Demokratie in der Geschichte – Herausforderungen in der Gegenwart

Demokratie in der Geschichte – Herausforderungen in der Gegenwart

Organisatoren
Johannes-Rau-Gesellschaft; Friedrich-Ebert-Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.05.2015 -
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Von
Laura Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Johannes-Rau-Gesellschaft brachte in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Thema „Demokratie in der Geschichte – Herausforderungen in der Gegenwart“ die von ihr bisher geförderten Stipendiaten in Berlin zusammen. In Anbetracht wirtschaftlicher und politischer Krisen in Europa, sinkender Wahlbeteiligungen und eines verstärkt auftretenden Populismus in der europäischen Öffentlichkeit diskutierten die Teilnehmer des Symposiums unterschiedliche Aspekte demokratischer Praktiken und Teilhabemöglichkeiten auf nationalstaatlicher und supranationaler Ebene im 20. Jahrhundert. Das breite Themenspektrum des Symposiums ergab sich daraus, dass es sich um eine Zwischenbilanz der Stipendiatenförderung der Johannes-Rau-Gesellschaft in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens handelte.

GABRIELE BEHLER (Bielefeld) als Vorstandsvorsitzende der Johannes-Rau-Gesellschaft verwies in ihrer Begrüßung auf die Bedeutung der fortschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche, die auch die Entwicklung der Demokratie beeinflusse. Eine neue politische Aufgabe sei daher, die Rahmenbedingungen für eine solche Entwicklung zu setzen. Die Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung der modernen Demokratie müsse auch in gefestigten demokratischen Systemen ein kontinuierlicher Bestandteil der Debatten sein, da ein historisches Verständnis den Blick auf die Probleme der Gegenwart zumindest schärfen, wenn auch nicht die Lösungen präsentieren könne.

BENJAMIN SCHRÖDER (Berlin) eröffnete mit seinem Vortrag zu Wahlkampfpraktiken in Deutschland und Großbritannien in der Zwischenkriegszeit das erste Panel zum Thema „Demokratie lernen“. Schröder beschrieb Wahlkämpfe als den zentralen Ort des demokratischen Streits, in dem der teilweise abstrakte und historisch unterschiedlich gefüllte Begriff der Demokratie in einem alltäglichen Umfeld konkret ausgehandelt werde. Um die Unterschiede dieses Aushandlungsprozesses in Deutschland und England anschaulich zu machen, stellte Schröder die britische Form des Wahlkampfes als ein Marktmodell vor, in dem die Kandidaten der Parteien ihre Programme als Verkäufer dem Kunden aus der Wählerschaft anbieten würden. Anhand der Rhetorik britischer Wahladressen verdeutlichte Schröder, dass die Kandidaten sich dem Wähler einem aristokratischen Ethos folgend als Diener der Gemeinschaft angepriesen hätten. Dagegen traten die Kandidaten deutscher Parteien in den Wahlkampf nicht mit der Vorstellung ein, alle Wähler seien ihre potentielle Wählerschaft, sondern präsentierten sich als natürliche Interessenvertreter einzelner politischer Wählergruppen wie z.B. der Arbeiterschaft oder der Katholiken. Das Marktmodell lasse sich deshalb nicht auf Deutschland mit seiner in feste Kontingente aufgeteilten Wählerschaft übertragen, in der nicht nur die Kandidaten und ihre Programme in Konkurrenz standen, sondern sich diese auch zwischen den politisch-gesellschaftlichen Teilgruppen verfestigt hätte.

Einen vergessenen Gestalter der (deutschen) Demokratie wieder in das breitere kollektive Bewusstsein zu holen, war das Anliegen von PHILIPP HESS’ (Jena) biographischem Abriss zu Hans Simons (1893–1972). Dieser wollte nicht nur zeitlebens, sondern auch posthum nicht als Politiker und Wissenschaftsorganisator in den Vordergrund gestellt werden und hat deshalb seine Unterlagen verbrannt. Als Geschäftsführer der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin in den 1920er-Jahren habe Simons Pionierarbeit in der politischen Bildung geleistet, die er nach seiner Absetzung als preußischer Regierungspräsident und seiner Immigration in die USA 1935 auch an der New School for Social Research in New York fortführte. Als amerikanischer Verbindungsoffizier zum Parlamentarischen Rat war Simons für die Entstehung des Grundgesetzes bedeutend, indem er dem Parlamentarischen Rat gerade keine konkreten Artikel in die Feder diktierte, sondern den Deutschen die Möglichkeit geben wollte, ihren Weg zur Demokratie in einem von den Alliierten gesetzten Rahmen selber zu finden. Für Hess verkörpert Hans Simons die demokratische Kontinuität von Weimar über das amerikanische Exil hin zur Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland. Mit anderen refugee scholars an der New School for Social Research habe er einen entscheidenden Beitrag zur Analyse der nationalsozialistischen Gesellschaft und zur Konzeption einer Nachkriegsordnung für Europa geleistet.

TIM B. MÜLLER (Hamburg) unterstrich in seinem Kommentar, dass die Vergangenheit mehr als nur eine Vorgeschichte sei und dass die deutsche Demokratiegeschichte stärker in einen europäischen Kontext eingebunden werden müsse. Dabei müsse der Aspekt der gleichzeitigen Fragilität und Normalität der Demokratie besonders berücksichtigt werden, da sich der Demokratisierungswille ab Ende des 19. Jahrhunderts zwar transnational ausbreitete, die Demokratie zu einer globalen Erwartung machte und nach dem Ersten Weltkrieg eine universale Akzeptanz als Regierungsform erhielt, jedoch gleichzeitig deutlich wurde, dass die Normalität der Demokratie aktiv aufrechterhalten werden müsse. So seien Wahlkämpfe Teil der Veralltäglichung der Demokratie, während Hans Simons als Vorantreiber der politischen Bildung versuchte, die Demokratieakzeptanz zu erhöhen und die Fragilität zu verringern.

Das zweite Panel zur Demokratie in demokratischen und nicht-demokratischen Umgebungen wurde von CHRISTIOPH NAUMANN (Bamberg) mit der Darstellung von Walter Ballhauses sozialdokumentarischem Bilderwerk eröffnet. Ballhause (1911–1991), aus ärmlichen, bildungsfernen Verhältnissen stammend, hielt in den Jahren 1930–33 das Elend seiner eigenen proletarischen Klasse fotografisch fest. In Hannover entstanden 82 Aufnahmen, die die Lethargie der Arbeitslosen, deren Resignation und Perspektivlosigkeit, den Hunger von bettelnden Invaliden des ersten Weltkrieges und ab 1933 den Aufstieg der Nationalsozialisten zu einer Massenbewegung einfingen. Durch bewusste Motivkompilationen und Kollagen habe Ballhause eine Artifizierung der Alltagsmomente des Elends und der Gefahr eines wiederkehrenden Krieges vorgenommen. Auch wenn seine Motive und seine proletarische Herkunft Ballhause zu einem Teil der organisierten Arbeiterfotografie machten, strich Naumann die Unterschiede von Ballhauses Projekt zu denen der Arbeiterfotografie heraus. So fotografierte Ballhause nicht in einem Kollektiv, verfolgte eine akribische Bildgestaltung und setzte seine Bilder nicht zur Massenmobilisierung der Arbeiterschaft im Klassenkampf ein, sondern habe sie nur für die gruppeninterne Mobilisierung seiner Ortsgruppe der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands bestimmt. Ballhause sei aber dennoch Teil der Arbeiterfotografie als einer neuartigen medialen Selbstermächtigung, die durch Fotografie die nicht zu leugnenden elendigen Umstände festhalten und verbreiten wollte.

MARIETTE FINK (Berlin) verdeutlichte am Beispiel der europäischen Gleichstellungspolitik Implementierungsprozesse innerhalb des Mehrebenensystems von EG und EU. Die Europäisierung, verstanden als Verlagerung nationalstaatlicher Kompetenzen auf europäische Institutionen und die wechselseitige Anpassung und Einflussnahme von Mitgliedstaaten untereinander sowie im Verhältnis zu den europäischen Institutionen, habe der Gleichstellungspolitik größere Spielräume und Durchsetzungsmöglichkeiten ermöglicht als sie nationalstaatliche Initiativen gehabt hätten. So seien die Regierungen der Mitgliedsstaaten zwar als agenda setter bei der Erstellung und Umsetzung neuer Richtlinien hervorgetreten, doch hätten die supranationalen Institutionen eine wichtige Rolle bei der Einhaltung dieser gespielt.

CHRISTIAN MÖLLER (Bielefeld) beleuchtete insbesondere anhand von Eingaben die Funktionsweise von staatlichem und gesellschaftlichem Umwelthandeln unter den Bedingungen einer sozialistischen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung. In den 1960er-Jahren habe in der DDR ein ökologischer Aufbruch eingesetzt, der einen gesellschaftspolitischen Wandel mit sich brachte. In den Jahren 1968–1974 habe eine offene gesellschaftliche Neuaushandlung einer spezifisch sozialistischen Umweltpolitik stattgefunden. Diese Phase, in die die Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel in der DDR-Verfassung und die Einrichtung eines Umweltministeriums weit vor der BRD fiel, sei 1974 durch die einseitige Aufkündigung des Umweltschutzgedankens durch die SED beendet worden. Initiativen von Umweltschutzakteuren, eine erneute Diskussion über Umweltpolitik anzustoßen, habe zu repressiven Maßnahmen der Staatsmacht geführt. Daraufhin verzeichnete das Umweltministerium einen signifikanten Anstieg insbesondere an Kollektiveingaben bezüglich Umweltthematiken. Möller sah in diesen Kollektiveingaben und der hohen Sensibilität der Bevölkerung für Umweltschutzproblematiken den Anfangspunkt einer ostdeutschen Umweltbewegung, die ihrem westdeutschen Pendant sehr ähnelte.

Alle Beiträge zeigen anhand verschiedener Akteure demokratische Bestrebungen und Partizipationsmöglichkeiten der Bürger innerhalb demokratischer und nichtdemokratischer Herrschaftssysteme auf. Sie verdeutlichen das Spektrum der modernen Demokratiegeschichtsforschung, die gerade in Hinblick auf transnationale Aspekte an Aktualität und Bedeutung nichts eingebüßt hat.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Gabriele Behler (Bielefeld, Vorsitzende Johannes-Rau-Gesellschaft)

Panel 1: Demokratie lernen
Moderation: Gunilla Budde (Oldenburg)

Benjamin Schröder (Berlin): Demokratie als Wahlkampfpraxis

Philipp Hess (Jena): Demokratie als institutionelles und/oder biografisches Lernen am Beispiel Hans Simons

Kommentar: Tim B. Müller (Hamburg)

Panel 2: Demokratie in (nicht) demokratischer Umgebung
Moderation: Jürgen Kocka (Berlin)

Christoph Naumann (Bamberg): Fotografischer Protest als Form demokratischer Partizipation. Walter Ballhauses sozialdokumentarisches Bilderwerk 1930–33

Mariette Fink (Berlin): Demokratie im Mehrebenensystem von EG & EU

Christian Möller (Bielefeld): Umweltbewegungen auf dem Weg zum demokratischen Umbruch? Ökologische Krise, Eingaben und Umweltgruppen im Transformationsprozess der DDR (1980er Jahre)

Kommentar: Joachim Radkau (Bielefeld)

Abendvortrag

Wolfgang Merkel (Berlin): Der schöne Schein: Demokratische Innovationen gegen die Politikverdrossenheit in der parlamentarischen Demokratie

Diskussion: Wolfgang Merkel, Dieter Gosewinkel (Berlin), Kurt Beck (Friedrich-Ebert-Stiftung), Brigitte Zypries (MdB)

Moderation: Christian Krell (Bonn)