HT 2014: Siege und Niederlagen, Irrtümer und Erkenntnisse. 30 Jahre Geschlechtergeschichte. Eine Bilanz

HT 2014: Siege und Niederlagen, Irrtümer und Erkenntnisse. 30 Jahre Geschlechtergeschichte. Eine Bilanz

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Mirjam Höfner, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Sektion „Siege und Niederlagen, Irrtümer und Erkenntnisse. 30 Jahre Geschlechtergeschichte“ auf dem 50. Historikertag in Göttingen stand unter der Leitung von CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL (Basel). Gemäß dem diesjährigen Motto fragte sie bilanzierend nach „Gewinnern und Verlierern“ der Geschlechtergeschichte: Ausgehend von den aus der feministischen Bewegung kommenden Anfängen der Frauengeschichte über ihre Institutionalisierung bis hin zur Kritik an der Kategorie Geschlecht wurde sich mit dem aktuellen Standort der Geschlechtergeschichte im historiographischen Kontext befasst. Den ersten Part der sehr gut besuchten Sektion gestalteten vier Vorträge und ein Kommentar zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte, während die zweite Hälfte aus einem Round-Table mit fünf Diskutant_innen aus unterschiedlichen epochalen Forschungsschwerpunkten bestand, die sich mit Erträgen und Desideraten geschlechtergeschichtlicher Forschungen sowie deren Stellung im historiographischen Feld auseinandersetzten.

In ihrer Einführung betonte CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL (Basel) das feministische Erbe der Geschlechtergeschichte, das in der – durch die ‚neuen‘ Frauenbewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre geprägten – Frauengeschichte wurzelte. Rückblickend betonte Claudia Opitz-Belakhal die maßgebliche Beteiligung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Entwicklung diverser neuer und innovativer historiographischer Ansätze und Entwicklungen: Darunter beispielsweise die Alltagsgeschichte, die historische Anthropologie, der linguistic turn, der cultural- sowie der postcolonial turn. Mittlerweile sei die Geschlechtergeschichte in den USA und in Europa als Studienfach etabliert, doch werde sie gerade aufgrund ihrer feministischen Wurzeln vielfach bis heute als politisch gefärbt wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund und auch in Anbetracht der aktuellen Multiperspektivität sowie Interdisziplinarität der Geschichtswissenschaft näherte sich das Panel kritisch der – provokativen – Frage: Ist Geschlecht auch bald drei Jahrzehnte nach Erscheinen des theoretischen Grundlagentextes von Joan Scott noch eine nützliche Kategorie?

SYLVIA PALETSCHEK (Freiburg im Breisgau) eröffnete die Vortragsreihe mit ihrem Beitrag zum Thema „Historiographiegeschichte als Geschlechtergeschichte“. Vor dem Hintergrund der strukturellen Bedingtheit und den Traditionslinien der modernen Geschichtsschreibung verdeutlichte sie, dass der akademische Standort der Frauen- und Geschlechtergeschichte nicht ohne Einblick in die Situation von Frauen sowie die Geschlechterverhältnisse in der Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert bestimmbar sei. Hinsichtlich der Historiographiegeschichte erweise sich die Anwendung der Kategorie Geschlecht als innovative Perspektiverweiterung: Der Blick auf historische Frauenräume in der Geschichtswissenschaft ermögliche nicht allein die Sichtbarmachung weiblicher historiographischer Leistungen innerhalb wie außerhalb der universitär verankerten Zunft, sondern mache die Produktions- und Rahmenbedingungen historischer Wissensproduktion sichtbar. Ein geschlechtersensibler Standpunkt dekonstruiere zudem das im 19. Jahrhundert aufgestellte Postulat des Historikers als objektivem Wissensproduzenten und offenbare die wissenschaftliche Geschichtsschreibung als komplexen Prozess aus sozialen Zuschreibungen sowie machtpolitischen Aspekten. Erst der relativ späte take off der Historikerinnen in den 1990er-Jahren brachte die bis dato auch aufgrund der universitären Strukturen in Deutschland erschwerte Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte maßgeblich voran. Ob aber ein Forschungsschwerpunkt in der Frauen- und Geschlechtergeschichte die universitären Karrieren von Historikerinnen beförderte – zum Beispiel über die damit forcierte weibliche Netzwerkbildung – oder behinderte, bleibt eine offene Frage.

Nach förderlichen bzw. hinderlichen Faktoren für die Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Universitätslandschaft der BRD fragte auch ANGELIKA SCHASER (Hamburg). Sie untersuchte neben dem akademischen Werdegang der ersten Generation von Frauen- und Geschlechterhistorikerinnen der 1970er-bis 1990er-Jahre auch die Rahmenbedingungen und das erste Auftreten frauen- und geschlechtergeschichtlicher Lehrveranstaltungen. Angelika Schaser führte die unter anderem auf Druck der Frauenbewegung zustande gekommenen Liberalisierungstendenzen seit den 1970er-Jahren sowie den Ausbau der Universitätslandschaft, aber auch außeruniversitäre Handlungsräume als förderlich für die Entwicklung innovativer Arbeitsformen an. Rückblickend lasse sich eine breitere akademische Trägerschaft der frauen- und geschlechtergeschichtlichen Ansätze – inklusive männlicher Forscher – ausmachen, als bislang angenommen. Angelika Schaser betonte als hinderliches Moment, dass die sukzessive Feminisierung der Geschlechtergeschichte zu wissenschaftsinterner Opposition führte, die sich nicht zuletzt in der fehlenden personellen Kontinuität und der damit einhergehenden Marginalisierung des Faches durch Kolleg_innen manifestierte. Wie Sylvia Paletschek pointierte auch Angelika Schaser in ihrem Ausblick, dass sich zukünftig zeigen wird, inwieweit sich der geschlechterhistorische Ansatz etabliert hat bzw. interdisziplinär auflöst.

Eine internationale Perspektive auf die Entwicklung des Fachs bot der Beitrag „Zur Geschlechtergeschichte in der BRD und in den USA im Vergleich“ von KAREN HAGEMANN (Chapel Hill), der, da diese krankheitsbedingt verhindert war, stellvertretend von Claudia Opitz-Belakhal präsentiert wurde. Karen Hagemanns quantitative Analyse verdeutlichte, dass trotz Internationalisierungstendenzen große Divergenzen im Bereich der Berufsaussichten, der Karriereverläufe und der Arbeitsbedingungen von Historiker_innen in beiden Ländern existieren. Während für die USA – unter anderem aufgrund der marktorientierten, dezentralisierten Hochschullandschaft – eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber innovativen Forschungsansätzen festzustellen sei, bedingten die in Deutschland herrschenden universitären Strukturen eine fortdauernde Dominanz althergebrachter historiographischer Paradigmen. Hinsichtlich der akademischen Etablierung des Fachs sei auf amerikanischer Seite ein weitaus ausgeprägteres Mainstreaming der Frauen- und Geschlechtergeschichte festzustellen als für die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft. Demgegenüber konstatierte Karen Hagemanns Beitrag auch Gemeinsamkeiten: So analysierte sie für beide Länder eine zunehmende Feminisierung der Lehre und damit einhergehend eine besorgniserregende Prekarisierung der angebotenen Stellen im Bereich der Geschlechtergeschichte.

Während sich die ersten drei Vorträge vornehmlich mit der Situation von Historikerinnen auseinandersetzten, lenkte JÜRGEN MARTSCHUKAT (Erfurt) den Fokus auf die „Geschichte der Männlichkeiten“. Unter der Fragestellung „Akademisches Viagra oder Weg zum Mainstreaming?“ ging er zunächst auf die der historischen Männlichkeitsforschung inhärente Spannung ein, die sich daraus ergebe, unter dem Label der Geschlechtergeschichte erneut auf Männer in der Geschichte zu fokussieren. Jürgen Martschukat betonte jedoch, dass eine Rezentrierung auf Männer dem eigentlichen Ziel der historischen Männlichkeitsforschung fern liege: Anstelle des einstigen Narratives, der „Geschichte großer Männer“, gehe es nunmehr darum, männliche Strukturen zu encodieren bzw. Formen von (vergangenen) Männlichkeiten – im Sinne der Butlerschen Geschlechterperformativität – zu eruieren. Die Kategorie Geschlecht sei ein entscheidendes Analysekriterium, die jedoch nicht losgelöst von anderen methodischen Herangehensweisen verwendet werden sollte: So unterstrich Jürgen Martschukat anhand von prägnanten Beispielen die Bedeutung von Relationalität und Intersektionalität im Kontext der Männlichkeitsforschung. Er vermerkte eine starke Präsenz der Masculinity studies in den Vereinigten Staaten und auch für den deutschen Raum sehe er zukünftig keinen Abschwung des geschlechtergeschichtlichen Ansatzes – denn letztlich sei gemäß Jürgen Martschukat kein historisches Thema ohne Berücksichtigung von Geschlecht zu bearbeiten.

In ihrem abschließenden Kommentar erinnerte EVA LABOUVIE (Magdeburg) an das bereits vor gut 30 Jahren formulierte und bis heute basale Anliegen der Frauen- und Geschlechtergeschichte, eine kritische Reflexion von Theorien, Kulturen und Prozessen der Wissensproduktion anzustoßen. Von Beginn an sei das Fach in herausragender Weise ebenso interdisziplinär wie international eingebunden gewesen, was es letztlich jedoch nicht vor der Marginalisierung als „interessant, aber nicht wichtig“ schützte. Der frauen- und geschlechtergeschichtliche Ansatz habe zu einer fruchtbaren Perspektiverweiterung geführt, aus der ein enormes Mehr an Wissen gewonnen werden konnte. Mit Blick auf das dichotomisch angelegte Motto des Historikertages unterstrich Eva Labouvie nachvollziehbar die immense Bedeutung gezielter Nachwuchsförderung im Bereich Frauen- und Geschlechtergeschichte als beste Investition für zukünftige „Siege“.

Im anschließenden zweiten Part des Panels diskutierten fünf Historiker_innen aus fünf unterschiedlichen epochalen Forschungsschwerpunkten unter der Leitung von Claudia Opitz-Belakhal den Stand des geschlechtergeschichtlichen Ansatzes sowie die kritische Reflexion der Kategorie Geschlecht für ihr jeweiliges Fachgebiet.

ELKE HARTMANN (Darmstadt) verwies für den Bereich Alte Geschichte auf den erfreulichen Boom geschlechtergeschichtlicher Forschungen seit den 1990er-Jahren, von denen viele vornehmlich aus dem angloamerikanischen Raum kommen. Auch sie wertete – wie Eva Labouvie – die internationale Vernetzung und die international einheitlichen Fachtermini als förderlich für die Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Allerdings bedürfe es noch weitergehender definitorischer Schärfung der Begriffe. Zudem sei Transparenz bezüglich des Erkenntnisinteresses mindestens ebenso wichtig wie eine ausdifferenzierte Nachwuchsförderung.

Für die Geschichte des Mittelalters konstatierte ALMUT HÖFERT (Zürich) trotz eines sich frühzeitig abzeichnenden breiten Spektrums an geschlechtergeschichtlichen Arbeiten, dass noch weite Felder nicht erforscht seien. So werde die Geschlechtergeschichte häufig immer noch mit Frauengeschichte gleichgesetzt. Sowohl für ‚klassische‘ mittelalterliche Themen, etwa der Kirchengeschichte, ebenso wie für neuere Forschungsfelder wie die eines transkulturellen Zugriffs auf das Mittelalter, seien trotz einiger wichtiger Arbeiten noch große Desiderate festzustellen.

Um einiges positiver erwies sich dagegen das Bild, das vom Stand der Geschlechtergeschichte in der Frühen Neuzeit gezeichnet wurde: CLAUDIA ULBRICH (Berlin) beschrieb die relativ ‚junge‘ Epoche als ein gutes Experimentierfeld für innovative Ansätze, das neben anderen auch die Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte entscheidend vorangebracht habe. Zwar explizierten die Titel einschlägiger Arbeiten nicht zwangsläufig den geschlechtsbezogenen Ansatz, doch sei die Sichtbarmachung von Frauen und Geschlechterverhältnissen thematisch wie methodisch vielfach bereits integriert. Somit gehe es zukünftig in der Frühen Neuzeit weniger um das Erfüllen großer geschlechtergeschichtlicher Desiderate, als vielmehr um den Erhalt und den Ausbau des bislang Erreichten.

MARTIN LÜCKE (Berlin) berichtete von einem fulminanten Start der Geschlechtergeschichte im Bereich der Geschichtsdidaktik in den 1980er-Jahren, der jedoch recht schnell an Schwung verloren habe. So hapere es leider bis heute an der praktischen Umsetzbarkeit des kritischen Potenzials von Geschlecht für den Geschichtsunterricht. Zwar sei die Vielgeschlechtlichkeit insbesondere in Berlin aufgrund der erfolgreichen Durchführung queerpolitischer Projekte durchaus in der Schule präsent. Doch um der Frauen- und Geschlechtergeschichte zukünftig mehr Raum in der Didaktik zu ermöglichen, bedarf es Martin Lücke zufolge einer schärferen theoretischen Begriffsarbeit.

Abschließend richtete sich der Fokus auf die Situation der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der (Schweizer) Zeitgeschichte. BRIGITTE STUDER (Bern) betonte den kritischen Gehalt des Fachs, der seine Wurzeln in der Zweiten Welle der Frauenbewegung habe: So seien differenzierte Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Macht sowie die Kritik des Expertenwissens Erkenntnisleistungen, die im (akademischen) Feminismus wurzelten. Erst mit der Geschlechtergeschichte hielten sie Einzug in die Historiographie. Diesem Befund stehe als großes Desiderat die Erforschung der zeitgenössischen frauenbewegten Akteure gegenüber. Zudem bedarf es nach Brigitte Studer bis heute einer radikalen, epochenübergreifenden Historisierung der Geschlechterdifferenzen.

Insgesamt ließen sich aus den anregenden Präsentationen und fruchtbaren Diskussionen des informativen Panels zu 30 Jahren Geschlechtergeschichte sowohl positive als auch negative Bilanzen ziehen: So könne das Teilgebiet einerseits seine Leistungen in den Bereichen Perspektiverweiterung, Internationalität und Interdisziplinarität sowie die Infragestellung historischer Konstruktionen auf der „Habenseite“ verbuchen. Andererseits musste die Geschlechtergeschichte in Bezug auf disziplinäre Etablierung Rückschläge einstecken und eine weitere Reflexion der Kategorie Geschlecht sei noch Desiderat (siehe Intersektionalität und Relationalität).

Ganz im Sinne der kritischen Tradition des Faches wurde abschließend keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem „Sieg“ oder der „Niederlage“ der Geschlechtergeschichte festgehalten. Schließlich seien bislang weder klar definierte Relevanzkriterien für Erfolge und Misserfolge formuliert, noch bisherige Relevanzhierarchien in der Geschichtswissenschaft ausreichend in Frage gestellt worden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Claudia Opitz-Belakhal (Basel)

Teil I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Geschlechtergeschichte

Claudia Opitz-Belakhal (Basel), Einführung

Sylvia Paletschek (Freiburg), Gendering historiography? Historiographiegeschichte als Geschlechtergeschichte

Angelika Schaser (Hamburg), Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Universitätslandschaft der BRD

Karen Hagemann (Chapel Hill), Zur Situation der Geschlechtergeschichte in der BRD und in den USA im Vergleich

Jürgen Martschukat (Erfurt), Geschichte der Männlichkeiten. Akademisches Viagra oder Weg zum „mainstreaming“ der Geschlechtergeschichte?

Eva Labouvie (Magdeburg), Kommentar

Teil II: Roundtable. Siege und Niederlagen, Erträge und (Fehl-)Leistungen der Geschlechtergeschichte

Claudia Opitz-Belakhal (Basel), Leitung

Elke Hartmann (Darmstadt), Alte Geschichte

Almut Höfert (Zürich), Geschichte des Mittelalters, Transkulturelle Geschichte

Claudia Ulbrich (Berlin), Geschichte der Frühen Neuzeit, Historische Anthropologie

Brigitte Studer (Bern), Neuere und Neueste Geschichte, Geschichte sozialer Bewegungen, besonders der Frauenbewegung

Martin Lücke (Berlin), Geschichtsdidaktik, Geschichte der Sexualität(en)


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