Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen

Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen

Organisatoren
Projekt „Digitales Archiv der Reformation – Schriftzeugnisse aus den Archiven Mitteldeutschlands“; Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.11.2014 - 27.11.2014
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Von
Sabine Hanke / Jacob Nuhn, Technische Universität Dresden

Dem Quellenwert von Visitationsprotokollen widmete sich am 26. und 27. November 2014 eine Tagung in Jena, ausgerichtet vom Projekt „Digitales Archiv der Reformation – Schriftzeugnisse aus den Archiven Mitteldeutschlands“, an dem die Staatsarchive der Länder Hessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen beteiligt sind, und dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ein Ziel des Projekts „Digitales Archiv der Reformation“ ist es, die Protokolle der jeweils ersten protestantischen Visitationen im mitteldeutschen Raum über ein Internetportal (geplanter Start ist Ende 2015) virtuell zugänglich zu machen. Die Tagung führte in vier Sektionen eindrücklich deren Quellenwert und damit auch den Wert des Projekts für die Forschung vor Augen.

Die erste Sektion beschäftigte sich mit der Neuordnung des Kirchenwesens im Zuge der Reformation. CHRISTOPH VOLKMAR (Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt) stellte die Quellen, Akteure und Interessenlagen der frühen Visitationen in den Mittelpunkt seines Vortrags. Durch seinen akteurszentrierten Zugriff konnte er die frühen Visitationen überzeugend als Gegenstand vielfältiger Konflikte und Interessenlagen präsentieren. Auf Volkmars grundlegende Einführung in die Quellenproblematik baute der Vortrag von JOACHIM BAUER (Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena) auf. Er stellte die Frage, worum es sich bei den frühen Visitationen im Kern handele und welche Ziele sie verfolgten. Zur Beantwortung zog er die Aufzeichnungen der Visitation in Eisenach 1525 und im Amt Tenneberg 1526 und die Visitationsinstruktion von 1527 heran. In seinen Ausführungen präsentierte er die Visitation als ein territorial und zeitlich differierendes Herrschaftsinstrument, dessen Kontextualisierung grundlegend für die historische Untersuchung der Neuordnung des Kirchenwesens sei.

WOLF FRIEDRICH SCHÄUFELE (Philipps-Universität Marburg) gab einen Überblick über Kirchenvisitationen im hessischen Raum im Jahrhundert der Reformation. Im Zentrum des Vortrags standen die evangelischen Visitationen in der Landgrafschaft Hessen. Deutlich wurde dabei zum einen der landesherrliche Einfluss auf die Visitationen und die Entwicklungslinie von der ersten Generalvisitation 1527 hin zu einem permanenten, institutionalisierten Visitationswesen ab 1531. Zum anderen habe es bei außergewöhnlichen Anlässen, etwa den Unruhen nach dem Schmalkaldischen Krieg oder im Zuge des Ausbaus des Hospital- und Armenwesens, aber auch später weitere landesherrlich angeordnete Generalvisitationen gegeben. Die katholischen Visitationen auf dem Gebiet des heutigen Hessen konnten aus Zeitgründen bedauerlicherweise nicht mehr behandelt werden.

In der Diskussion wurde die Aufgabe formuliert, dass in zukünftigen historischen Untersuchungen auch verstärkt Juristen und Amtleute in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden müssten, um das Phänomen der Visitation angemessen untersuchen zu können.

CHRISTOPHER SPEHR (Friedrich-Schiller-Universität Jena) ergänzte im Abendvortrag die Tagung um Luthers Perspektive auf die Visitationen des 16. Jahrhunderts. Ausgehend von einer kurzen Einführung in Luthers Kirchenverständnis legte Spehr dessen Blick auf die praktische Umsetzung reformatorischer Ideen und sein Verhältnis zu den von der Obrigkeit initiierten Visitationen dar. Aus der Idee des allgemeinen Priestertums und der zentralen Stellung der Predigt im Gottesdienst folge, dass Luther vor allem die Stärkung der Urteilsfähigkeit der Gemeinden über die richtige Auslegung der Bibel und die Ausbildung der Priester als zentral für die Reformation gesehen habe. Habe sich Luther in seinem bekannten Verdikt gegen die Homberger Kirchenordnung 1527 noch kritisch gegenüber einer allzu raschen und strengen Normierung der reformatorischen Veränderungen gezeigt, habe er sich im Zuge der Ausbreitung von "schwärmerischen Umtrieben" in den Dienst der Obrigkeit nehmen lassen.

Die zweite Sektion widmete sich am Folgetag kleinräumig "Visitationen vor Ort". MARTIN SLADECZEK (Friedrich-Schiller-Universität Jena) widerlegte die in der Forschung häufig geäußerte Einschätzung, die Dörfer hätten sich im Allgemeinen passiv gegenüber der reformatorischen Umgestaltung verhalten. Durch die Analyse dörflicher Suppliken der 1530er-Jahre kam er zu dem Schluss, dass die Dörfer zwar nicht direkt Einfluss auf die Visitationen nehmen konnten. Ihre Suppliken, in denen sie Klagen über den Pfarrer, die Bauunterstützungen, die Umwandlung der geistlichen Zinsen, die Einpfarrungen oder Ähnliches äußerten, wurden von landesherrlicher Seite aber eingehend geprüft und es lassen sich Wechselwirkungen zwischen diesen Suppliken und den Visitationsordnungen ausmachen. VICKY ROTHE (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar Arbeitsort Magdeburg) erläuterte anhand der ersten beiden Visitationen im Amt Wittenberg 1528/29 und 1533/34, wie sich die Reformation auf das Wittenberger Umland auswirkte. Sie kam zu dem Schluss, dass die finanzielle Situation in den Dörfern des Wittenberger Umlandes als Problem wahrgenommen wurde und die zumeist mündlich verbreiteten reformatorischen Ansichten spürbar Akzeptanz fanden, wenn auch andere Quellen zu einer näheren Analyse herangezogen werden müssten. Ein Beispiel, welche Quellen ein schärferes Bild auf diese Aspekte der Reformation und Visitation geben können, bot ANTJE GORNIG (Stiftung LEUCOREA Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Aus Abschriften von Rechnungen des 17. Jahrhunderts rekonstruierte sie Maßnahmen und Konsequenzen der Visitationen in Wittenberg zwischen 1484 und 1547 und die enge (personelle) Verflechtung von Universität, Stadtrat und Stadtgemeinde. STEFAN MICHEL (Sächsische Akademie der Wissenschaften Leipzig) untersuchte die Quellen der Visitationen in Weida, die 1527 und 1528 stattfanden. Dabei bot er unter Berücksichtigung des Melanchthon-Briefwechsels mögliche Lesarten der verfügbaren Quellen an, die auch für den Unterricht in den Schulen genutzt werden könnten. Damit stellte er direkte Verknüpfungen zum Digitalisierungsprojekt und dessen möglicher Zielgruppe her.

DANIEL GEHRT (Forschungsbibliothek Gotha) stellte die von der Forschung bisher übersehenen Berichte der Weimarer Spezialvisitation 1560 vor. Besonders ging er dabei auf die aus den Visitationsberichten nur indirekt erschließbaren Bücherbestände der Pfarrer ein. Diese hätten eine wesentliche Rolle bei der Konsolidierung der Konfession gespielt, weshalb die Superintendenten Vorgaben gemacht hätten, welche Bücher zu lesen seien und welche nicht.

Die Vorträge der dritten Sektion beschäftigten sich mit dem Quellenwert von Visitationsprotokollen. ANNETTE SCHERER (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar) gab einen Überblick über den Ablauf der frühen Visitationen im ernestinischen Sachsen und schloss daran einige grundsätzliche Überlegungen zum Umgang mit der Quellengattung Visitationsprotokoll an. So erlaubten die betrachteten Akten nur bedingt Einsichten in den konkreten Prozess der Visitationen, da Kommunikation außerhalb der Verhöre nur angedeutet und zudem lediglich die Perspektive der Visitatoren bzw. der Schreiber, nicht jedoch der Visitierten selbst aufgezeichnet worden sei. Zudem unterschieden sich die Visitationsmitschriften vor 1527, als ihre Ausgestaltung noch rein bei den Visitatoren lag, strukturell wie inhaltlich merklich von den späteren, was Vergleiche erschwere. CHRISTIANE SCHUCHARD (Landesarchiv Berlin) ergänzte in ihrem Vortrag den mitteldeutschen Fokus der Tagung um die brandenburgische Perspektive. Sie stellte das von Victor Herold in den 1930er-Jahren begonnene und seit 2010 wieder aufgenommene Editionsprojekt von Visitationsakten aus der mittleren Mark Brandenburg vor und gab einen Einblick in deren Quellenwert für weitergehende historische Untersuchungen. So fände man in den Akten etwa Informationen zu sozialen Besitzständen, zur Sozialgeschichte des Pfarrerstandes, Angaben über Gottesdienst und religiösen Unterricht, nicht aber zu moralischen Missständen und zur Beurteilung der einzelnen Pfarrer. Diesem Thema widmeten sich die letzten beiden Vorträge der Sektion. CLEMENS JOOS (Hessisches Staatsarchiv Marburg) ging auf der Grundlage von Protokollen der hessischen Visitation von 1556 Umbrüchen in der Pfarrerschaft nach der Reformation nach. Dabei zeigte sich, dass den vielen noch in der alten Kirche ausgebildeten Pfarrern der Übergang in der Regel reibungslos gelang. Die Visitationen und Examina hätten Wirkung gezeigt, allerdings seien dabei auch nur Mindestanforderungen abgeprüft worden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam FRIEDHELM GLEIß (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar), der anhand von Akten aus dem ernestinischen Sachsen vor 1560 der Frage nachging, inwieweit Visitationsakten etwas über theologische Kenntnisse und die Amtsführung von Pfarrern aussagen könnten. Zumindest 1528/29 hätten sich die Visitatoren in der Regel mit "Mindeststandards" begnügt, wobei die Gestaltung des Abendmahls, der Familienstand der Pfarrer und das Abhalten der Messe in deutscher Sprache zentrale Gradmesser gewesen seien. Außerdem sei der Buchbestand der Pfarreien überprüft und seit 1554/56 auch die Gemeinde verstärkt über ihr geistliches Wissen befragt worden.

Die abschließende Sektion zu Chancen und Grenzen von Editionen im digitalen Zeitalter wagte noch einmal einen Ausblick auf die Gegenwart. DAGMAR BLAHA (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar), die in einem Impulsreferat einen Einblick in den Arbeitsstand des Projekts "Digitales Archiv der Reformation" gab, und die TeilnehmerInnen der anschließenden Podiumsdiskussion JENS HAUSTEIN (Friedrich-Schiller-Universität Jena), ULRIKE HÖROLDT (Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt), URSULA BRAASCH-SCHWERSMANN (Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde) und ROBERTO NAPIERSKI (Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien) waren sich einig über die Vorzüge von Digitalisierungsprojekten: Sie ermöglichten einer breiteren Öffentlichkeit einen leichteren und kostengünstigen Zugang zu wichtigen Quellen, schonten Archivgut und könnten im Gegensatz zu Bucheditionen laufend ergänzt werden. Die Diskussion zeigte aber auch, dass im Zuge derartiger Projekte immer wieder thematisierte Fragen bis heute noch nicht abschließend gelöst werden konnten: Etwa, wie der Zugriff auf digitale Editionen auch dauerhaft sichergestellt werden könnte, wie einheitliche Standards für Benutzeroberflächen geschaffen werden können und was im digitalen Zeitalter aus dem forschungsinspirierenden Zufallsfund wird.

Insgesamt zeigten die thematischen Vorträge der Tagung aber deutlich, wie produktiv der Zugang zu Visitationsakten für die historische Forschung sein kann. Dass dieser in Zukunft durch das Digitalisierungsprojekt wesentlich erleichtert wird, ist also nur zu begrüßen.

Konferenzübersicht:

1. Sektion: Neuordnung des Kirchenwesens

Christoph Volkmar: Frühe Visitationen als Reformation vor Ort. Quellen, Akteure, Interessenlagen

Joachim Bauer: Die Bedeutung der Visitationen für die Neuordnung des Kirchenwesens

Friedrich Schäufele: Kirchenvisitationen im hessischen Raum im Reformationsjahrhundert

Christopher Spehr: Martin Luther und die Entstehung des evangelischen Kirchenwesens

2. Sektion: Visitation vor Ort

Martin Sladeczek: Einfluss der Dörfer. Gemeindliche Suppliken als Reaktion auf die Visitation

Vicky Rothe: Die ersten beiden Visitationen im Amt Wittenberg 1528/29 und 1533/34

Antje Gornig: Visitation in Wittenberg im Spiegel städtischer und kirchlicher Quellen

Stefan Michel: Von starrsinnigen Nonnen und hilflosen Mönchen. Die ersten reformatorischen Visitationen in Weida

Daniel Gehrt: Die Spezialvisitation von Weimar 1560. Die erste Amtshandlung eines neuen Superintendenten

3. Sektion: Visitationsprotokolle als Quelle

Annette Scherer: Zum Ablauf der frühen Visitationen im ernestinischen Gebiet

Christiane Schuchard: Entstehung, Überlieferung und Inhalt der brandenburgischen Visitationsakten

Clemens Joos: Neue Pfarrer braucht das Land. Zur Situation der Theologen in Hessen nach der Visitation von 1556

Friedhelm Gleiß: Widerspiegelung der theologischen Kenntnisse und der Amtsführung der Pfarrer in den Visitationsakten

4. Sektion: Editionen im digitalen Zeitalter – Chancen und Grenzen

Dagmar Blaha: Quellen für Bildung und Forschung

Podiumsdiskussion zum Sektionsthema; Teilnehmer: Jens Haustein, Ursula Braasch-Schwersmann, Ulrike Höroldt, Roberto Napierski


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