HT 2014: Tiere als Verlierer der Moderne? Der Wandel der Beziehung zwischen Menschen und Tieren im interdisziplinären Blick

HT 2014: Tiere als Verlierer der Moderne? Der Wandel der Beziehung zwischen Menschen und Tieren im interdisziplinären Blick

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V. (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
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Von
Sandra Eckardt / Dorothee Hemme, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen

„Das Tier“ als Kategorie ist nach wie vor ein blinder Fleck in den Geistes- und Kulturwissenschaften, zumal es jenseits seiner phänomenologischen Attraktivität erst in Ansätzen theoretisiert worden ist. Die Sektion „Tiere als Verlierer der Moderne? Der Wandel der Beziehung zwischen Menschen und Tieren im interdisziplinären Blick“ fragte nach den Möglichkeiten und Perspektivierungen dieser sich etablierenden Forschungsrichtung für die Kultur- und Geschichtswissenschaften und danach, welche neuen Sichtweisen diese zu bestehenden Konzepten hinzufügen können.

Einführend zeigte die Kulturanthropologin MICHAELA FENSKE (Göttingen) die vielfältigen Ambivalenzen unserer gelebten Beziehungen zu Haus- und Nutztieren auf. Sind Haus- oder Heimtiere, mit denen wir eher affektive Verbindungen zu hegen meinen, gegenüber Nutztieren die Gewinner und umgekehrt? Sie lenkte dabei den Blick auf die menschliche Perspektive, aus der heraus diese Frage formuliert sei. Der anthropozentrische Blick und eine einhergehende methodologische Asymmetrie seien Herausforderungen für die interdisziplinäre Tierforschung und deren theoretische und methodische Konzepte. Vor dem Hintergrund aktueller sozialanthropologischer Perspektivierungen von Tim Ingold, der eine „anthropology beyond humanity“1 fordert, plädierte Fenske für eine andere Sicht auf die Fragestellung des 50. Deutschen Historikertages: Was gewinnen Menschen, wenn sie nach der Beziehung zwischen Menschen und Tieren in ihrem historischen Wandel fragen? Wissenschaftler/innen seien als Teil dieses sozialen Gefüges zu reflektieren, jenseits der hergebrachten und zu überwindenden Trennung zwischen Mensch und Tier.

Dass die Frage nach den Mensch-Tier-Beziehungen eine Geschichte des Wissens konturiert, die nur multiperspektivisch und damit interdisziplinär zu bearbeiten sei, betonte der Historiker WINFRIED SPEITKAMP (Kassel) in seinen Begrüßungsworten. Der Frage nach der Handlungsmacht der Tiere ging er anhand ihrer Präsenz in Städten nach. Verschwanden die Tiere Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend aus den europäischen Stadträumen in Richtung der Peripherien und ländlichen Areale, so geriet auch deren Ausbeutung aus dem Blick der städtischen Bevölkerung. Die reformerische Bewegung jener Jahre schrieb eine zivilisationskritische Kulturgeschichte des Verlustes, welche die Belange des Menschen in den Blick nahm, nicht aber der Tiere. Speitkamp unterstrich in Hinblick auf den methodischen Fokus der Sektion, dass die Mensch-Tier-Geschichte nur relational fassbar sei.

ALINE STEINBRECHER (Konstanz) plädierte für eine grundsätzliche inhaltliche und empirische Neubestimmung des Blickes auf Tiere. Anhand unterschiedlicher Quellen zur Hundehaltung im städtischen Alltag Zürichs von 1650 bis 1850 zeigte die Historikerin, dass die Ordnung der Tiere als eine Ordnung der Räume zu lesen sei, welche durch die numerische Präsenz der Hunde geprägt wurde, die in der Frühneuzeit die beliebtesten Haustiere waren. An der Einführung der Hundesteuer 1812 in der Schweiz wurde deutlich, dass dreimal so viele Hunde auf einen Einwohner der Stadt kamen wie heute. Als Statussymbole oder „unnütz gehaltene Tiere“ schrieben sie sich als Teilhaber am kulturellen Leben (bspw. Kirchgang) oder als agierender Stein des Anstoßes (bspw. durch das Hinterlassen von Kot) maßgeblich in den städtischen Alltag und in die Stadtgeschichte ein. Steinbrecher untersuchte die zwischen Mensch und Tier in Interaktionen ausgehandelte Relationalität. Das reale Tun der Tiere und Menschen – beispielsweise bei einem Parkspaziergang ohne Leine, den sie als Beispiel für gemeinsam geteiltes praktisches Wissen anführte – stehe im Fokus ihres praxeologischen Ansatzes, in dem Raum- und Emotionsgeschichte ineinander greifen. Dass der forschende Blick auf die Hunde einer auf menschliche Repräsentationen ist, machte sie mit Hilda Kean deutlich.2 Steinbrecher plädierte für eine Tiergeschichte als integralem Bestandteil der historischen Disziplin. Der Blick auf die Kulturgeschichte der Mensch-Tier-Beziehung als reziproke Aushandlungsprozesse ermögliche eine ganzheitliche Geschichte im Sinne einer symmetrischen Anthropologie.

Der von Dorothee Hemme verlesene Beitrag der Historischen Anthropologin BARBARA KRUG-RICHTER (Saarbrücken) blieb bei der Spezies Hund, fokussierte jedoch die Zucht als menschliche Praxis der Formung des tierischen Körpers in kulturhistorischer Perspektive. Nicht nur die Nutztierzucht des 19. Jahrhunderts, auch die bisher selten analysierten Selektionsprozesse bei Heimtieren deutete sie als Spiegel einer Entwicklung, in der das Tier als formbares Lebewesen in den Fokus des Menschen rückte. Das 19. Jahrhundert als Zeit der systematischen Züchtung von Hunden mit wechselnden Ästhetiken und ideologischen Fundierungen stand dabei im Zentrum. Sie analysierte Zuchtziele und Zuchtpraxen in Hinblick auf ihre Motive – etwa die Zuordnung bestimmter Züchtungen für Männer, Frauen und Kinder oder die im deutschen Kaiserreich sich verbreitende nationalistische Perspektive der Züchtung, welche die Idee von „reinen“ Hunderassen populär machte und aus der sich zahlreiche bis heute aktive Zuchtvereine und –verbände formierten. Der Hinweis, dass sich die züchterische Praxis der Vermessung der Körperlinien bis heute semantisch in Bezeichnungen analog zur Architektur äußere, indem der Hundekörper als „Gebäude“ bezeichnet wird, an dem der Mensch bauen und Moden der Formung umsetzen kann, leitete in eine angeregte Diskussion über, in der die Frage menschlicher „Züchtungspraxen“ etwa im Kontext pränataler Geburtenkontrolle und genereller, die Relevanz von Rassekonzepten für die Analyse von Mensch-Tier-Beziehungen weiter befragt wurden.

Im zweiten Teil der Sektion wechselte der Fokus von den Heim- zu den Nutztieren. Im Zentrum von LUKASZ NIERADZIK‘s (Wien) kulturanthropologischer Studie mit körper- und medizinhistorischem Fokus stand die Frage nach dem Tierkörper als Gefahr oder Ressource für die menschliche Gesundheit. Schauplatz seiner Forschungen waren die Wiener Schlachthöfe im 19. Jahrhundert, in denen rationale Tötungstechniken entwickelt wurden, die den Blick auf Tiere auf ihren bloßen ökonomischen Ressourcenwert verengten und versachlichten. Der Schlachthof wurde zu dem Ort, an dem „das nackte Leben vereinnahmt wurde“, so Nieradzik in Bezug auf Giorgio Agamben.3 Und doch schien als Ungleichzeitigkeit ein Aspekt bestehen zu bleiben – der Glaube an ihre animalische Kraft. Die 1859 vom Mediziner Sigismund Eckstein gegründete „Heilanstalt für animalische Bäder“ machte den Schlachthof zu einem Ort, an dem Menschen mit der gesundheitsfördernden Wirkung von Fleisch geheilt werden sollten. Durch das Baden in Ingredienzen der gerade geschlachteten Tierkörper erhoffte man sich einen Übertrag seiner Kraft auf den menschlichen Körper. Zum jähen Bruch mit diesen Vorstellungen und zum Ende der animalischen Heilbäder führte die Entdeckung unsichtbarer Mikroorganismen und der Trichinen. Die wissenschaftliche Sichtbarmachung scheinbar unkontrollierbarer Kleinstlebewesen und das neue Wissen um Tierkörper als Träger und Überträger von Krankheiten führte seit der fin de siècle-Zeit zu einer Verunsicherung vor dem unendlich Kleinen. Nieradzik sprach von einer Neuziehung der Grenze zwischen Mensch und Tier. Die Diskussion um Nieradziks Forschung und den Einfluss der Entdeckung von Kleinstlebewesen warf die innerhalb der Human-Animal-Studies offene Frage nach den Grenzen der Betrachtung der Beziehung zwischen Menschen und Tieren auf.

Dass Nutztiere zwar als Verlierer der Moderne, jedoch als mehrfach gewinnbringende Elemente der Agrarrevolution gesehen werden können, illustrierte der Historiker WERNER TROSSBACH (Kassel) am Beispiel der Kuhanspannung als einem vergessenen Element der Agrarrevolution. Während lokale Erinnerungskulturen etwa um die Eifelkuh Schmidt innige Beziehungen von Menschen zu ihren mehrfach einsetzbaren Kühen tradieren und Gemälde mit Spannkühen bei Google und Ebay vielfach zu finden seien, konstatierte Trossbach eine historische Ausblendung des Phänomens. Mit umfangreichen Zahlen zu Futteraufwand, Arbeitsleistung und Milchleistung belegte er empirisch die Bedeutung, die die Kuhanspannung in Deutschland, Frankreich und andern Ländern im Laufe des 19. Jahrhundert real hatte und betonte die Autarkie, die den Kleinbauern daraus erwuchs, während Großbauern aus einer gewissen Dünkelhaftigkeit die Anspannung von Kühen kaum in Erwägung zogen: So konnten in Kriegszeiten Felder auch dann bestellt werden, wenn die Pferde eines Hofes zum Militär abgezogen worden waren. Der Hinweis auf den Agrarwissenschaftler Otto Dietz, der bei mehreren Generationen von Landwirten Mensch-Tier-Analogien in Hinblick auf den Feierabend festgestellt hat, schlug den Bogen zu der von Nieradziks vorgetragenen Erkenntnis, dass die Vorstellung der gemeinsamen Gesundheit von Mensch und Tier bis ins 19. Jahrhundert populär war. Die Perspektive der Rinder einzunehmen sei nicht einfach für ein historisches Fach, positive Effekte in Hinblick auf Arbeit und Freizeit für beide Spezies anzunehmen, sei aber naheliegend: Mensch und Tier entkamen dem Stall durch Einsätze an frischer Luft, wodurch etwa Krankheiten eingedämmt wurden. Die anschließende Diskussion nahm den eingangs geforderten Perspektivwechsel auf und fragte, ob über Kuhanspannung kulturelle Milieus erkundbar seien.

Die Kulturanthropologin BEATE BINDER (Berlin) forderte in ihrem Kommentar, dass die verschiedenen Perspektiven der Disziplinen klarer herauszustellen seien, um die vielfältigen theoretischen und methodischen Potenziale der interdisziplinären Auseinandersetzung mit der Mensch-Tier-Geschichte besser nutzen zu können. Aus der Kulturanthropologie könnten die jüngsten theoretischen Diskurse zu den Kategorien Raum, Gender und Emotionsforschung für eine Tiergeschichte ebenso fruchtbar gemacht werden wie eine dezidiert praxeologische Perspektive auf die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. Letztere fokussiert die Interaktion und das reale Handeln und leiste somit einen Vorstoß in Richtung einer symmetrischen, ganzheitlicher ausgelegten Geschichte. Den in diesem Zusammenhang gegebenen Hinweis, dass die Deutungsmacht von Wissenschaftler/innen (Selbst-) Reflexion erforderlich mache, die zu den Stärken eines kulturanthropologischen Zugangs gehöre, griff CLEMENS WISCHERMANN (Konstanz) in seinem Kommentar auf. Dem Körper der Historiker/innen sei bei einer Thematik, die sich mit lebendigen Wesen befasst, bislang erstaunlich wenig Beachtung geschenkt worden. Was bringen diese selbst an inkorporiertem Wissen über Tiere mit? Dies müsse als Erkenntniszugang stärker gemacht werden. Wischermann führte in eine die Sektion abschließende Diskussion über den Erkenntniswert der Human-Animal-Studies ein, der nochmals kontrovers befragt wurde. Während sie einerseits als exklusive Perspektive kritisiert wurde, welche das Gros der Tiere nicht fasse und beim Punkt der „agency“ stecken geblieben sei, wurde andererseits ihre Relevanz für den eingeleiteten Perspektivwechsel zur Dezentrierung des Menschseins herausgestellt.

Der letzte Aspekt der Diskussion konturierte ein Motto der Sektion: den Bewertungsmaßstab bei der Befragung von Tieren als Gewinner oder Verlierer der Moderne selbst zum Gegenstand zu machen. Nach Beate Binder eröffne ein solches Vorgehen den Blick für relationale Praxen, bei denen nicht nur die Mensch-Tier-Beziehungen im Fokus stehen könnten, sondern auch die Beziehungen zwischen den Arten, also zwischen Kühen und Pferden, Schweinen und Trichinen, Hunden und Flöhen. Mit einer solchen Forschungsperspektive könnte auch eine Annäherung an eine eingangs formulierte, zentrale Frage der Human-Animal-Studies geleistet werden, für die „das Tier“ als Kategorie untertheoretisiert sei. Was ist genau gemeint, wenn wir von einem Tier sprechen – das fleischliche, lebendige Wesen, auch seine fossilen Überreste oder das aus seinem Körper hergestellte Präparat? Wo kann die Betrachtung der Tierwelt anfangen und wo hört sie auf? Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen Menschen und Wildtieren? Beforschen wir als Kultur- und Geisteswissenschaften für uns wahrnehmbare Tiere – um mit dem ethnografischen Potenzial der Sinne zu fragen –- oder auch nahezu unsichtbare Kleinstlebewesen? Die Antwort auf diese Frage musste offen bleiben, auch wenn mit Donna Haraway die Gewissheit bleibt, dass wir niemals allein agieren: „I am vastly outnumbered by my tiny companions; better put, I become an adult human being in company with these tiny messmates. To be one is always to become with many.”4

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Michaela Fenske (Göttingen) / Winfried Speitkamp (Kassel) / Aline Steinbrecher (Konstanz)

Michaela Fenske (Göttingen) / Winfried Speitkamp (Kassel), Einführung

Aline Steinbrecher (Konstanz), „Die Hunde einzig und allein bey den Menschen wohnen“. Zur Rolle der Hunde im städtischen Kontext (1650-1850)

Lukasz Nieradzik (Wien), „Tierisch gesund, tierisch krank“. Versuch eines körper- und medizinhistorischen Zugangs zur Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen im Wiener Fleischergewerbe des 19. Jahrhunderts

Barbara Krug-Richter (Saarbrücken), Zur Formung des tierischen Körpers am Beispiel der Hundezucht (19. und 20. Jahrhundert)

Werner Trossbach (Kassel), Entstehung und Rolle der Kuhanspannung in deutschsprachigen Territorien. Ein vergessenes Element der Agrarrevolution

Beate Binder (Berlin) / Clemens Wischermann (Konstanz), Kommentar

Anmerkungen:
1 Vgl. Tim Ingold, Anthropology Beyond Humanity, in: Suomen Antropologi: Journal of the Finnish Anthropological Society; Vol. 38 Issue 3 (2013), pp. 5-23.
2 Vgl. Hilda Kean, Animal Rights, Political and Social Change in Britain since 1800, London 1998.
3 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002.
4 Donna Haraway, The companion species manifesto: dogs, people, and significant otherness, Chicago 2005, p. 4.