Bürger und Bürgerlichkeit in der europäischen Literatur

Bürger und Bürgerlichkeit in der europäischen Literatur

Organisatoren
Konrad-Adenauer-Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.09.2013 - 14.09.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Markus Pahmeier, Lemgo

Wie wurden ‚Bürger‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ in Film und Literatur dargestellt und bewertet? Und welche Bedeutung hat diese kulturelle Tradition des ‚Bürgers‘ und des ‚Bürgerlichen‘ im gegenwärtigen Europa noch? Über diese Fragen sprachen vom 12. bis zum 14. September 2013 in Berlin über 50 Germanistinnen und Germanisten aus 20 europäischen Ländern auf der VI. Fachtagung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) unter der Leitung von Michael Braun (Leiter des Referates Literatur der KAS).

In der ersten Sektion standen ‚Bürger im Film‘ im Fokus. Heinrich Breloers Dokudrama Die Manns (2001), so JÜRGEN BARKHOFF (Dublin), zeige Thomas Mann zwar als Repräsentanten bürgerlicher Werte, aber auch als meisterhaften Regisseur einer bürgerlichen Rolle, die dazu diene, die inneren Gefahren seines Künstlertums und seiner Homosexualität sowie die äußeren Gefahren der Weltgeschichte zu sublimieren. Dieses komplexe Rollenspiel mit der Bürgerlichkeit, in dem allerdings kaum Manns Engagement für die Demokratie in den Blick komme, weite der Film auf Manns Familie aus. Breloers Verfilmung der Buddenbrooks von 2008 bewertete Barkhoff als weniger komplex, da das Bürgerliche in ihr zu sehr auf ökonomischen Erfolg reduziert sei.

IOANA CRACIUN-FISCHER (Bukarest) machte anhand von Joe Mays Stummfilm Asphalt (1929) auf eine wesentlich kritischere Darstellung der Bürgerlichkeit aufmerksam. Der Protagonist des Films, ein junger Polizeiwachtmeister, wandle sich erst dank einer verführerischen Verbrecherin von einem infantilen und autoritätshörigen Bürger zu einem autonomen Subjekt.

Abgeschlossen wurde die erste Sektion mit Wolfgang Staudtes Film Der Untertan (1951). Unter der Regie von FRANK FINLAY (Leeds) erörterte die Filmproduzentin SUSANNE OTTERSBACH-FLIMM mit dem Plenum die Frage, ob Staudte seine satirische Darstellung einer bürgerlichen Moral des Tretens und Getreten-Werdens überziehe – und damit das Thema des Untertanen vielleicht sogar verharmlose.

Die zweite Sektion galt dem ‚Bürger in der Literatur‘. GERHARD LAUER (Göttingen) beschrieb Goethes Ideal eines Bürgers, der seine Individualität frei ausbilde und dennoch zu einem harmonischen Ausgleich zwischen Welt bzw. Gesellschaft und Individuum imstande sei. Dies Bildungsideal, das im Bildungsroman zum Ausdruck komme, gelte zwar auch für dessen Leser. Goethe habe sich aber nicht vorstellen können, es auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen, von der nur ein Prozent der Bildungsschicht angehört habe. Der Zusammenhang zwischen Bildung und Bürgerlichkeit sei dann in der Romantik und im 19. Jahrhundert schwächer geworden. Das Engagement für das Ideal einer freien Bildung sei aber gerade jetzt wieder sehr gefragt. So sei die pakistanische Bloggerin Malala Yousafzai wegen ihres Plädoyers für Bildung beinahe umgebracht worden.

EVA KOCZISZKY (Szombathely) warf neue Blicke auf Hans Magnus Enzensbergers Bewertungen der Bürgerlichkeit. Die harsche und hoffnungslose Kritik, die Enzensberger in dem Versepos Der Untergang der Titanic (1978) über die europäische Bürgerlichkeit fälle, sei in der Dokufiktion Hammerstein (2008) – über den letzten Chef der Heeresleitung in der Weimarer Republik und seine Familie – zwar nicht gänzlich verschwunden. Der verbürgerlichte Militäradel werde in ihm aber auch positiv dargestellt. Aus Hammerstein spreche eine neue Hoffnung auf bürgerliche Tugenden: auf individuelle Freiheit und Zivilcourage sowie auf einen familiären Zusammenhalt, der politische Differenzen überwiege.

ANTJE BÜSSGEN (Löwen/Louvain) stellte Robert Menasses Europa-Essay Der Europäische Landbote (2012) und dessen Ideal eines Europas der Regionen vor. Um ein solches Europa zu erreichen, sei es Menasse zufolge unabdingbar, dass nationale Interessen und Demokratien sowie deren Vertretung im Europäischen Rat überwunden würden und dass eine übernationale europäische Demokratie konzipiert werde. Deshalb sei für Menasse eine demokratische Bewegung von ‚Mutbürgern‘ nötig. In Menasses Essay bleibt aber unklar, wie Büssgen in der Diskussion betonte, warum regionale Interessen weniger Konfliktpotenzial bergen sollten als nationale Interessen.

Am zweiten Abend las MARTIN MOSEBACH, diesjähriger Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung, aus seinem Roman eines gescheiterten Bürgers, Eine lange Nacht (2000). Dieser fallende Held namens Ludwig Drais sei eine seiner, so Mosebach, ‚monströsen‘ Figuren. Sein Bürgertum werde an dem Punkt sichtbar, wo er es verliere, wie Moderator GÜNTER BLAMBERGER (Köln) ausführte.

In der dritten Sektion, ‚Weltbürgertum und europäische Gesellschaft‘, beschrieb FRANÇOISE LARTILLOT (Metz) Michael Hamburgers Kosmopolitismus in altgriechischer Tradition. Sie belegte ihn mit Hamburgers poetologischer Position des Exilanten, mit seiner kosmopolitischen Deutung der deutschen Literatur, mit dem Motiv des Gehens und Bleibens bzw. mit kulturanalytischen Elementen in seiner Lyrik sowie mit seiner Idee, dass Mensch und Kosmos durch die Materialität der Sprache versöhnt werden müssen.

BOGDAN MIRTSCHEV (Sofia) fasste die Geschichte der Begriffe ‚Bürger‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ zusammen. Dabei beleuchtete er auch die abwertende Verwendung dieser Begriffe seit dem französischen Absolutismus und deren positive Verwendung in der gegenwärtigen Gesellschaft. Bürgerliche Werte wie christliche Ethik, Familie und Heimat würden wieder stärker befürwortet. Darüber hinaus gäbe es neben politischem Engagement dank der Neuen Medien neue Formen politischer Partizipation. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, wie wichtig es ist, zwischen zwei Verwendungen des ‚Bürger‘-Begriffs zu unterscheiden: Zum einen kann mit einem ‚Bürger‘ eine Person gemeint sein, die das Recht auf politische Mitbestimmung hat und dieses Recht zum Wohle des Gemeinwesens engagiert ausübt bzw. eine Person, die dafür kämpft, dieses Recht zu erhalten. Zum anderen kann mit einem ‚Bürger‘ eine Person gemeint sein, die sich durch einen bestimmten Habitus definiert. Freilich lässt sich beides nicht immer völlig trennscharf unterscheiden. Zum Beispiel kann der Anspruch auf politische Mitbestimmung einen Habitus prägen.

Im Abschlussvortrag zeigte RÜDIGER GÖRNER (London), wie differenziert das Bürgerliche von Georg Büchner in einem weiten Feld zwischen revolutionärem Engagement, Stadtbürgertum und Lethargie erfahren und dargestellt worden sei. Büchner reflektiere die Problematik der Französischen Revolution, erfahre das Stadtbürgertum Zürichs als ein neues kulturpolitisches Ideal seiner Zeit und bringe für Figuren wie Lenz Verständnis auf. Büchners Texte seien Experimente, die nie ein bestimmtes Konzept von Bürger und Bürgerlichkeit eindeutig kritisierten oder befürworteten. In der Diskussion wurde dies als spezifisch modern charakterisiert.

Im Abschlusspodium diskutierten die Studierenden JESPER FESTIN (Lund), GUGLIELMO GABBIADINI (Bergamo), HELENA KÖHLER (Bielefeld) und HEILIKA LEINUS (Tartu) über die Bedeutung und Brauchbarkeit des ‚Bürger‘-Begriffs, über Bildung als Qualifikation und bürgerlichen Wert, über Patriotismus und europäische Identität sowie über die Chancen und Grenzen der Neuen Medien. Einig waren sich die Studierenden darüber, wie wichtig bürgerschaftliches Engagement und die Partizipation an einer europäischen Bürgergesellschaft heute sind.

Insgesamt machte die Tagung auf verschiedene, bis in die Gegenwart reichende Darstellungen und Bewertungen von Bürgerlichkeit aufmerksam. Darüber hinaus wurden viele Perspektiven für weitere Forschungen und Diskussionen deutlich. Unter dem Motto der Tagung könnten weitere literarische Texte und Werke anderer Künste analysiert werden – gerade auch die zeitgenössischer Künstler/innen. Dabei müssten, so ein zentrales Ergebnis der Tagung, die oben bereits beschriebenen unterschiedlichen Verwendungen des ‚Bürger‘-Begriffs bedacht werden. Erst dadurch ergäben sich auch Perspektiven für ein interdisziplinäres Gespräch mit den Geschichts- und den Sozialwissenschaften. Vor allem könnte die Frage nach dem ‚Bürger' für vergleichende Analysen verschiedener europäischer Literaturen fruchtbar gemacht werden. Es ginge darum, wie solche Analysen dabei helfen können, eine bürgerliche europäische Identität zu definieren. So könnte eine Frage auf der kommenden VII. Fachtagung für europäische Germanisten über ‚Krieg und Frieden in europäischer Literatur‘ lauten, inwiefern Bürger und Bürgerlichkeit sowohl zu Kriegen als auch zu Friedensbestrebungen beigetragen haben.

Konferenzübersicht:

Michael Braun (KAS): Einführung

Sektion I: Bürger im Film

Jürgen Barkhoff (Dublin): Künstler und Bürger bei Thomas Mann: Die Filme Buddenbrooks (2008) und Die Manns (2001)

Ioana Craciun-Fischer (Bukarest): Die Dekonstruktion des Bürgerlichen in den Stummfilmen der Weimarer Republik

Vorführung von Wolfgang Staudtes Film Der Untertan (1951) sowie Diskussion mit Susanne Ottersbach-Flimm (Filmproduzentin) und Frank Finlay (Leeds)

Sektion II: Bürger in der Literatur

Gerhard Lauer (Göttingen): Der Bürger und der Bildungsroman

Eva Kocziszky (Szombathely): Untergang und Überleben des Bürgerlichen? Enzensbergers Kehren

Antje Büssgen (Löwen/Louvain): Zur Aufklärung der europäischen Bürger in Robert Menasses Europa-Essay Der Europäische Landbote

Sektion III: Weltbürgertum und europäische Gesellschaft

Françoise Lartillot (Metz): Der lange Weg zum Weltbürgertum am Beispiel von Michael Hamburgers lyrischen Anschauungen

Bogdan Mirtschev (Sofia): Postnationale Renaissance des Bürgers?

Autorenlesung mit Martin Mosebach und anschließender Diskussion mit Günter Blamberger (Köln)

Abschlussvortrag
Rüdiger Görner (London): Bürger Büchner? Oder der Citoyen mit „kommoder Religion“

Abschlusspodium: Wie viel Bürgerlichkeit braucht Europa?
mit Jesper Festin (Lund), Guglielmo Gabbiadini (Bergamo), Helena Köhler (Bielefeld) und Heilika Leinus (Tartu)


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