Lokale Geschichte(n), (Macht-)Politik und die Suche nach historischer Authentizität

Lokale Geschichte(n), (Macht-)Politik und die Suche nach historischer Authentizität

Organisatoren
Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin; Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI), Braunschweig; Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt am Main
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.02.2015 - 28.02.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Barbara Christophe, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI), Braunschweig / Christoph Kohl, Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt am Main / Heike Liebau, Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin

„Lokale Geschichte(n), (Macht-)Politik und die Suche nach historischer Authentizität“ lautete der Titel einer Tagung am 27. und 28. Februar 2015 am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin. Sie fand unter dem Dach des Leibniz-Forschungsverbundes „Historische Authentizität“ statt und wurde von den an dem Verbund beteiligten Forschungseinrichtungen ZMO, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI), Braunschweig, und dem Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt am Main, ausgerichtet.

Ziel der Tagung war es, die Nutzung von Geschichte durch lokale politische Akteure in verschiedenen regionalen Kontexten Europas, Afrikas und Asiens zu beleuchten. In der Tat kann die Behauptung historischer Authentizität zu einem wichtigen Argument in Konflikten um Machtzugänge und ökonomische Ressourcen werden.

Ein erster thematischer Zugang war dementsprechend die Frage, inwiefern Rezipienten und Produzenten von Authentizitätsbehauptungen und -ansprüchen auf Erfahrung zurückgreifen (müssen), um ein Mindestmaß an Wirksamkeit zu erzeugen. In einem weiteren Strang widmeten sich Vorträge der Untersuchung des Verhältnisses von Authentizität und Macht und den aus diesem Spannungsfeld resultierenden Deutungskonflikten. In einem dritten Themenfeld stand die Frage im Vordergrund, ob bzw. inwieweit Anschlussfähigkeit von Authentizitäts-Ansprüchen auf lokaler Ebener durch Anknüpfen an nationale oder globale Geschichten erzeugt wird oder umgekehrt globale Narrative an lokale Bedürfnisse angepasst werden. Quer hierzu bewegte sich die Erkundung, wie kulturelle Muster und Deutungseliten versuchen, die soziale Wirksamkeit behaupteter Authentizität sicherzustellen. Der Mehrwert der Veranstaltung ergab sich sowohl aus ihrer interdisziplinären und multi-methodologischen Herangehensweise als auch aus der regional vergleichenden Perspektive. Wie die im Folgenden vorgestellten Beiträge verdeutlichen, kann „historische Authentizität“ sowohl ein analytisches („etisches“) Konzept sein, als auch ein von Geschichtsakteuren betriebenes, normativ besetztes, subjektives („emisches“) Projekt bezeichnen.

Der Zusammenhang zwischen der Formulierung von Authentizitätsansprüchen und Erfahrung bildete die Klammer für die Vorträge im Rahmen des ersten Schwerpunktes. Diskutiert wurden Fragen wie: Ist Erfahrung ein Kriterium, auf das Produzenten und Rezipienten bei der Beurteilung von lokal zirkulierenden Geschichten zurückgreifen? Müssen Anbieter von Geschichte(n) die Behauptung aufstellen, ihre Erzählung repräsentiere die Erfahrung bislang unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen angemessener als frühere bzw. konkurrierende Versionen? Steigert ein solches Argument den Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Authentizität?

In seinem Eröffnungsreferat setzte sich der Sozial- und Kulturpsychologe JÜRGEN STRAUB (Bochum) mit dem Konflikt von Subjektivität und Objektivität im Zusammenhang mit umstrittener historischer Authentizität auseinander. Zentral sei das der Psychoanalyse entlehnte Konzept der „Besaetzungen“ (sic), und damit die Fragen, auf welche Weise Akteure ihrer Authentizitätsrepräsentation Bedeutung zuschreiben und inwiefern dies eine eher politisch-hegemoniale oder eine eher kognitiv-hermeneutische Praxis ist. Straub wies auf die Kontingenz von Repräsentation hin: Man könne nicht alles mit Blick auf das Authentische repräsentieren. Die historische Repräsentation unter dem Anspruch der Erfahrung und Authentizität sei nicht automatisiert und hänge wesentlich von der empathischen Aufnahme durch die Rezipienten ab, also von deren „Nostrifizierung“. Mithin unterliege Geschichte einer personalisierten Wahrnehmung. Dies impliziere, dass die Wahl von Repräsentationsmöglichkeiten historischer Authentizität nicht willkürlich erfolgen könne, um Anknüpfungspunkte zu erzeugen.

Die Ethnologin KATHARINA LANGE (Berlin) thematisierte in ihrem Beitrag jüngere „tribale“ Geschichtsschreibungen in Syrien und zeigte, dass die Vergangenheit nicht mehr nur in den unter der Herrschaft des Baath-Regimes lange vorherrschenden vereinheitlichenden Narrativen dargestellt, sondern mehr und mehr auch aus der Perspektive von „tribalen“ Gruppen erzählt wird. Sie unterstrich, dass bei näherem Hinsehen eine Vielzahl von historischen Erzählungen sichtbar wird, in denen soziale Akteure ihre eigenen historischen Erfahrungen verarbeiten und dokumentieren.

Der Sozialwissenschaftler DAVID LEUPOLD (Berlin) erörterte am Beispiel mehrsprachiger, sich ethnisch als armenisch definierender Familien in der Levante, der Türkei und Armenien, welche Sprachen in privaten und öffentlichen Räumen (nicht) genutzt werden. Die präsentierten Fallstudien zeigten, dass objektive und subjektive linguistische Authentizität nicht zusammen kommen, da sich öffentliche Sprachgewohnheiten von der privat gehegten Identität und Sprachnutzung abheben. Gruppen-Fremd- und Eigenbild bewegen sich somit in einem permanenten Spannungsfeld.

Die Politikwissenschaftlerin und Historikerin CLAUDIA LICHNOFSKY (Braunschweig) illustrierte am Beispiel der Gruppe der Ashkali im Kosovo, wie sich Repräsentanten einer sozial stigmatisierten und marginalisierten Ethnie auf vermeintliche persische Ursprünge berufen, um den sozialen Status der Gruppe zu erhöhen. Zum einen werde die Authentizität dieser Konstruktion von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus kontestiert. Zum anderen stelle sich die Frage, in welchem Maß die kosovarische Mehrheitsbevölkerung solche ethnohistorischen Narrative als „authentisch“ bewertet und rezipiert.

Dem Verhältnis von Authentizität und Macht gingen vier Beiträge aus unterschiedlichen regionalen und disziplinären Perspektiven nach. Die Vortragenden diskutierten die Frage, inwiefern Geschichte und der aus Geschichte abgeleitete Anspruch auf historische Authentizität ein wichtiges Argument in der Auseinandersetzung um politische Macht ist. Ist Geschichte Gegenstand von Deutungskonflikten? Wenn ja, verlaufen Konfliktlinien vor allem zwischen oder auch innerhalb von Wir-Gruppen?

Die Zentralasien- und Islamwissenschaftlerin JEANINE DAĞYELI (Berlin) analysierte die unterschiedliche Darstellung von Aufständen in Usbekistan um 1900 in Abhängigkeit von der verwendeten Quellengattung und von dem jeweiligen Sprachmedium. Je nachdem, ob die Quellen in persischer, usbekischer oder russischer Sprache verfasst seien, geben sie verschiedene Sichtweisen und somit „authentische Wahrheiten“ wieder. Dağyeli unterstrich, dass historische Authentizität und Erinnerung entlang sprachlicher Bruchlinien fraktionalisiert und die (Re-)Interpretation von Quellen sowie die Erinnerung an die Ereignisse abhängig von den historisch-politischen Kontexten (UdSSR, unabhängiges Usbekistan) ist.

Aktuelle Fragen der Geschichtsschreibung in Marokko standen im Mittelpunkt des Beitrages der Islamwissenschaftlerin SONJA HEGASY (Berlin). Sie verdeutlichte, wie in Marokko Journalisten die Geschichtsschreibung übernommen haben, da Archive für WissenschaftlerInnen nicht zugänglich sind. Es bestehe zwar einerseits ein enormer Bedarf an „historischer Wahrheit“; aufgrund der unwissenschaftlichen, ungenügend abgesicherten journalistischen Geschichtsschreibung bestehe jedoch andererseits die Gefahr, dass diese Praxis zu Mythenbildungen und geschichtlichen Mystifizierungen führe, so dass schlussendlich kein öffentlicher Bedarf mehr an einer „Entzauberung“ bzw. einer seriösen historischen Aufarbeitung bestehe. Eine akademisch fundierte „historische Authentizität“ werde somit verhindert.

Der Politikwissenschaftler BERNHARD MOLTMANN (Frankfurt am Main) analysierte am Beispiel des Nordirland-Konfliktes die Unverhandelbarkeit identitär begründeter Konflikte. Damit stünden diese im Gegensatz zu Interessenkonflikten, in denen Kompromisse möglich seien. Moltmann hob das „Framing“ des Konfliktes hervor, das mit einer ethnischen, jeweils als „authentisch“ beanspruchten „binären Codierung“ durch die Konfliktakteure einhergehe. Diese Codierung kollidiere mit nach „historischer Authentizität“ strebenden wissenschaftlichen Analysen des Nordirland-Konfliktes.

Im letzten Beitrag innerhalb dieses Schwerpunktes befasste sich der Ethnologe CHRISTOPH KOHL (Frankfurt am Main) mit den Machtansprüchen sogenannter „traditioneller Autoritäten“ in Guinea-Bissau und Angola. Er zeigte auf, wie und in welchem Ausmaß historische Authentizität als Legitimation für diese Autoritäten angeführt wird und welche unterschiedlichen Rollen der Staat hierbei einnimmt. Während in Angola ein instrumentalistisch-autoritäres staatliches Verständnis von Authentizität vorherrsche, sei das Verständnis in Guinea-Bissau eher von Pragmatismus geprägt: Die Authentizität der „traditionellen Autoritäten“ solle, so zumindest der normative Anspruch, „nachprüfbar“ sein. Lokal spiele eher eine Rolle, ob eine „traditionelle Autorität“ die Bevölkerung adäquat repräsentiere, sich für sie einsetze und jemand „von ihnen“ (in einem weiteren Sinne) sei.

Mit dem Verhältnis von Authentizität und Anschlussfähigkeit setzten sich die Vorträge im Rahmen des dritten Schwerpunktfeldes auseinander. Es ging um die Frage, ob die Behauptung von Anschlussfähigkeit an nationale oder globale Geschichten den Authentizitätsanspruch der von lokalen Eliten produzierten Geschichten steigert, oder ob globale Geschichten an lokale Bedürfnisse angepasst werden.

Die Politikwissenschaftlerin ANANDITA BAJPAI (Berlin) untersuchte, inwiefern in Reden indischer Premierminister historische Authentizität in Abhängigkeit vom jeweiligen zeitlichen und damit auch politischen Zusammenhang (Indian National Congress versus Bharatiya Janata Party) konstruiert wird. Sie verdeutlichte, wie selektiv die Reden Geschichte darstellen und auf Persönlichkeiten mit Vorbildfunktion rekurrieren. Beispielsweise nehmen indische Premierminister bei ihren Reden in Europa eher Bezug auf anerkannte europäische Persönlichkeiten, während im Inland indische Gelehrte und „Helden“ Erwähnung finden. „Authentizität“ werde somit strategisch abgestimmt auf das Publikum, um eine adäquate Anpassungsfähigkeit an hegemoniale Tropen zu gewährleisten.

Aus einer anderen Perspektive, aber auch mit einem Beispiel aus dem indischen Kontext ging die Südasienwissenschaftlerin HEIKE LIEBAU (Berlin) der Frage nach, welche Rolle Lebensgeschichten von Vertretern der indischen Nationalbewegung in den heutigen lokalen Geschichtsdarstellungen spielen. Im Zentrum stand die aktuelle Auseinandersetzung in Südindien mit der Biographie Chempakaraman Pillais, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen großen Teil seines politisch aktiven Lebens in Europa verbrachte. In der Geschichtsschreibung konkurrieren historisch verbürgte, nachprüfbare Fakten mit medial transportierten, nicht verifizierbaren Mythen (Fiktion). Liebau hob die Multimedialität und insbesondere den Einsatz moderner Medien in den Authentifizierungsstrategien, und Authentizitätsbehauptungen in populären Geschichtsdarstellungen hervor.

Der Osteuropa-Historiker JAN LIPINSKY (Marburg) widmete sich den „gespaltenen Authentizitäten“ zwischen Balten (Esten, Letten, Litauer) und Russen vor dem Hintergrund des geheimen Hitler-Stalin-Paktes. Je nach Erinnerungsgemeinschaften kursieren divergierende Rechtfertigungsnarrative, die entweder die sowjetische Besetzung (1940, erneut 1944) oder die deutsche Okkupation (1941-44) gutheißen sollen. Lipinksy argumentierte, dass aufgrund der widerstreitenden baltischen und russischen Historiographien letztendlich nur die westliche Geschichtswissenschaft „zweckfrei“ und damit unabhängig bzw. „authentisch“ argumentieren könne.

Am Beispiel des postsowjetischen Litauen diskutierte die Slawistin, Historikerin und Sozialwissenschaftlerin BARBARA CHRISTOPHE (Braunschweig) die Rolle „diskursiver Regime“ für die „authentische“ Erinnerung. Forschungsergebnisse legten nahe, dass man sich nur an das erinnere, was zum aktuellen Selbstbild passe. Gleichzeitig sei die individuelle Erinnerung jedoch auch „verflochten“ mit jener der Erzählgemeinschaften. Andererseits könnten Menschen nicht nur das erzählen, was in offiziellen Narrativen Erwähnung findet. Als Vorbilder für „authentische“ Erzählungen dienten Leute, die sich ihr Handeln nicht von ideologischen Zwängen diktieren ließen. Ausdruck kontrahegemonialer Erzählungen sei Schmerz, so Christophe. Dieser könne somit als Indikator für Authentizität begriffen werden.

Die Tagung ermöglichte einen fruchtbringenden Dialog über Anwendbarkeit und Nutzen des Konzeptes „Historische Authentizität“ aus unterschiedlichen disziplinären und theoretischen Perspektiven, wobei gleichzeitig empirische Beispiele aus einer Vielzahl lokaler Kontexte in den vergleichenden Blick genommen wurden. Die Beiträge und Diskussionen der Tagung zeigten, dass das Thema Authentizität in lokalen Geschichtsschreibungen aus verschiedenen theoretischen Perspektiven analysiert werden kann. Im Rekurs auf akteurstheoretische Ansätze nahmen einige Redner die konfliktiven Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Anbietern von mitunter konkurrierenden Versionen der Vergangenheit unter die Lupe. Der Fokus lag dann unter anderem auf der Frage, wer aus welchen Motiven im Rückgriff auf welche Vergangenheit(en) und mit Blick auf welche Adressaten zum Anbieter von Geschichte(n) wird. Andere Teilnehmer bedienten sich diskurstheoretischer Ansätze, richteten den Blick hingegen eher auf die Geschichten selber und untersuchten lokal zirkulierende Narrative und Deutungsmuster. Gefragt wurde auch, in welchem Verhältnis die neuen Geschichten zu älteren Erzähltraditionen stehen oder welche Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten es zwischen den in verschiedenen Medien angebotenen historischen Deutungen gibt. Eine wesentliche Rolle spielten auch Aneignungspraktiken derjenigen, an die lokale Geschichten adressiert sind und die Frage der sozialen Wirksamkeit der jeweils angebotenen Deutungen.

Konferenzübersicht:

Authentizität und Erfahrung

Jürgen Straub (Bochum), Authentizität und Erfahrung

Katharina Lange (Berlin), Die Produktion von Lokal- und Stammesgeschichte im syrischen Euphrat-Tal, 2001-2011

David Leupold (Berlin), Mehrsprachigkeit, Erinnerung und 1915: Der generationsübergreifenden Narrativ einer turkophon-armenischen Familie aus Kilikien (Türkei)

Claudia Lichnofsky (Braunschweig), Persische Bezüge zur Legitimität von lokalen Communities am Beispiel der Ashkali im Kosovo

Authentizität und Macht

Jeanine Dağyeli (Berlin), Der erinnerte Aufstand: Der mehrfach gebrochene Blick auf Widerstand im ländlichen Zentralasien

Sonja Hegasy (Berlin), Die Marokkanische Zeitschrift Zamane – Streben nach Authorisierung von Vergangenheit

Bernhard Moltmann (Frankfurt am Main), Nordirland: Konstruierte Identitäten, reale Konflikte

Christoph Kohl (Frankfurt am Main), „Authentische“ Ansprüche? Machtlegitimierung „traditioneller“ Autoritäten im lusofonen Afrika anhand zweier Fallstudien

Authentizität und Anschlussfähigkeit

Anandita Bajpai (Berlin), Neoliberal Economic reforms and the politics of time in the rhetoric of Indian Prime ministers since 1991

Heike Liebau (Berlin), Globale Lebenswege – nationale Geschichten: Biographien historischer Persönlichkeiten als politisches Argument in Indien

Jan Lipinsky (Marburg), Baltische Historiographien diskutieren ein sowjetisches Tabu: Die Auseinandersetzung mit dem Hitler-Stalin-Pakt als Emanzipation von der Moskauer Hegemonie

Barbara Christophe (Braunschweig), Was war der sowjetische Sozialismus? Konflikte um authentische Erinnerung in Litauen