Das deutsche Volk und die Politik

Das deutsche Volk und die Politik

Organisatoren
Hugo-Preuß-Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.05.2015 - 30.05.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Benjamin Schröder, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Thema der Tagung war dem Titel von Hugo Preuß’ Schrift „Das deutsche Volk und die Politik“ entnommen, die vor 100 Jahren erstmals erschien. Die Frage nach dem Verhältnis der deutschen Gesellschaft zur Politik und zum Staat stellte damit den Leitfaden für die einzelnen Beiträge, die sich unterschiedlich eng auf Preuß’ Werk selbst bezogen. Einen wiederkehrenden Diskussionspunkt bildete so vor allem die Frage nach der Andersartigkeit und nach Spezifika der deutschen Geschichte im europäischen Zusammenhang, die im Zentrum des Buches steht.

Ausdrücklich auf den Text ging PETER STEINBACH (Mannheim) in seinem Vortrag über die Bedeutung von „Das deutsche Volk und die Politik“ für das Denken von Ernst G. Preuß ein, dem 1891 geborenen Sohn Hugos. Steinbach diskutierte vor allem dessen weitestgehend vergessene Schrift „The Canker of Germany“ von 1940, die er der Exil-Literatur zur Erklärung des Nationalsozialismus zuordnete, der auch bekanntere Autoren wie etwa Franz Leopold Neumann oder Ernst Fraenkel zuzurechnen seien. Für den jüngeren Preuß bot die Arbeit des älteren, so Steinbach, eine plausible historische Erklärung für den obrigkeitshörigen Charakter der Deutschen, der Ernst Preuß zufolge auch nach 1918 die Gesellschaft weiter geprägt und letztlich den Gegnern der Demokratie die Möglichkeit für ihren erfolgreichen Angriff auf die Republik eingeräumt habe. Zugleich sei Preuß Junior mit seiner Analyse aber über die Interpretation seines Vaters hinausgegangen: Wenn in der autoritären Mentalität das Problem des deutschen Volkes läge, dann könne eine Lösung in seiner Erziehung zur Demokratie gefunden werden, sobald Hitler besiegt wäre. Damit war auf eine klassische Perspektive angespielt, die den Weg der Deutschen zur Demokratie vor allem nach 1945 verortet.

Ebenfalls in enger Anlehnung an das Buch von Hugo Preuß spürte DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen) dem Ort Bismarcks in der deutschen Geschichte nach. Langewiesche schlug dafür einen Bogen von der Interpretation Preuß’ zur neueren Bismarck-Forschung. Er stellte Preuß’ Buch zugleich als ein Paradebeispiel kleindeutscher Geschichtsschreibung wie auch eine Vorwegnahme der späteren Sonderwegskritik vor und knüpfte an dessen methodische Annahme an, individuelles Handeln im Rahmen der institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten zu verorten, die wiederum als ein Ausfluss gesellschaftlich vorherrschender Wertideen zu betrachten seien. Entsprechend relativierte Langewiesche den Einfluss Bismarcks als Persönlichkeit und stellte seine Politik der Machtsteigerung für Preußen wie auch seine Leistung, die Reichsgründung abzusichern und einen großen europäischen Krieg zu verhindern, in den Kontext zeitgenössischer Horizonte. Konsequent entwickelte Langewiesche daraus schließlich das Plädoyer, im Falle Bismarcks, wie für die Leitfrage insgesamt, stärker europäisch vergleichend vorzugehen, um Spezifika der deutschen Entwicklung besser benennen zu können. Damit sprach Langewiesche mehrere Themen an, die auch in anderen Beiträgen immer wieder aufkamen.

Wie eine Antwort auf Langewiesches Plädoyer zur Europäisierung wirkte der Vortrag von TIM B. MÜLLER (Hamburg), der sich um eine optimistischere Lesart der Schrift von Preuß bemühte. Müller zeichnete zentrale Perspektiven der neueren demokratiegeschichtlichen Forschung auch jenseits von Deutschland nach, die überall in Europa und darüber hinaus die „Etablierung eines demokratischen Erwartungshorizonts“ um den Ersten Weltkrieg herum zeige. Dabei betonte Müller vor allem transnationale Gemeinsamkeiten der Debatte um die Demokratie, ihre Selbstverständlichkeit, ihre Verletzlichkeit und das Problem demokratischer Führung, die einer einfachen Gegenüberstellung Deutschlands gegen ein Idealbild des Westens widersprächen. Hier kam Müller mit einer Neueinordnung auch ausdrücklich auf Preuß’ Schrift zurück, die in diesem internationalen Referenzrahmen demokratischer Diskussionen eine positive, zuversichtliche Perspektive offenbaren könne: Auch die von Preuß postulierte Andersartigkeit der Deutschen sei vielleicht mehr eine Frage des Grades als eines grundsätzlichen Unterschieds, wie sich spätestens nach 1918 zeigen sollte, als mit der Weimarer Republik auch Deutschland sich in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten einreihte. War die Entwicklung Deutschlands also gar nicht so anders als diejenige des Westens, die Preuß und andere idealisierten?

Als kontroverse Antworten auf die Frage konnte man vor allem zwei Beiträge verstehen. PETER BRANDT (Hagen) stellte die Entwicklung von Partizipationsmöglichkeiten seit dem frühen 19. Jahrhundert vornehmlich als eine Geschichte der Entwicklung der Verfassungsrealität bis zur Reichsgründung dar. Kennzeichen der Erzählung war eine bereits früh angelegte Erwartung einer liberalen Verfassung und die implizite wie auch explizite Ausrichtung an westeuropäischen Modellen, welche jedoch stets von einer Realität eingeholt wurde, die dahinter zurückblieb. Insbesondere im preußischen Verfassungskonflikt sah Brandt so eine Festlegung der dualistischen Verfassung auf einen monarchischen Schwerpunkt und die Befestigung des für Deutschland typischen Kompromissdenkens. Von den Institutionen und dem Funktionieren der Verfassung her betrachtet, schien hierin ein deutlicher Unterschied zu anderen europäischen Staaten auf: Die Parlamentarisierung der Regierung stand zwar auch in Deutschland auf der Tagesordnung, ihr standen aber größere Hürden im Weg als anderswo.

Eine optimistischere Sichtweise dagegen bot der Beitrag von KARL HEINRICH POHL (Kiel). Pohl skizzierte die Entwicklung des Wahlrechts und der industriellen Beziehungen auf Ebene von Ländern und Kommunen in den drei Beispielregionen Bayern, Hamburg und Sachsen um 1900. Dabei fragte er leitend nach der Inklusion der Arbeiterschaft über politische Mitsprache, für die man insgesamt in dieser Zeit eine Zunahme feststellen könne. Trotz aller gegenteiligen Entwicklungen, wie Versuchen der Wahlrechtsbeschneidung, und bei großen, zum Teil überraschenden regionalen Unterschieden, sei in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg insgesamt eine Ausweitung an Möglichkeiten sichtbar gewesen, die Unterschichten über mehr politische Teilhabe zu integrieren. Ein abruptes Ende habe der darin erkennbare Weg der kleinen Schritte zu mehr Demokratie erst durch den Weltkrieg und die anschließende Revolution gefunden. Diese Befunde regten zu kontrafaktischen Spekulationen an: Wie hätte sich das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zur Politik ohne diesen Bruch wohl weiter entwickelt?

Kontinuitäten über den Weltkrieg hinweg betonte dagegen DETLEF LEHNERT (Berlin) in seinen detailreichen Ausführungen zur Partizipation in den Reichstags- und Bundestagswahlen seit etwa 1900. Erstmalig habe sich um diese Zeit die Massenteilnahme an der Politik entfaltet, wobei Lehnert insbesondere die Bedeutung der Massenmedien und die Entstehung und Ausdehnung großer Organisationen zur Mobilisierung der Wählerschaft hervorhob. Von hier ausgehend lasse sich beobachten, dass die Brüche der deutschen Geschichte in den kontinuierlich hohen Zahlen der Wahlbeteiligung seit dem späten Kaiserreich bis weit in die Bundesrepublik hinein praktisch kaum sichtbar seien. Auch die Parteienstruktur weise bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts starke Kontinuitäten auf, wenn man zum Beispiel das Abschneiden der Parteien auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik auf das frühere Deutsche Reich zurückprojiziere. Erst seit den 1980er-Jahren und insbesondere seit der Wiedervereinigung sei die Partizipation merklich im Rückgang begriffen, worin man einen Hinweis für einen fundamentalen Wandel in der Politisierung der Deutschen sehen könne.

Zwei Beiträge legten das Leitthema zum Verhältnis der deutschen Gesellschaft zur Politik auf spezifischere Fragen und Einzelfälle aus. Dazu gehörte der Beitrag von ANDREAS PEHNKE (Greifswald) über Wilhelm Lamszus, der ebenso die Epochengrenzen klassischer Periodisierungen überschritt. Am Beispiel des Volksschullehrers und Friedensaktivisten warf Pehnke ein Schlaglicht auf den Pazifismus in Deutschland, fragte also nach den Beziehungen der Deutschen zu einem speziellen politischen Inhalt. Dieser zeichnete sich wiederum durch viele internationale Bezüge aus, war doch die Friedensbewegung eine internationale Bewegung, wie der Vortrag an vielen Punkten zeigte. Im europäischen Vergleich müsse man dabei den Pazifismus in Deutschland zumindest bis in die Weimarer Republik hinein wohl als eher schwach bewerten, wie nicht zuletzt die vielen Angriffe auf Lamszus aus konservativer Richtung zeigten. Dennoch erfreuten sich Lamszus’ künstlerische Arbeiten zur Verdammung des Krieges zugleich großen Zuspruchs bei Zeitgenossen (und darüber hinaus), wie Pehnke vor allem an der Rezeption des Erfolgsbuchs „Das Menschenschlachthaus“ zeigen konnte. Potenzial für einen Pazifismus aus grundsätzlichen Überlegungen, so könnte man diese Befunde deuten, war auch vor 1945 in Deutschland durchaus vorhanden. Allerdings habe auch Lamszus selbst erst in der Bundesrepublik resümieren können, dass seine Botschaft nun endlich so tief in der Gesellschaft angekommen sei, dass ein erneuter Weltkrieg endlich unmöglich geworden wäre.

NADINE ROSSOL (Colchester) stellte die Frage nach dem deutschen Volk und der Politik stärker als eine Frage nach dem Verhältnis der Gesellschaft zum Staat, wobei die Polizei das konkrete Untersuchungsfeld bot. Rossol ging von dem Begriff der „Volkspolizei“ als einem Konzept aus, das über Systemgrenzen hinweg die Beziehungen der Polizei zum Bürger prägte. Wenn der Begriff auch heute vor allem aus der Geschichte der DDR bekannt ist, habe die dahinter stehende Idee einer Polizei „aus dem Volk und für das Volk“ sich nämlich bereits in der Weimarer Republik wie auch später im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik großer Beliebtheit erfreut. Rossol beschrieb das Konzept der „Volkspolizei“ darum als eine „Projektionsfläche“, die in unterschiedlichen politischen Systemen ähnliche Funktionen erfüllen konnte: Vor allem habe sie der Systemlegitimierung in Abgrenzung zu den jeweils diskreditierten Vorgängersystemen gedient. Da die Idee zugleich aber auch immer mehr ein Zukunftsversprechen als eine Zustandsbeschreibung geblieben sei, habe man sie zugleich zur Anmeldung konkreter Interessen in Anspruch genommen, etwa wenn über die Ausgestaltung des polizeilichen Dienstes diskutiert wurde. Interessanterweise spielte zumindest im demokratischen Deutschland wiederum der westliche Referenzrahmen auch bei diesen Diskussionen eine nicht zu unterschätzende Rolle: Als Idealbild eines volksnahen Polizisten habe weithin lange Zeit der britische Bobby gegolten.

Eine Außenansicht auf das Leitthema bot abschließend GEORG KREIS (Basel) in seinen weitreichenden Ausführungen zu Blicken aus Frankreich auf die Deutschen und die Politik. Von Madame de Staël bis zu Alfred Grosser spannte Kreis ein Panorama über fast 200 Jahre mit einem Ensemble aus vertrauten und weniger vertrauten Figuren: Die Deutschen als eher politikfernes, dafür musisches Volk der Dichter und Denker; dagegen das Preußentum und der autoritätsgläubige Untertan; aber auch etwa der biertrinkende Infanterist im Krieg von 1870/71, dem der preußische Militarismus selbst zuwider war; und nicht zuletzt die demokratische Tradition des Hambacher Fests und der Revolution von 1848/49, zu der die Deutschen nach 1945 zurückgekehrt seien. Kreis betonte dabei in seinen Ausführungen die methodischen Schwierigkeiten, von solch einprägsamen Stereotypen auf so etwas wie ‚das Bild‘ von ‚den Deutschen‘ zu schließen, und in der Diskussion kam sogar die Frage auf, inwiefern es überhaupt Sinn habe, von derartigen Bildern von Kollektiven zu sprechen. Ihre Relevanz läge allerdings, so argumentierte Kreis schlüssig, in ihrem Gebrauch und damit ihrer Funktion in politischen Debatten. In der Gegenüberstellung von Normensystemen zielten solche Zuschreibungen dabei nicht zuletzt auf das Eigene ab, in diesem Fall also eher auf die französische als auf die deutsche Gesellschaft.

Auch hier zeigte sich noch einmal die Bedeutung, die Bezogenheit der verschiedenen europäischen Gesellschaften aufeinander in der Analyse zu berücksichtigen. Wichtig ist dabei, so zeigten die unterschiedlichen Beiträge immer wieder, die klare Unterscheidung zwischen den Idealisierungen und Stereotypisierungen, welche die Zeitgenossen aus unterschiedlichen Gründen vornahmen, und einer nüchternen Bestandsaufnahme der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Entwicklungen in verschiedenen Gesellschaften aus unserer heutigen, distanzierten Sicht. Die Frage nach der Andersartigkeit und der Sonderentwicklung Deutschlands verschwindet damit nicht völlig aus der Debatte. Aber sie verschiebt sich in Richtung einer Historisierung ihrer Ursprünge und Beständigkeit: Nicht nur für Hugo Preuß, auch für andere Zeitgenossen von den liberalen Reformern des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zu Polizisten nach 1945 bildete sie lange einen Referenzrahmen, den Historiker nicht einfach ignorieren können.

Konferenzübersicht:

Detlef Lehnert (Berlin), Eröffnung

Peter Brandt (Hagen), Unpolitische Deutsche? Politische Beteiligungsformen in Preußen bis zur Reichsgründung von 1871

Dieter Langewiesche (Tübingen), Bismarck in der deutschen Politik. Einflüsse – Einsichten – Erinnerungen

Karl Heinrich Pohl (Kiel), Politische Regionalkulturen: Bayern, Hamburg und Sachsen im Vergleich

Andreas Pehnke (Greifswald), Volksschullehrer zwischen Frieden und Krieg. Der Hamburger Erfolgsautor Wilhelm Lamszus (1881–1965) im Zeitkontext

Nadine Rossol (Colchester), Die deutsche Polizei im Wandel der Gesellschaften und politischen Systeme: „Volkspolizei“ von 1918 bis in die 1950er-Jahre

Detlef Lehnert (Berlin), Politische Partizipation im Spiegel der Reichstags- und Bundestagswahlen

Tim B. Müller (Hamburg), „Öffnung zur politischen Kultur des Westens“? Hugo Preuß’ Weltkriegsschrift aus demokratiegeschichtlicher Perspektive

Peter Steinbach (Mannheim), „Forgive, if you can, but do not forget!“ Ernst G. Preuß als Interpret seines Vaters im Umgang mit deutscher politischer Kultur

Georg Kreis (Basel), Französische Blicke auf deutsches Volk und deutsche Politik