HT 2014: Reichtum - Zur Geschichte einer umstrittenen Sozialfigur

HT 2014: Reichtum - Zur Geschichte einer umstrittenen Sozialfigur

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Jürgen Finger, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Reichtum war und ist gerade wegen der damit einhergehenden Machtressourcen eine umstrittene Sozialfigur, wie WINFRIED SÜSS (Potsdam) in der Einleitung zum Panel feststellte. Reichtum verweise auf soziale Ordnungen, auf Wissensordnungen und Handlungschancen. Diese Trias formte die analytische Grundlage der Sektion. Die Referenten verwendeten dementsprechend einen Reichtumsbegriff, der nicht auf den messbaren, monetären Reichtum beschränkt blieb, zugleich aber an die gesamtgesellschaftliche Perspektive und das Problem sozialer Ungleichheit rückgebunden war. Mit Handlungschancen und Distinktionsmechanismen wurden Dimensionen von Reichtum in die Perspektive integriert, die jüngst auch unter dem Begriff des „Vermögens“ diskutiert wurden.1 Die Beitragenden durchschritten bei ihrer Analyse exemplarisch die Großepochen vom Mittelalter bis zur Gegenwart und unterstrichen im diachronen Vergleich die Notwendigkeit zur Historisierung dieses Ordnungsbegriffs.

Die Sozialfigur Reichtum ist nicht zu trennen von ihrem notwendigen Komplement, der Armut: Beides sind relationale Begriffe, die nur mit Bezug auf ein Gegenüber und als Teil eines Ganzen gedacht werden können (reicher als, ärmer als, reich / nicht-reich). Sie verweisen damit – offen oder unausgesprochen – immer auf das Faktum sozialer Ungleichheit und damit auf einen gesamtgesellschaftlichen Wesenszug. Anders als die Armut entzog sich allerdings der Reichtum eher dem Blick der Forschung, zumindest in der Neuesten und Zeitgeschichte. Vieles blieb lange Zeit auf einer abstrakt-quantifizierenden Ebene, manches erinnerte eher an Kolportage, selten boten sich direkte Einblicke. Die Selbstverständlichkeit, mit der in den älteren Epochendisziplinen der Reichtum von Städten, Handelshäusern oder Fürsten thematisiert wurde, schien der Erforschung der vergangenen 200 Jahre manchmal abzugehen.

Das mag wie so oft auch am Quellenzugang liegen, wichtiger dürfte aber wohl die Standortgebundenheit vieler HistorikerInnen im 20. Jahrhundert sein: Erstens war (und ist) das Sprechen über „die Reichen“ weniger verfänglich, wenn es die Jahrhunderte vor der flächendeckenden Durchsetzung unserer marktförmigen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung betrifft. Zweitens führte nach einer kurzen Hochphase der Historischen Sozialwissenschaft die rasche kulturgeschichtliche Erweiterung gerade der Bürgertumsforschung zu einer Verschiebung der Forschungsinteressen, eher weg von den materiellen Grundlagen hin zur Kultur der „Bürgerlichkeit“.2

Zwar mag Reichtum in den älteren Epochendisziplinen präsenter sein, eine Analyse als Phänomen sui generis ist aber auch hier selten. Erst in letzter Zeit gesellt sich eine historische Reichtumsforschung an die Seite der auf Frühmoderne und 19. Jahrhundert konzentrierten Armutsforschung. Schon für die Zeitgenossen war oft klarer, wer als arm zu gelten hatte – wer hilfsbedürftig war und zum Objekt herrschaftlicher Fürsorge und / oder Kontrolle wurde. Weniger eindeutig war dagegen immer die Definition des anderen Extremum: Wer war / ist eigentlich reich? Johan Schloemanns Resümee zum Historikertag, der Reiche, der „Hauptgewinner unserer Kultur“, habe sich „auf interessante Weise ungreifbar“ gezeigt (SZ, 29.9.2014)3, trifft nur teilweise zu: Die Sektion war sehr wohl interessant und als ungreifbar erwies sich das Phänomen eben nicht, auch wenn die Referenten freilich keine eindeutigen materiellen, gar an Geldbeträgen abzulesenden Definitionen lieferten, sondern das Postulat einer Historisierung des Reichtumsbegriffs ernst nahmen.

JOCHEN JOHRENDT (Wuppertal) stellte ins Zentrum seines Vortrags die Frage, ob und inwiefern Reichtum als Distinktionsmittel bei mittelalterlichen Fürsten als legitim wahrgenommen worden sei. Die vornehmlich normativen Quellen bis ins 13. Jahrhundert erschwerten die Bewertung. Schon die theologische Einschätzung sei nie eindeutig gewesen, wie etwa König Salomo zeige. In der zeitgenössischen Historiographie und der Traditionsbildung von Herrschern machte Johrendt eine deutliche Trennung entlang der Alpenlinie aus: Nördlich der Alpen konstatierte er eine größere Zurückhaltung gegenüber Reichtum und Geldvermögen als Ordnungsidee. Eine im Reichtum symbolisierte Teilhabe des Königs am Wirtschaftsleben schien nicht kompatibel mit Idealvorstellungen vom Königtum. Dagegen schien die Perspektive südlich der Alpen pragmatischer; in den oberitalienischen Städten sei den Beobachtern klar gewesen: Gute Herrschaft brauche gute Finanzen. Reichtum war notwendig, allein schon zur Repräsentation, und doch blieb das Verhältnis eher verschämt. Für die wachsende Relevanz des Reichtums als Distinktionsmerkmal bis zum 13. Jahrhundert sei die Verdichtung des Kommunikationsraums entscheidend gewesen. Das habe aber nichts an dem Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen Hierarchien und den Ordnungsvorstellungen einer Gesellschaft geändert, die maßgeblich durch das Geburtsrecht definiert war.

Auf diesen Beobachtungen konnte ARNE KARSTEN (Wuppertal) aufbauen, der in seinem Beitrag aus der Frühen Neuzeit eine südeuropäische Handelsstadt untersuchte, die in Reiseberichten geradezu als Synonym für Reichtum vorgestellt wurde: Venedig. Was der mittelalterlichen Welt teilweise noch „suspekt“ gewesen sei, schien hier fast die raison d’être der Stadt und ihrer Bewohner. Oder zumindest (pars pro toto) des Patriziats, dessen Stellung gerade auf persönlichem Reichtum durch Handel basierte. Dies sei aber nicht als Widerspruch zum Selbstverständnis als städtischer Adel wahrgenommen worden, wohlgemerkt ein Adel ohne Grundbesitz und folglich ohne Titel. Die gesamtgesellschaftliche Funktion von Reichtum blieb gleichwohl umstritten: Ein Großteil der Einwohner erlebte auch eine vordergründig reiche Stadt wie Venedig als strukturelle Mangelgesellschaft. Reichtum habe ambivalente Wahrnehmungen provoziert, Bewunderung wie Kritik hervorgerufen. Das weise auf den Fortbestand häufig binärer Wertordnungen (z.B. Innerlichkeit / Äußerlichkeit) hin.

WINFRIED SÜSS (Potsdam) bezog diese Spannungen für das 19. Jahrhundert stärker auf die sich wandelnde Sozialordnung. Er konstatierte eine Expansion des Phänomens und infolgedessen eine Herausforderung der bürgerlichen Werteordnung, die von einer gewissen Uneindeutigkeit gegenüber der Sozialfigur Reichtum geprägt war: Großer Reichtum kollidierte mit bürgerlichen Wertvorstellungen von Mäßigung und frühliberalen Idealen. Zugleich generierte der Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums große Vermögen, die zum Objekt wissenschaftlicher, obrigkeitlicher und öffentlicher Diskussion wurden. Um das damit verbundene Verteilungsproblem und Steuerfragen zu erörtern, war empirisches Wissen nötig, ergänzend zum „Meinungswissen“ des breiten Publikums über die zunehmend sichtbare ökonomische und politische Potenz der „Reichen“. Immer stärker habe Geld als Maßstab sozialer Ordnung andere Ordnungsmuster überlagert und sich als „furchtbarer Nivellierer“ (Georg Simmel) entpuppt. Die Ambivalenz von individuellen wie volkswirtschaftlichen Wohlstandsgewinnen einerseits und Gefahren für die Sozialordnung andererseits habe das Jahrhundert geprägt. Diese Spannungen zeigten sich auch im ambivalenten Blick nach Amerika, das als meritokratisch-kapitalistischer Sehnsuchts- und Gefahrort zugleich fungiert habe, als Symbol des Fortschritts und des Zerfalls von „Kultur“ und Ordnungen. Der Appell an das soziale Gewissen der Reichen, die paternalistische Selbstverpflichtung, habe zur Lösung des Problems nicht genügt. Die erste Weltwirtschaftskrise habe eine europaweite Legitimitätskrise der bürgerlichen Wirtschafts- und Sozialordnung ausgelöst, die aber nur begrenzte (steuer- und sozial-)politische Folgen gezeitigt habe. Staatliche Intervention habe bezeichnenderweise meist bei den Unterschichten angesetzt, nicht bei „den Reichen“.

Für ihren Beitrag zum 20. Jahrhundert konzentrierte sich EVA MARIA GAJEK (Gießen) auf das von den Vorrednern bereits angedeutete Problem der Sichtbarkeit von Reichtum, in dem sich Praxen, Wertvorstellungen, Erwartungen und Wahrnehmungen überschneiden. Das Verhältnis von Zeigen / Verbergen fasste sie als konstitutives Merkmal einer spezifisch deutschen Reichtumskultur auf, gleichermaßen individuell motiviert wie auch massenmedial induziert, wenn nicht sogar erzwungen. Aber dem Drang zur Sichtbarmachung (zum Zweck der eigenen Distinktion oder zur Kategorisierung und Messung – zum Ranking) habe immer auch die Unsichtbarkeit von Reichtum entsprochen. Beides konnte sich durchaus überlagern: mediale Präsenz bedeutete ja nicht automatisch Transparenz der materiellen Verhältnisse. Gajek machte in diesem Missverhältnis ein zentrales methodologisches Problem einer mediengeschichtlich verfahrenden Reichtumsgeschichte aus, für das die Brüder Albrecht (Aldi) exemplarisch stünden. Hinter dem Problem der Sichtbarmachung und Unsichtbarmachung von Reichtum verstecke sich eine Machtfrage. Dabei sei nach den Akteuren zu fragen: die Reichen selbst; die Massenmedien, sei es als Gegenspieler oder Verstärker; der Staat, in welcher Funktion auch immer. Aus der individuellen, exemplarischen Selbstdarstellung sei dabei weniger zu gewinnen, als aus der systematisierenden Analyse von Narrativen. Als eine der Grundachsen machte Gajek die changierende Perspektive im Vergleich zur Armut aus: Während diese eher prospektiv diskutiert werde (wie lässt sie sich überwinden), werde Reichtum tendenziell retrospektiv erzählt (woher stammt er), verknüpft mit der Legitimitätsfrage.

Reichtum sei ein gesellschaftlicher Kampfsport, so begann BERTHOLD VOGEL (Hamburg / Göttingen) pointiert seinen Kommentar: je nach Epoche und Situation in unterschiedlichen Arenen ausgetragen, vor unterschiedlichem Publikum, mit unterschiedlichen Akteuren, aber – bei aller Notwendigkeit zur Historisierung – mit offenbar vergleichbaren Spielzügen. Von der „gedämpften Sozialfigur“ mittelalterlicher Höfe über den demonstrativen Reichtum einer selbstbewussten Handelsmetropole und die „Reichtumsbeschleunigung“ des Industriekapitalismus, bis hin zu den „Verbergungskünstlern“ in der massenmedialen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Vogel machte vier Deutungsachsen einer sozial- und geschichtswissenschaftlichen Reichtumsforschung aus, von denen zwei stärker von der Perspektive des Publikums und zwei von jener der Akteure aus gedacht seien: 1. die Repräsentationen von Reichtum, zu denen Formen der Mimikry genauso gehörten wie umgekehrt ein (begrenztes) Sichtbarkeitsbedürfnis; 2. die Legitimation von Reichtum (und damit sozialer Ungleichheit), wobei Reichtum nicht per se ordnungspolitische Fragen aufwerfe, sondern abhängig von Kontext und Situation; 3. die Temporalität und damit – analog zum Befund von Gajek – die Frage nach der Genese von Reichtum, nach generationellen Zusammenhängen und Vermögenstransfers; 4. Mahnte Vogel eine weniger individualistische Perspektive an, die Familie und soziale Netzwerke einbeziehe: Reichtum sei auch ein soziales Verhältnis.

In der angeregten Diskussion wurde gelegentlich die Notwendigkeit der Kontextualisierung und Differenzierung historischer Reichtumskulturen betont (etwa von Bernd Weisbrod) – vielleicht, weil im Verlauf der Sektion gewisse Gleichklänge trotz oder gerade wegen des historisierenden Ansatzes zutage getreten waren. Berthold Vogel, der diese mit seinem Kommentar noch betont hatte, hob in der Diskussion hervor, dass er – mit Blick auf die Akteure, also die Achsen 3 und 4 – gerade keine nationalen Reichtumskulturen erkennen könne, sehr wohl hingegen bei den Wahrnehmungsmustern, also in der Zuschauerperspektive. Winfried Süß wollte demgegenüber den Akteursbegriff weiter verstanden wissen, gehe es bei Publikum und Staat doch nicht nur um das „Sprechen über“ Reichtum, sondern auch um die Akzeptanz und gegebenenfalls um die Regulierung von Wohlstandsunterschieden.

Die historische Reichtumsforschung wird sich sicherlich als fruchtbares Arbeitsfeld der kommenden Jahre erweisen. Die Kombination und Verschränkung verschiedener Zugriffswege erlaubt es, normative Ordnungen und Ideologien ebenso zu erfassen wie Probleme sozialer Ungleichheit und kulturelle Praktiken, solche der „Reichen“ wie auch solche der Medien und der Zuschauer. Realtypen des „Reichtums“ werden ebenso greifbar wie ihre Repräsentationen und wie die Beziehungsgeschichte der „Reichen“ zu den „Anderen“: zu den Armen, aber auch zur „Mitte“ der Gesellschaft, deren ambivalente Stellung (materiell wie ideologisch) nicht außer Acht gelassen werden sollte.

Sektionsübersicht:

Jochen Johrendt (Wuppertal), Reichtum als legitimes Distinktionsmittel? Möglichkeiten und Grenzen im Hochmittelalter

Arne Karsten (Wuppertal), Venedigs Reichtum im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt

Winfried Süß (Potsdam), Das „große Zauberwort der Zeit“. Reichtumskonflikte im 19. Jahrhundert

Eva Maria Gajek (Gießen), Zeigen und Verbergen. Inszenierungen von Reichtum in Medien und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert

Berthold Vogel (Hamburg / Göttingen), Kommentar

Anmerkungen:
1 Tagungsbericht: Thyssen im 20. Jahrhundert: Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit, 23.06.2014 – 25.06.2014 Berlin, in: H-Soz-Kult, 02.10.2014, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5583> (2.6.2015).
2 Wenn das Bürgertum schon sozialhistorisch nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen war, so musste es doch wenigstens über eine gemeinsame Kultur verfügen: Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert , Göttingen 1987, S. 21-63.
3 Johan Schloemann, Wahre Helden gehen auch mal unter. Gewinner und Verlierer: Bilanzen des Historikertages, in: Süddeutsche Zeitung, 29.9.2014, S. 9.