HT 2014: The Biggest Loser. Gewinnen und Verlieren durch Diäten in Deutschland und den USA zwischen 1860 und 2004

HT 2014: The Biggest Loser. Gewinnen und Verlieren durch Diäten in Deutschland und den USA zwischen 1860 und 2004

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
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Von
Julia Hauser, Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften, Universität Kassel

Essen wird in den Kulturwissenschaften zunehmend als aufschlussreiche symbolische Praxis untersucht, dient es doch vor allem in Wohlstandsgesellschaften nicht zuletzt einer bewussten Ver-Körperung des Selbst. Wird heute die Verringerung von Körpergewicht in der Regel im Sinne einer agilen, schlanken Physis angestrebt, so folgte der Umgang mit Gewichtsverlust nicht zu allen Zeiten dieser Ratio. Dies zeigten die sowohl inhaltlich als auch methodisch anregenden Beiträge zu dem Panel "The Biggest Loser. Gewinnen und Verlieren durch Diäten in Deutschland und den USA zwischen 1860 und 2004".

Eingehend reflektierte JÜRGEN MARTSCHUKAT (Erfurt) "Über Körper- und Ausnahmezustände in der Zeitgeschichte". Dicksein, so Martschukat, werde heute als Scheitern an den Anforderungen einer vermeintlich freiheitlichen Gesellschaftsordnung gedeutet. Sei "fitness" das erklärte Ziel, so stelle "fatness" einen Ausnahmezustand dar. "Fitness" sei dabei mehr als die bloße Fähigkeit zum Sport, sondern beschreibe die wünschenswerte Verfasstheit einer Person insgesamt. Mit Robert McRuel lasse sich von einer „compulsory able-bodiedness“ sprechen, die auf die Eigenverantwortlichkeit des Individuums in modernen Gesellschaften verweise. Seit den atlantischen Revolutionen seien Menschen in modernen Gesellschaften angehalten, nach dem eigenen Glück zu streben. In seiner Diagnose von „fitness“ verband Martschukat Carl Schmitts Definition des Ausnahmezustands mit Foucaults Konzept der Gouvernementalität. Sei bei Schmitt die Erklärung des Ausnahmezustandes Zeichen staatlicher Souveränität, so sei bei Foucault das Selbst die entscheidende regulierende Instanz, das der Biomacht des Staates zur Geltung verhelfe. Dieser Konnex zwischen dem Körper des Individuums und der Macht des Staates zeige sich auch in Diskursen über „fitness“. Diese sei immer dann beschworen worden, wenn die Sorge um allgemeine „ability“ um sich gegriffen habe: so auch in den USA der Jahrhundertwende, als im Zeichen der Sorge um die vermeintliche Entkräftigung weißer Männer Körperfett in ein Zeichen des Versagens umgedeutet wurde. Heute werde Dicksein meist in medizinischen Termini beschrieben, und zwar vor allem dann, wenn gesellschaftliche Krisen beschworen würden. Dicke Körper erschienen als Zeichen der Nachlässigkeit, das es zu bekämpfen gelte. Gegenwärtig werde der Ausnahmezustand der Fettleibigkeit so vielfach beschworen, dass es unklar sei, wem eigentlich Souveränität zukomme – dem Individuum, der Wissenschaft, der Nahrungsmittelindustrie – oder ob das Autonomie- und Freiheitsversprechen moderner Gesellschaften nicht vielmehr ein trügerisches sei. Einzig Genuss als Gegenstrategie im Zeichen des Eigen-Sinns (Lüdtke) erscheine als ein denkbares Gegenmittel.

Im Anschluss an Martschukats programmatische Überlegungen folgten zwei Fallstudien, die sich dem Thema Gewichtsverlust in Deutschland und den USA im 19. und 20. Jahrhundert - allerdings gerade nicht als Mittel der Selbstoptimierung zu einem athletischen Körper - näherten. NINA MACKERT (Erfurt) untersuchte in ihrem Vortrag „Gewichtsverlust als Scheitern an der Moderne in den USA des späten 19. Jahrhunderts“ am Beispiel der sogenannten „Fat Men’s Clubs“. Diese Vereinigungen körperlicher und ökonomischer Schwergewichte veranstalteten öffentliche Bankette, bei denen sowohl Qualität als auch Quantität im Vordergrund standen. Serviert wurden erlesene Speisen, vor allem Meeresfrüchte, von denen die Teilnehmer möglichst viel essen und ihr Körpergewicht mehrfach überprüfen lassen mussten. Während diejenigen Teilnehmer, die die höchste Gewichtszunahme verzeichnen konnten, eine Prämie in Form einer Porträtmedaille erhielten, sei Gewichtsverlust bei diesen Anlässen explizit beklagt, ja als Gefahr für das Individuum beschworen worden. Dabei sei in der Progressive Era Fettleibigkeit zunehmend problematisiert worden. Einerseits erschien sie als durch die zunehmende Verfügbarkeit technischer Erleichterungen hervorgerufenes Symptom der Moderne. Andererseits wurde sie auch als Ausdruck der alten Ordnung thematisiert. Menschen primär der unteren Gesellschaftsschichten wurden von der entstehenden Ernährungswissenschaft zur Selbstregulierung angehalten. Gleichzeitig gewannen Diäten immer mehr an Beliebtheit, wobei zunächst gerade der männliche Körper als Gegenstand der Selbstoptimierung in den Blick geriet. Immer noch aber wurde Fettleibigkeit des männlichen Körpers auch als Zeichen von Erfolg gewertet. Plausibel argumentierte Mackert, dass die Bankette der Fat Men’s Clubs auch als offene Zurschaustellung von Wohlstand, als demonstrative Beschwörung der alten Ordnung zu sehen seien, während sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine zunehmend breite Koalition gegen Fett formiert habe.

MARCEL STRENG (Bielefeld) widmete sich in seinem Vortrag dem Gewichtsverlust im Zeichen politischen Protests, dem Hungerstreik, einer in den 1970er- und 1980er-Jahren häufigen Praktik, die sowohl von der Friedensbewegung als auch von der RAF genutzt worden sei. In Anlehnung an die Politik der civil resistance Gandhis sei Hungerstreik als Form der Selbstermächtigung eingesetzt worden, um andere zum Handeln zu zwingen. Wie gezielt diese Praktik eingesetzt worden sei und welche Beunruhigung sie geweckt habe, sei u.a. an der erheblichen Wissensproduktion sowohl unter Inhaftierten als auch unter Experten zu erkennen. So seien in Stammheim Handreichungen zum Hungerstreik zirkuliert, die – in ganz ähnlicher Form wie zeitgenössische Selbsthilfeliteratur – über die Bedeutung von Energiereserven, Flüssigkeits- und Bewegungsbedarf, mögliche Symptome des Hungers und die beim Wiederaufnehmen des Essens zu befolgenden Schritte informiert hätten. Auch die Vollzugsärzte hätten, u.a. in medizinischen Fachzeitschriften, Wissen über den Umgang mit Hungerstreikenden generiert – wenngleich sich die Inhaftierten generell der ärztlichen Untersuchung verweigert hätten. Kontrovers diskutiert worden sei das Thema der Zwangsernährung, das in den siebziger Jahren als strafrechtliches Problem erkannt und zu Reformen geführt habe. Unter maßgeblichem Einfluss der GRÜNEN, aber auch konservativer Philosophen kam es so 1985 zur Reform von § 101 StVollzG, nach dem Hungerstreikende zwar beraten, nicht aber zur Nahrungsaufnahme gezwungen werden durften. Insgesamt, so resümierte Streng, habe sich der hungerstreikende Körper nicht nur in einem Geflecht aus Machtbeziehungen befunden: Hungerstreiks hätten auch zu einem Machtgewinn geführt.

Abschließend hob OLAF STIEGLITZ (Köln) nochmals die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit einer „Kulturgeschichte des Politischen“ am Beispiel der Ernährung hervor, in der sich keineswegs immer eindeutige Entwicklungen im Sinne eines Einverständnisses darüber, was unter „ill-nourishment“ zu verstehen sei, erkennen ließen. Denn schon während der Great Depression sei wieder Unterernährung, nicht Fettleibigkeit, als gesellschaftliches drängendes Problem gesehen worden, das es staatlicherseits zu lösen galt. Auch wenn Gouvernementalität ein sinnvolles Konzept zur Erforschung des Zusammenhangs von Körpernormen und Macht darstelle, dürfe über der Beleuchtung dieses opaken Machtgefüges nicht der staatlicherseits erhobene Anspruch auf Souveränität außer Acht gelassen werden. Andererseits sei aber auch der agency und Perspektive derjenigen, die über Körpergewicht Selbstverständnisse artikulierten, Beachtung zu schenken.

In der anschließenden Diskussion wurde auf die Kontinuitäten von Nahrungsaufnahme als Form des Protests und Ausdrucks des Martyriums in der longue durée, etwa in schriftlichen und bildlichen Darstellungen von Heiligen, verwiesen. Diskutiert wurde darüber hinaus das Spiel mit der Kategorie gender im Hungerstreik ebenso wie in der Selbstdarstellung der demonstrativen Gourmands der Fat Men’s Clubs. So eröffnete die Sektion eine Vielzahl anregender Fragen über das politische Verhältnis von Subjekt, Körper und Essen in der Moderne – ein Themenfeld, das auch für transnationale und globalhistorische Forschungen vielversprechend sein dürfte.

Sektionsübersicht:

Jürgen Martschukat (Köln): Is „The Biggest Loser“ always the winner? Auseinandersetzungen um Gewicht und Diät in den Medien der Gegenwart

Nina Mackert (Erfurt): „Bewailing Lost Pounds“. Gewichtsverlust als Scheitern an der Moderne in den USA des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Marcel Streng (Bielefeld): „Zellen-Triumphalismus”? Selbstermächtigung durch Hungerstreik. Der Fall der RAF-Gefangenen in den 1970er und 1980er Jahren

Olaf Stieglitz (Köln): Kommentar


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