoren
Constantin Rieske / Lucas Haasis, Graduiertenkolleg 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“, Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.07.2013 - 13.07.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Lucas Haasis / Constantin Rieske, Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“, Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg

Die Praxistheorie hält Einzug in die Geschichtswissenschaft. Programmatisch dabei in ihren Konturen, als theoretischer Referenzrahmen, zwar bereits durchaus gesetzt, bleibt die spezifische Art und Weise der historiographischen Umsetzung praxeologischer Grundannahmen einer Feinjustierung noch ledig. Wie konturieren wir die praxeologische ‚Relektüre’ des Quellenmaterials? Welche Grundaxiome haben bei der Quellenauswertung zu gelten? Vor welche Herausforderungen stellt den Forscher die spezifische Historizität der jeweiligen Praxis? Welche Rolle kommt dem subjektivierenden Moment von Praktiken zu? Zuletzt die Frage, worin begründet sich der Mehrwert und die Anschlussfähigkeit der neuen Analyseoptik? Im Blick auf die geschichtswissenschaftliche Forschungslandschaft bleiben die Antworten auf diese Fragen bis dato größtenteils noch zu unbestimmt. Es fehlt an klar definierten Markern der Forschungsoptik, im Gegensatz oder als Ergänzung zu anderen Forschungsansätzen, als auch an empirischer Tiefenschärfe. Wie lösen wir die praxeologischen Prämissen letztlich und zuvorderst ‚quellennah’ ein?

Die Oldenburger Workshop-Reihe Doings-Sayings-Writings, ausgerichtet vom GK 1608/1 Selbst-Bildungen, versteht sich vor diesem Hintergrund als Podium, Laboratorium und Vermittler. Ausgerichtet als Postdoc- und Doktorandenforum mit Teilnehmer/innen aus ganz Deutschland wird das Ziel verfolgt, in einen offenen und kritikfähigen Austausch über praxeologische Lesarten historischer Quellen zu treten. Dabei sollen Chancen und Grenzen methodologischer Operationalisierungen – als auch Anschlussfähigkeiten zu anderen Ansätzen – anhand von exemplarischen Fallbeispielen aus laufenden Forschungsprozessen diskutiert und ausgelotet werden, um letztlich auf der Zielgerade praxeologische Wegmarken für zukünftige Diskussionen zu setzen.

Standen die Vorträge des Auftaktworkshops im Dezember 2012 in diesem Sinne vor allem unter dem Banner von ‚Situativität’ und ‚Intelligibilität’ historischer Praktiken sowie der ‚unabdingbaren’ Mitspielfähigkeit verschiedenster Partizipanden an der Praxis, bildeten nun die Kategorien von Zeitlichkeiten und Reflexivität sowie der Stellenwert von Normativitäten den Schwerpunkt des zweiten Workshops, abgehalten vom 12.–13. Juli 2013. Im Folgenden werden diese Diskussionszusammenhänge, thematisch aufgeschlüsselt und gebündelt, einer näheren Erläuterung unterzogen.

Zeitlichkeit, Relationalität & Medialität: Die Frage nach Zeitlichkeiten innerhalb der Praxis durchzog die Diskussionen des gesamten Workshops. Als Auftakt betonte JOACHIM HÄBERLEN (Berlin), dass eine historisch kontingente ‚realisation of the self’ grundsätzlich an eine fluide Mehrdimensionalität von Praxis zu knüpfen ist. Aus alltagshistorischer Perspektive betitelte er Selbst-Bildung als einen Dreischritt von ‚Imagining, Enactment and Sharing of the Self’ – Kategorien, die sich in praxi, zeitlich situational und relational miteinander verweben. Empirisch buchstabierte er diesen methodischen Unterbau anhand von Feldpostbriefen des schwäbischen Dorfschullehrers Hahn zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges aus. Selbst-Bildung zeigte sich hier in brieflicher Kommunikation, die die drei theoretischen Ebenen nun empirisch plastisch zu Tage treten ließ.

Die Ausführungen von LUCAS HAASIS (Oldenburg) wiesen in eine gleiche Richtung. Auch er stellte dem Einfluss von Zeitlichkeiten, genauer, eingeschriebenen ‚Zeitfenstern’ innerhalb der kaufmännischen Briefpraxis, ein positives Zeugnis als prägende Dimension historischer Selbst-Bildungen aus. Haasis beschrieb die Briefpraxis innerhalb des Korrespondenznetzwerkes des Hamburger Kaufmannes N.G. Lütkens als ‚face-to-letter-Interaktion’, eine ‚Konferenzschaltung’ frühneuzeitlicher Kaufmänner in medialer Ko-Präsenz. Diese Praxis war maßgeblich durch koexistierende, sich überlappende Zeitkonzepte geprägt, wenn die Gruppe der kaufmännischen Briefeschreiber in ihrer Geschäftskorrespondenz sich gleichzeitig auf vergangene Transaktionen bezog, gegenwärtige Unternehmungen verhandelte und neue Projekte plante. Im Briefeschreiben konstituierten und komprimierten sich - praxeologisch rekonstruierbar - Praxisgegenwarten, auf die die Kaufleute informationsrelevant angewiesen waren, die ihre Handelsvorgänge medial plausibilisierten und vor allem: materiell beglaubigten.

Mobilität, Bewegung & Reflexivität: CONSTANTIN RIESKE (Oldenburg) erweiterte die Kategorie Zeit um die wichtige Komponente Raum. In Bezug auf die Prozessualität von Glaubenswechseln im England des 17. Jahrhunderts zeigte er anhand von Beispielen aus Konversionserzählungen historische Raum-Zeit-Relationen der Bewegungspraxis von Konvertiten auf. Bewegungspraxis deutete er dabei sowohl im Hinblick auf sich ‚bewegen’ – mit Blick auf das mobilisierte Subjekt des Reisens – als auch als ‚bewegt werden’ – mit Blick auf das selbstreflexive Moment innerhalb der Konversionspraxis. Durch diese praxeologisch gewährte Offenheit der Betrachtung ergaben sich spannende Synergieeffekte, die es erlauben, die historisch spezifische Prozesshaftigkeit des Glaubenswechsels mitsamt seinen impliziten Normativitäten forschungsleitend erkennbar zu machen.

‚Von Gott oder Menschen bewegt?’, so fragte SUSANNE JUNK (Tübingen), in direkter Anknüpfung an Rieskes Ausführungen. Anhand von Gerichtsakten gegenüber dem württembergischen ‚Propheten’ Hans Keil zur Mitte des 17. Jahrhunderts nahm sie exemplarisch die Pluralität der Deutungsmuster gegenüber Prophetie in den Blick. Denn mit diesen konkurrierenden Deutungsmustern ging einher, dass die Akteure ihre Praktiken des Untersuchens, Einordnens, Beurteilens und Richtens zu reflektieren und explizit zum Ausdruck zu bringen hatten, warum sie eine Deutung favorisierten oder verwarfen. Durch den Bezug auf eine von mehreren konkurrierenden Deutungsmustern gegenüber Prophetie konnten sich die beteiligten Akteure im Verlauf der Untersuchungspraxis und gerichtlichen Praxis zeitweilig Handlungsspielräume eröffnen. Dies zeigte Junk exemplarisch an mehreren Bittschreiben des in Haft befindlichen ‚Propheten’ an den Herzog, sie lassen sich als situative Versuche der ‚Selbst-Positionierung’ im Verlauf des Verfahrens verstehen, ebenso wie andere Akteure wiederum auf diese Positionierungen zu reagieren hatten. Letztlich führten erst das prozesshafte Zusammenwirken und Explizit-Machen von Praktiken des amtlichen Beurteilens und des gerichtlichen Verurteilens und der Praktiken der Selbst-Positionierung des Hans Keil zur Festschreibung einer Deutung als ‚eindeutiges’ und legitimes Urteil.

Legitimation, Visualität & Kritik: Die Frage nach Legitimierungen bildete ebenfalls den Aufhänger der Beiträge von JÖRN ESCH (Oldenburg) und ANNE MARISS (Kassel). Ausgehend von historischen Bildquellen als einem von der Geschichtswissenschaft für praxeologische Zwecke bisher vernachlässigtem Analysematerial widmete sich Esch der Frage, wie der Fußballer im Kaiserreich zum Gegenstand des Bildes wurde, wie er ‚ins Bild gesetzt’ wurde. Abbildungen wie die von Torwarten in Bewegung – aus der Feder praxiserfahrener Produzenten – boten dem zeitgenössischen Rezipienten eine Orientierung zur Ausübung spezifischer Körpertechniken. Abbildungen und Fotografien ließen Bewegungen sichtbar sinnhaft werden, vermittelten ein schweigendes Praxis- und Körperwissen und reproduzierten damit bis heute analytisch herleitbare Umgangskörper. Als didaktisches Mittel fungierten diese Fußballkörper als positive visuelle Musterbeispiele, gleichzeitig boten sie jedoch auch die Quervorlage für karikaturistische Schmähungen, kurz: Raum für Kritik.

Kritik ausgesetzt sahen sich ebenso die Antipoden des historischen Protagonisten im Beitrag von Anne Mariss. Sie dokumentierte und belegte anhand von Vorlesungsmanuskripten des durch die zweite Cook-Expedition berühmt gewordenen Naturforschers Johann R. Forster dessen nachhaltiges Self-Fashioning als Naturforscher im Dienste der empirischen Wissenschaft vor dem Hintergrund der im 18. Jahrhundert vielfach geäußerten Kritik an der Naturgeschichte. Forsters Selbst-Bildung prägte dabei das Zusammenwirken von personaler Identität, den Dingen seines alltäglichen wissenschaftlichen Umgangs und naturgeschichtlichem Wissen. Expertise und praktisches Können wurden durch Forster in Abgrenzung zum Laientum kompetent umgedeutet, kategorial festgeschrieben, feldspezifisch etabliert und habituell inkorporiert. Forster entwarf sich innerhalb seiner Lehrtätigkeit zielsicher als Kenner und Könner und dabei letztlich gewissermaßen auch als Ideal.

Normen, Ideale & praktische Brüche: Zwischen Ideal und Alltäglichkeit, Passung und Nichtpassung, changierten ebenso die Hauptdarsteller der Beiträge von INES WEBER (Oldenburg) und CHRISTINA BRAUNER (Münster). Weber erläuterte in ihrem Vortrag Idealisierungen und Passungsverhältnisse mittelalterlicher Bischöfe humanistischer Prägung. Sie interpretierte dabei mittelalterliche Viten als Blaupausen für Amtsvorstellungen, die an Bischöfe gerichtet wurden, aus denen sich gleichermaßen jedoch erst die Möglichkeitsräume für die jeweils spezifischen historischen Akteure ergaben. Weber gelang es, Erklärungsmuster zu bieten für divergierende bischöfliche Regierungsstile, unterschiedliche historische Arten und Weisen, das Bischofsamt auszufüllen, trotz fortschreitender Idealisierungen und anhaltenden Positionierungskämpfen.

Ein ähnlich umkämpftes Feld bot sich der Personengruppe der frühneuzeitlichen Diplomaten. In ihrem Vortrag zur Konfliktpraxis europäischer Handelskompanien an der Küste Westafrika deklarierte Brauner die zuvorderst situtionsadäquate Reaktion auf örtliche und feldspezifische Gegebenheiten vor Ort zum obersten Gebot. Sie stellte heraus, dass das Spielen diplomatischer Rollen die einzelnen Akteure in den zeitgenössischen Normen der nationalstaatlichen Repräsentanz zwar fortwährend verstrickte, diese Normen und Erwartungen aber in der praktischen Ausübung der Diplomatentätigkeit dennoch Spielräume zuließen. Zur Durchsetzung und Legitimierung persönlicher Interessen war es durchaus gebräuchlich, die Normen für eigene Zwecke umzudeuten und zu instrumentalisieren, durch Brauner plastisch dargestellt an der Streitpraxis des Hendrik Caarloff.

Das Zwischenfazit: Sowohl der Auftaktworkshop der Oldenburger Reihe als auch dessen Nachfolger schlossen mit der Erkenntnis: die Lesbarkeit, Beobachtbarkeit und Rekonstruierbarkeit historischer Praxis ist in besonderem Maße nicht nur methodisch gewährleistet, sondern – davon zeugten die Beiträge – auch empirisch einträglich und diskussionsanregend. Mehr noch verspricht die praxeologische Forschungslinse, der Blick auf Prozessualität, Historizität und Materialität von Praxis im dezidierten Dreiklang – auf die Doings-Sayings-Writings innerhalb historisch spezifischer Kontexte – neue Fragestellungen, frische Erklärungsmuster, spannende Ergänzungen zu bisherigen Forschungsansätzen und insgesamt nuancierte Beschreibungen historischer Zusammenhänge. Der dritte und abschließende Workshop der Reihe findet im Dezember 2013 statt.

Konferenzübersicht

Begrüßung: Lucas Haasis, Constantin Rieske (Oldenburg)

Joachim Häberlen (Berlin): Das Selbst praktizieren. Überlegungen zum Selbst aus alltagshistorischer Perspektive.

Jörn Esch (Oldenburg): Visualität & Subjektivierung: Den Fußballer ins Bilde setzen.

Lucas Haasis (Oldenburg): Seith Jüngsten, in Eil, in Zeitten: Zeitlichkeiten und kaufmännische Briefpraxis.

Christina Brauner (Münster): Zwischen Staatsaffäre und Männerfreundschaft. Zur Konfliktpraxis europäischer Handelskompanien in der Frühen Neuzeit.

Moderation: Constantin Rieske

Constantin Rieske (Oldenburg): Selves in flux – Das mobilisierte Subjekt in Glaubenswechseln im 17. Jahrhundert.

Susanne Junk (Tübingen): Von Gott oder von Menschen bewegt? – Selbst-Positionierungen eines (angeblichen) Propheten am Beispiel Hans Keil (1648).

Anne Mariss (Kassel): „The great storehouse of nature“ – Wissensräume der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert.

Ines Weber (Oldenburg): „Du wirst den Fürsten gebrauchen, um Gottes Willen zu thun” – Einblicke in das Bischofsamt im späten Mittelalter.

Moderation: Lucas Haasis

Abschlussdiskussion


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