Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Adel im langen 18. Jahrhundert. 4. Tag der sachsen-anhaltischen Landesgeschichte

Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Adel im langen 18. Jahrhundert. 4. Tag der sachsen-anhaltischen Landesgeschichte

Organisatoren
Historische Kommission für Sachsen-Anhalt; Franckesche Stiftungen zu Halle; Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Grunewald, Franckesche Stiftungen zu Halle; Ralf Lusiardi, Historische Kommission für Sachsen-Anhalt, Magdeburg

Im Auftrag der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt luden zum 8. November 2014 Thomas Müller-Bahlke (Franckesche Stiftungen), Holger Zaunstöck (Franckesche Stiftungen) und Andreas Pečar (Universität Halle-Wittenberg) zum 4. Tag der sachsen-anhaltischen Landesgeschichte ins Amerikazimmer der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Unter der Fragestellung „Wie pietistisch kann Adel sein?“ wurde das Forschungsfeld der vielfältigen Verbindungen von Pietismus und Adel in den Blick genommen und in einer Reihe von Vorträgen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet und diskutiert. Flankierend zu der Tagung konnte im selben Gebäude die aktuelle Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen unter dem Titel „Mit Göttlicher Güte geadelt. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode“ besucht werden. Aufgrund des großen Interesses fand am späten Nachmittag für die Tagungsteilnehmer noch eine Führung statt.

Nach der Begrüßung durch Thomas Müller-Bahlke und Andreas Ranft (Historische Kommission) richtete Staatsminister Rainer Robra im Namen der Landesregierung ein Grußwort an die Tagungsteilnehmer. Darin brachte er die zentrale Bedeutung der Landesgeschichte für die Identitätsbildung des Landes Sachsen-Anhalt und damit verbunden auch der Arbeit der Historischen Kommission zum Ausdruck.

Den thematischen Auftakt zur Tagung bildete ein einleitender Vortrag von HOLGER ZAUNSTÖCK (Halle), der die Beziehung von Adel und Pietismus und die damit verbundene gegenseitige Beeinflussung als Forschungsdesiderat charakterisierte. Im Fokus, so Zaunstöck, stehe dabei insbesondere die Frage: Was war der Grund für den Adel, sich dem Pietismus zuzuwenden? Für die hallische Variante des Pietismus zeigte er am Beispiel des Königlichen Pädagogiums, wie sich August Hermann Francke (1663 – 1727) und seine Nachfolger auf die Bedürfnisse des Adels einstellten und sich die Adligen im Gegenzug in bestimmten Bereichen ihrer Lebensweise dem Pietismus anpassten – dabei scheint ein permanentes Aushandeln der Grenzen von Statusbehauptung und Veränderungsimpetus charakteristisch gewesen zu sein.

Einen Überblick über die aktuelle Situation im Hinblick auf Bestand und Zugänglichkeit der Adelsarchive im Land Sachsen-Anhalt (und punktuell auch darüber hinaus) lieferte anschließend JÖRG BRÜCKNER (Wernigerode). Anhand der Überlieferung des Landeshauptarchivs am Standort Wernigerode stellte er spezifische Probleme, aber auch Möglichkeiten bei der Beschäftigung mit den Adelsarchiven heraus und beschrieb das Bemühen seiner Institution um die Erhaltung der Adelsbestände für Wissenschaft und Öffentlichkeit über den Ablauf der durch das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz festgelegten Nießbrauchfrist hinaus. Brückner zeigte eine überraschend große Vielfalt an Quellen mit Pietismusbezug in verschiedenen Archivbeständen auf.

Geografisch in Wernigerode verbleibend, referierte MAREIKE SÄCK (Magdeburg) über ihr Dissertationsprojekt, in welchem sie die Einführung des Pietismus in der ehemaligen Grafschaft Wernigerode untersucht. Im Fokus ihrer Arbeit steht dabei das Grafenpaar Christian Ernst (1691 – 1771) und Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode (1695 – 1762), die – so die These der Referentin – eine Form gleichberechtigter Arbeitsteilung bei der Initiierung des Pietismus „von oben“ in der Grafschaft und der Entwicklung eines dezidierten „Wernigeröder Pietismus“ betrieben. Dieses pietistisch geprägte Handeln führte Säck auf die fromme Erziehung des Grafen und der Gräfin durch die von Spener geprägte Mutter Christian Ernsts und eine frühe Verbindung zu Francke und Halle zurück.

Nach der Mittagspause führte JAN BRADEMANN (Bielefeld) die Tagung mit einem Vortrag über die Kombination von Herrschaftsambitionen und Pietismus am Beispiel der Fürstin Gisela Agnes von Anhalt-Köthen (1669 –1749) fort. Darin beschrieb er den Aufstieg der aus dem niederen Adel stammenden Gisela Agnes von der Gemahlin in morganatischer Ehe zur regierenden Fürstin. Brademanns Fokus lag dabei auf ihrer Selbstinszenierung, die ganz im Zeichen pietistischer Frömmigkeit zur Steigerung des eigenen Prestiges stand. Als sichtbarstes und wirkmächtigstes Symbol frommer Selbstinszenierung bezeichnete er die durch Gisela Agnes gegründete und nach dieser benannte St. Agnus Kirche in Köthen.

Im Vortrag von THOMAS GRUNEWALD (Halle) stand die Ein- und Durchführung einer pietistischen landesherrlichen Politik in den Territorien des Hauses Reuß im Mittelpunkt. Anhand von administrativen Maßnahmen in den Bereichen Kirchen- und Schulwesen, von Hofordnungen sowie aufgrund von Baumaßnahmen von Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz (1681 – 1748) in dessen Paragiat und der unter seiner Vormundschaft stehenden Herrschaft Reuß-Obergreiz zeigte Grunewald mögliche Kategorien für eine Charakterisierung „pietistischer Politik“ auf. Beständigkeit und Erfolg dieser Politik fielen jedoch, so der abschließende Befund, in den verschiedenen reußischen Territorien sehr unterschiedlich aus.

BJÖRN SCHMALZ (Wernigerode/Leipzig) präsentierte sein Dissertationsprojekt zur Glaubenswelt Friedrich Heinrich von Seckendorffs (1673 – 1763). Auf Basis bisher kaum oder gar nicht erschlossener, umfänglicher und der Forschung weitgehend unbekannter Quellen im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg kommt Schmalz zu der Überzeugung, dass Seckendorff viel stärker dem Pietismus zugewandt war, als bisher angenommen wurde. Dies gehe aus der Rekonstruktion des Korrespondenznetzwerkes Seckendorffs (das bis nach Nordamerika reichte) sowie aus dessen pietistisch geprägtem Engagement, beispielsweise in Ungarn, hervor.

Über die Kontakte August Hermann Franckes, nicht zu einzelnen Adligen oder einzelnen Adelsfamilien, sondern zu einer Vielzahl unterschiedlicher Grafen und Fürsten berichtete HOLGER TRAUZETTEL (Halle/Siegen). Ausgehend von der 1717/18 getätigten Reise Franckes ins Reich (Dissertationsthema) rekonstruierte Trauzettel die Aufnahme von und den Umgang mit Francke durch den hohen Adel in der Region zwischen Gießen und Stuttgart. Dabei zeigte er auf, dass insbesondere das hallische Schul- und Waisenhausprogramm auf große Resonanz stieß und sich aus den geknüpften Kontakten teilweise langanhaltende Korrespondenzen ergaben.

Anschließend referierte WOLFGANG BREUL (Mainz) über die Verbreitung und Festigung des Pietismus durch die Gräfinnen von Waldeck. Den Anfangspunkt seiner Schilderungen bildete ein von Franckes Mitarbeitern angelegtes „Länderdossier“ zur Grafschaft Waldeck, in welchem die Gräfinnen erwähnt werden, auf die und deren Handlungen Breul im Weiteren einging. Er betonte dabei vor allem eine Reihe personeller Verschränkungen mit Halle, aber beispielsweise auch den Bau eines Waisenhauses nach hallischem Vorbild. Als große Besonderheit Waldecks charakterisierte Breul jedoch den Befund, dass der pietistische Zugang zum Grafenhaus offenbar gezielt über das „Frauenzimmer“ erfolgte.

Den abschließenden Vortrag hielt ANDREAS PEČAR (Halle) über die Korrespondenz August Hermann Franckes mit dem geächteten Herzog Carl Leopold von Mecklenburg-Schwerin (1678 – 1747). Er strich dabei das Bemühen des Herzogs heraus, Francke durch die Verwendung diesen ansprechender Topoi – wie der Verbesserung der Lebensbedingungen der Untertanen in seinem Territorium und des persönlichen Strebens nach einem gottgefälligem Leben – für eine nicht näher bestimmte „höchste Sache“ zu gewinnen. Obwohl dieses Faktum in der Korrespondenz nie explizit erwähnt wird, sondern die Kommunikation via Mittelsmänner vonstatten ging, lässt sich, so Pečar, die Absicht des Herzogs erkennen, über Francke Zugang zu den Reichsgrafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz und Erdmann Heinrich Graf Henckel zu Donnersmarck (1681 – 1752), den engsten politischen Verbündeten Franckes, zu bekommen, um mit deren Hilfe seinen reichspolitischen Status zu verbessern.

Die Tagung machte die interdisziplinären Perspektiven und Potentiale des Forschungsfeldes „Pietismus und Adel“ deutlich und hob das Gewicht der Thematik als zentrales Desiderat sowohl innerhalb der Pietismusforschung als auch in einem weiteren Kontext der Landesgeschichte nicht nur Sachsen-Anhalts hervor. Die deshalb territorial über den Rahmen des Bundeslandes hinaus vergleichend angelegten Referate ermöglichten erste Einblicke und Fragestellungen in das komplexe Themengebiet.

Konferenzübersicht:

Begrüßung:
Thomas Müller-Bahlke (Franckesche Stiftungen zu Halle) / Andreas Ranft (Historische Kommission für Sachsen-Anhalt) / Rainer Robra (Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt)

Holger Zaunstöck (Halle), Einleitung

Jörg Brückner (Wernigerode), Quellen zu Adel und Pietismus im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt

Mareike Säck (Magdeburg), „[…], daß die Glückseligkeit vieler andern Menschen zu befördern die besondere Bestimmung und Absicht Ihres Standes ist.“ Christian-Ernst und Sophie-Charlotte zu Stolberg-Wernigerode als Begründer des „Wernigeröder“ Pietismus

Jan Brademann (Bielefeld), Lutherischer Pietismus und außergewöhnliche Herrschaftsambitionen. Das Beispiel Gisela Agnes von Anhalt-Köthen (1669-1749)

Thomas Grunewald (Halle), Francke und das Haus Reuß – Pietistische Politik in Thüringen?

Björn Schmalz (Wernigerode/Leipzig), Adel und Pietismus im Spiegel der Glaubenswelt Friedrich Heinrich von Seckendorffs

Holger Trauzettel (Halle/Siegen), „Der Herr Graf von Assenheim hat bisher einen wiedrigen Begriff von Halle und dem Herrn Professor gehabt.“ Die Beziehung der Wetterauer Grafen zu A.H. Francke im Spiegel der Reise ins Reich (1717/18)

Wolfgang Breul (Mainz), „In dem Waldeckischen lande sind itzo 20 Gräfinnen, welche die warheit erkennen und lieben“. August Hermann Francke und die pietistische Reform in der Grafschaft Waldeck (Hessen)

Andreas Pečar (Halle), Was hatte August Hermann Francke mit einem geächteten Reichsfürsten zu schaffen? Über seine Korrespondenz mit Carl Leopold von Mecklenburg


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