HT 2014: Lebensraum und Volksgemeinschaft

HT 2014: Lebensraum und Volksgemeinschaft

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V. (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Janosch Steuwer, Ruhr-Universität Bochum

Nicht immer ist einzelnen Panels der Historikertage eine so langanhaltende Wirkung vergönnt, wie sie jenes Panel entwickelte, das Frank Bajohr und Michael Wildt unter dem Titel „Ungleichheit in der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘“ auf dem 48. Historikertag in Dresden veranstalteten. 1 Dieses bot 2008 eine erste Gelegenheit zum Streit um den Begriff „Volksgemeinschaft“, der seitdem in unterschiedlichen Zusammenhängen weitergeführt worden ist und die NS-Forschung der letzten Jahre maßgeblich bestimmt hat. Das Panel „Lebensraum und Volksgemeinschaft“ des diesjährigen 50. Historikertages in Göttingen stellte sich mit seiner übergreifenden Frage nach dem Zusammenhang von NS-Gemeinschafts- und Besatzungspolitik bewusst in den Kontext dieser Diskussion, um ihr jedoch zugleich auch neue Impulse zu geben. Auch wenn Birthe Kundrus bereits 2008 mit ihrem Beitrag zum Dresdener Volksgemeinschafts-Panel auf die Inklusions- und Exklusionsprozesse hingewiesen hatte, die mit der Volkstumspolitik zwangsläufig verbundenen waren, hat sich die kontroverse Debatte um die Volksgemeinschaft in den letzten Jahren vor allem auf das Altreich und die Jahre bis zum Kriegsbeginn 1939 konzentriert. Die mit den Begriffen „Lebensraum und Volksgemeinschaft“ angestrebte Öffnung der Diskussion versprach dabei vor allem deshalb neue Perspektiven, weil Fragen der NS-Gemeinschaftspolitik hier in einem grundsätzlich gewandelten Kontext verhandelt werden mussten: War „Volksgemeinschaft“ innerhalb der deutschen Gesellschaft vor allem ein Differenzbegriff, dessen Bedeutung gerade über Ausgrenzung und die Frage definiert wurde, wer nicht zu ihr gehörte, so kehrte sich diese Perspektive in den besetzten Gebieten um. Hier war in Anbetracht einer grundsätzlich fremden Bevölkerung in positiver Weise zu entscheiden, wer als deutsch zu gelten hatte.

Vor diesem Hintergrund widmete sich DANIEL SIEMENS (Bielefeld) in seinem Vortrag der bisher kaum beachteten Rolle der SA innerhalb der deutschen Expansionspolitik in Mittel- und Osteuropa. In den Mittelpunkt stellte er dabei die seit Mitte der 1930er-Jahre innerhalb der SA betriebenen Planungen einer eigenen Germanisierungspolitik. Diese standen in direkter Kontinuität zur inneren Kolonisation, mit der die nach den Röhm-Morden 1934 geschwächte SA versucht hatte, sich ein neues Betätigungsfeld in der Ansiedlung von SA-Männern als Bauern in den dünn besiedelten Gebieten des Deutschen Reiches zu schaffen. Spätestens seit 1938 waren diese Planungen auf die Germanisierung der zu erobernden Gebiete ausgerichtet worden. Insgesamt sollte die SA 30 Prozent aller künftigen sogenannten Neubauern in den besetzten Gebieten stellen und damit die politische Hegemonie des Nationalsozialismus in den zu schaffenden deutschen Siedlungen sichern. Dafür strebte die SA an, bei Kriegsbeginn 5.000 Neubauern einsatzfähig zu haben. Doch die seit dem Frühjahr 1939 betriebene Werbung unter den SA-Mitgliedern verlief wenig erfolgreich. Von den potenziell 50.000 in Frage kommenden SA-Männern meldeten sich bis April 1941 gerade einmal 2.150. Zugleich war die SA als Akteur der Germanisierungspolitik durch die Ernennung Himmlers zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums an den Rand gedrängt worden. Dennoch seien deren Planungen nicht einfach als bizarre Fußnote abzutun, wie Siemens betonte. Vielmehr wiesen die SA-Pläne deutliche Kontinuitäten zur realen Siedlungspolitik der SS auf und bildeten so zeitlich wie auch inhaltlich das Bindeglied zwischen den frühen Kolonisierungsbemühungen im Altreich und der späteren Germanisierungspolitik in den besetzten Gebieten.

Mit Blick auf die vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebiete führte ARMIN NOLZEN (Warburg) anschließend verschiedene Modelle der Inkorporierung der sogenannten „Volksdeutschen“ in die NSDAP vor, die entscheidend von deren staatsrechtlichen Status bestimmt wurden. In Gebieten, in denen die Volksdeutschen zu „Reichsbürgern“ ernannt wurden, löste man bestehende volksdeutsche Organisationen auf und nahm deren Mitglieder nach individuellen Prüfungen in die NSDAP auf. In den anderen Gebieten hingegen ging die NSDAP dazu über, eigene „volksdeutsche“ Organisationen aufzubauen, was zu unterschiedlichen Ergebnissen führte: Im Generalgouvernement schuf Hans Frank im April 1940 die „Volksdeutsche Gemeinschaft“, die im Herbst des Jahres der NSDAP als betreuter Verband unterstellt wurde. Dass wenige Monate später einzelne Funktionäre trotz ungeklärter Staatsangehörigkeit in die NSDAP aufgenommen wurden, trug weiter dazu bei, dass die „Volksdeutsche Gemeinschaft“ faktisch eine Vorfeldorganisation der NSDAP wurde. Die in Lothringen gegründete „Deutsche Volksgemeinschaft“ war weniger eng in das Organisationsnetzwerk NSDAP eingebunden. Ihre Mitglieder konnten zunächst nur in die Gliederungen und angeschlossenen Verbände aufgenommen werden. Die Prüfverfahren zum Parteieintritt standen ihnen erst offen, nachdem sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatten. Der in der Untersteiermark gegründete „Steierische Heimatbund“ sollte neben der Sammlung der Volksdeutschen auch die slowenischen Bevölkerungsteile erfassen, die dem NS-Regime positiv gegenüberstanden. Ebenfalls nicht formal an die NSDAP gebunden, bereitete er in einem sehr viel umfassenderen Maße auf eine spätere Aufnahme in die Partei vor und war auch für die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit von zentraler Bedeutung. Als Gemeinsamkeit betonte Nolzen abschließend, dass es nirgendwo zu einer kollektiven Aufnahme der Volksdeutschen gekommen sei. Stets habe die NSDAP auf einer individuellen Prüfung der Bewerber bestanden.

Diesen Gedanken griff GERHARD WOLF (Sussex) in seinem Vortrag zur Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit im Wartheland auf, der vor allem nach den Akteuren und den Zielen der deutschen Bevölkerungspolitik fragte. Wolff betonte dabei die Rolle der Herrschaftsinstitutionen vor Ort. Bereits unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch begann die politische Vertretung der ethnischen Deutschen damit, die Deutschen im Wartheland in Listen zu erfassen, wobei sie zwei Gruppen unterschied: Personen, die bereits vor Kriegsbeginn Mitglied einer volksdeutschen Organisationen gewesen waren und solche, die zwar deutschstämmig waren, sich aber bislang nicht zum Deutschtum bekannt hatten. Diese Orientierung am individuellen Verhalten und das Verfahren der sogenannten „Deutschen Volksliste“ wurden auch von der deutschen Zivilverwaltung übernommen, die ebenfalls zwischen „Bekenntnisdeutschen“ und „Stammesdeutschen“ entlang des Verhaltens vor dem deutschen Überfall trennte. Und auch das für Einbürgerungen zuständige Reichsinnenministerium teilte den grundsätzlichen Fokus auf das Bekenntnis zum Deutschtum als zentrales Kriterium. Das Konzept Rasse, so betonte Wolff, habe als Kriterium in diesen Überlegungen nur bei dem Ausschluss „Fremdblütiger“, vor allem Juden, eine entscheidende Rolle gespielt, sei aber für die Unterscheidung von Deutschen und nicht-jüdischen Polen nicht relevant gewesen. Dies habe sich erst geändert, als sich Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums in das Volkslistenverfahren einmischte und eine stärkere Beachtung der „rassischen Zugehörigkeit“ forderte. Allerdings habe er sich mit dieser Forderung nicht durchsetzen können. Bei der Vereinheitlichung und Ausweitung des Volkslistenverfahrens auf das ganz Polen seien schließlich vier Kategorien geschaffen worden, von denen jedoch nur in der Kategorie drei die rassische Eignung zum Aufnahmekriterium gemacht worden sei. In den folgenden Monaten habe Himmler zwar versucht, über diese Regelung an Einfluss zu gewinnen, sei damit jedoch am Widerspruch der Zivilverwaltung gescheitert: Diese habe immer wieder in direkter Abgrenzung vom Konzept Rasse auf dem Bekenntnis als Grundgedanken des Verfahrens bestanden und sich erfolgreich widersetzt, als Himmler nach den durchgeführten rassischen Musterungen den Ausschluss von 6.000 Personen forderte. Die Frage, wer als Deutscher zu gelten habe, so resümierte Wolff, sei nicht durch die Kategorie der Rasse, sondern mit der Kategorie Volk getroffen worden, wofür er gerade die Interessen der Zivilverwaltung verantwortlich machte, diese Frage nicht der SS zu überlassen.

Im letzten Vortrag fragte ALEXA STILLER (Bern) am Beispiel der Volksdeutschen aus der südlichen Bukowina nach konkreten Umständen der Um- und Ansiedlungspolitik. Grundlegendes Problem waren die zu geringen Ansiedlungsmöglichkeiten in den Annexionsgebieten Mittel- und Osteuropas, die sich gerade daraus ergaben, dass Volksdeutsche nur einen Anteil von 30 bis später maximal 50 Prozent der neu zu errichtenden deutschen Siedlungen bilden sollten. Die Suche nach Ansiedlungsmöglichkeiten war dabei jedoch drängend, weil zugleich die Einwandererzentralstelle schon mit der „Durchschleusung“ genannten Massenüberprüfung der Bukowinadeutschen begonnen hatte. In der Himmler zugeordneten Dienstelle spielten dabei rassische Musterungen eine wichtige Rolle. Doch auch hier war die Frage der Einbürgerung von entscheidender Bedeutung, weil nur solche Volksdeutsche in den besetzten Gebieten angesiedelt werden sollten, die zuvor eingebürgert worden waren. Hierfür war ähnlich wie bei dem Volkslistenverfahren im Wartheland die rassische Zugehörigkeit als starres Kriterium vor allem beim Ausschluss von Juden relevant, während das Verfahren ansonsten äußerst variabel war und deutsche Abstammung und Bekenntnis zum Deutschtum im Einzelfall abwog. Insgesamt blieben nach den Überprüfungen 16.000 Personen übrig, die nicht im Osten, sondern im Altreich untergebracht werden sollten. Dies stieß jedoch auf massive Widerstände, so dass schließlich die Kriterien dahingehend abgeändert wurden, dass diese Zahl auf 7.000 Personen sank. Damit wurde das Problem fehlender Ansiedlungsmöglichkeiten jedoch noch weiter gesteigert, das vor allem durch den Stopp der Deportationen von Polen und Juden in das Generalgouvernement 1941 bereits deutlich verschärft war. Ansiedlung, so betonte Stiller, war immer aufs engste mit der Vernichtungs- und Vertreibungspolitik verbunden. Im Ergebnis führten diese Probleme dazu, dass Bukowinadeutsche auch in Gebieten wie Lothringen, dem Sudetenland, Böhmen und Mähren, Luxemburg und anderweitig angesiedelt wurden, die dafür ursprünglich nicht vorgesehen waren.

In seinem Kommentar regte MICHAEL WILDT (Berlin) an, die Vorträge stärker in eine längerfristige europäische Perspektive einzuordnen. Dem „Volk“ als politischem „Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts“ habe grundsätzlich die Tendenz innegewohnt, Grenzen in Frage zu stellen. Insofern könnte ein größerer räumlicher und zeitlicher Rahmen neue Perspektiven eröffnen. Wildt betonte außerdem, dass die Frage der Zugehörigkeit in den besetzten Gebieten, gerade angesichts der Unmöglichkeit, eindeutige Kriterien festzulegen, tatsächlich von besonders hoher Relevanz gewesen sei, jedoch allein in der Praxis entschieden werden konnte. Insofern sei die stark an formalen Verfahren und Definitionen orientierte Perspektive der Vorträge durch einen Blick auf soziale Praktiken, daran konkret beteiligte Personen und deren Motive zu ergänzen. Hier habe die definitorische Uneindeutigkeit sowohl den Herrschenden wie den Beherrschten Handlungsspielräume eröffnet, denen sich weitere Forschungen widmen sollten.

In der Diskussion wurden vor allem Fragen nach Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den besetzten Gebieten und dem Altreich aufgeworfen. Auch wurde vereinzelt argumentiert, dass die Kategorie der Rasse doch von größerer Bedeutung war als es in den Vorträgen zum Ausdruck gekommen sei. Interessanterweise spielten die in den Vorträgen durchaus direkt angesprochenen methodischen Implikationen des Volksgemeinschaftsbegriffes dabei keine Rolle. Auch in diesem Panel zeigte sich die schon andernorts festgestellte Ermüdung angesichts der begrifflichen Diskussionen der letzten Jahre. 2 Dies sollte jedoch nicht als Manko, sondern als Fortschritt begriffen werden. Nach den intensiven Debatten um methodische und begriffliche Schwierigkeiten scheinen gegenwärtig wieder stärker die Empirie und konkrete historische Fragestellungen in den Vordergrund zu rücken. In diesem Sinne zeigte das Panel, wie sehr sich, auch wenn viele der debattierten methodischen Probleme weiterhin ungelöst sind, mit den Diskussionen um die Volksgemeinschaft der historiografische Blick verändert hat. Welche produktiven neuen Fragen damit aufgeworfen sind und welch weitreichende empirische Einsichten diese zu Tage fördern, Einsichten, die selbst so vermeintlich gesicherte Vorstellungen wie die herausragende Bedeutung der Kategorie „Rasse“ im „racial state“ des Nationalsozialismus in ein neues Licht rücken können, zeigten die Vorträge in äußerst produktiver Weise. Insofern ist auch diesem Panel eine lange Wirkung zu wünschen.

Sektionsübersicht:

Susanne Heim (Berlin): Moderation und Einführung

Daniel Siemens (Bielefeld): Schwert und Pflug. Die Ansiedlung von SA-Männern in den eroberten Ostgebieten, 1938-1944

Armin Nolzen (Warburg): Organisierte „Volksgemeinschaft“. Volksdeutsche Sammlungsbewegungen als Vorfeldorganisationen der NSDAP, 1939-1945

Gerhard Wolf (Sussex): “Volksgemeinschaft” ohne Grenzen. Die besetzten westpolnischen Gebiete als Experimentierfeld

Alexa Stiller (Bern): „Menscheneinsatz” und „Volksgemeinschaft” . Die Siedlungspolitik und -praxis des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums

Michael Wildt (Berlin): Kommentar

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Malte Thießen: HT 2008: Ungleichheiten in der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft", 30.09.2008 – 03.10.2008 Dresden, in: H-Soz-Kult, 24.10.2008, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-2305> (08.12.2014).
2 Michael Wildt: „Volksgemeinschaft“. Eine Zwischenbilanz, in: Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hg.): „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur Gesellschaft vor Ort, Paderborn u.a. 2013, S. 355-369, hier S. 355.


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