Kulturelle Vielfalt – Migration – Zentrum und Peripherie. Neue Zugänge zur Geschichte der Deutschen in der Slowakei

Kulturelle Vielfalt – Migration – Zentrum und Peripherie. Neue Zugänge zur Geschichte der Deutschen in der Slowakei

Organisatoren
Collegium Carolinum München; Historisches Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, Bratislava
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.04.2015 - 18.04.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrike Lunow, Collegium Carolinum München

Während die Geschichte der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Osteuropa – seien es die sogenannten Sudeten- und Wolgadeutschen oder die Siebenbürger Sachsen –, ihre Ansiedlung, Sprache, Geschichte und Kultur allgemein recht gut erforscht ist, gilt dies nur bedingt für die Geschichte der Deutschen in der Slowakei bzw. im historischen Oberungarn. Bereits ihre nicht unproblematische Bezeichnung „Karpatendeutsche“ ist nur wenig geläufig. Auf dieses Wahrnehmungsdefizit und die dahinterstehende Forschungslücke wies MARTIN ZÜCKERT (München) in seinem Eröffnungsvortrag hin, in dem er verschiedene Desiderata dieses Themenfeldes anriss: Die vorliegende Literatur, die überkommene Narrative „der“ Karpatendeutschen aus einer rechtfertigenden Vertriebenenperspektive schildere, sei ebenso spärlich wie veraltet. Zwar habe nach 1989 eine Normalisierung der Beziehungen wie auch der Historiografie eingesetzt, doch gäbe es in der Forschung nach wie vor zahlreiche offene Fragen. Das Anliegen der Konferenz war daher, ein Forum für „neue Zugänge“ jenseits von verallgemeinernden nationalen und ethnischen Zuschreibungen zu bieten und das Thema stärker als bisher in den Kontext der slowakischen Geschichte einzubetten.

Die interdisziplinäre Konferenz, die vom 17. bis 18. April 2015 in Berlin stattfand, war eine slowakisch-deutsche Kooperation und wurde gemeinsam vom Collegium Carolinum München und dem Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Bratislava) organisiert. Gastgeberin war die Slowakische Botschaft Berlin, Schirmherr der slowakische Botschafter Igor Slobodník. Weitere Kooperationspartner waren das Karpatendeutsche Kulturwerk und das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas. Insgesamt 12 Referentinnen und Referenten aus Deutschland, Österreich und der Slowakei präsentierten eine breit gefächerte Auswahl an Themen, die chronologisch vom Mittelalter bis in die heutige Zeit reichten. Gruppiert waren die Vorträge um die drei Themenfelder „Kulturelle Vielfalt“, „Zentrum und Peripherie“ und „Migration“.

Die Beiträge im ersten Themenfeld „Kulturelle Vielfalt“ untersuchten aus unterschiedlichen Perspektiven die kulturellen Interferenzen zwischen Deutschen und Slowaken. JÖRG MEIER (Klagenfurt) präsentierte einen historisch weitläufigen Abriss über die Rolle der deutschen Sprache in der Slowakei und die sich ändernden Charakteristika des Sprachgebrauchs. Dabei wurde zum einen deutlich, dass der pragmatische Umgang mit Mehrsprachigkeit als historischer Normalfall betrachtet werden muss und zum anderen die Gruppe derjenigen, die Deutsch gebrauchten, in sich keinesfalls homogen war und sich nationalen Kategorien entzieht. Daher forderte Meier unter anderem die Vorstellung von „Sprachinseln“ einer kritischen Revision zu unterziehen.

Ebenfalls mit dem Gebrauch der deutschen Sprache in der Slowakei beschäftigte sich JOZEF TANCER (Bratsilava), jedoch aus der Perspektive der oral history. Anhand von Interviews mit Bewohnern Bratislavas, die noch in der Zwischenkriegszeit zur Schule gegangen waren, hinterfragte Tancer ethnisierende Zugänge zur Erforschung von Gruppenidentitäten: Der Alltagsgebrauch des Deutschen in der Stadt sei durch vielfältige Abgrenzungen und Zuschreibungen geprägt gewesen – etwa die soziale Abgrenzung von jenen die Dialekt statt Hochdeutsch sprachen. Eine einheitliche, durch Sprache geformte Gruppenidentität lasse sich nicht feststellen, die Forschung müsse daher den „Gruppismus“ als implizite Grundannahme vermeiden.

Auch die Ethnologin GABRIELA KILIÁNOVÁ (Bratislava) präsentierte eine lokale Mikrostudie, in der sie die personalisierten Vorstellungen vom Tod im heute noch mehrsprachigen slowakischen Ort Medzev (Metzenseifen) untersucht hat. Sie zeigte, dass die deutsch- und die slowakischsprachigen Gruppen unterschiedlichen Bildern anhingen: Während die Deutschen den Tod als alten Mann mit schwarzer Kapuze imaginierten, herrsche in bei den Slowaken die Vorstellung des Todes als eine Frau mit weißem Umhang vor. Die deutlich abweichende kulturelle Praxis der beiden Gruppen erzeuge aber keine kulturelle Differenz, wirke also nicht identitätsstiftend und damit nicht ausgrenzend. Dieses Beispiel zeige daher eine abweichende alltägliche Praxis, die in keiner kulturellen Interferenz münde und damit konfliktarm sei.

Die vier Vorträge des nächsten Themenfeldes „Zentrum und Peripherie“ verdeutlichten einerseits, wie gewinnbringend es ist, über die Grenzen der Slowakei hinauszuschauen, und andererseits den Konstruktionscharakter von nationalen Identitäten. JURAJ ŠEDIVÝ (Bratislava) stellte eine chronologische und typologische Übersicht von mittelalterlichen deutschsprachigen Texten in der Slowakei vor, die sowohl Urkunden, Handschriften als auch öffentlich wirksame Inschriften umfasste. Hierbei unterstrich er, dass sich eine allmähliche Verbreitung von West nach Ost vollzogen habe. Entwicklungen in den deutschsprachigen Kerngebieten und Zentren – zum Beispiel Wien – würden jeweils einige Jahrzehnte später weiter im Osten ebenfalls einsetzen. Diese wellenförmige Verbreitung, etwa von bestimmten Urkundentypen, ginge einher mit Wanderungsbewegungen und lasse sich auch in anderen ostmitteleuropäischen Regionen nachvollziehen, die als deutschsprachige Peripherie betrachtet werden können.

In seinem Vortrag führte KARL SCHWARZ (Wien / Bratislava) aus, dass sich die Reformation vermittelt über das deutsche Bürgertum zwar im gesamten Ungarn schnell verbreitete. Doch hätten in Oberungarn spezifische regionale Besonderheiten, namentlich die hussitische Tradition, der Aufnahme reformatorischer Ideen wohl zusätzlich Vorschub geleistet. Insgesamt stünde Oberungarn an der Schnittstelle unterschiedlicher Einflüsse bzw. Zentren: Während in Ungarn eine mittlere Position zwischen Lutheranern und Calvinisten dominant war, fanden sich in Oberungarn auch Wiedertäufer, Reformisten, Unitarier und Lutheraner.

Die beiden Beiträge von PETER ŠOLTÉS (Bratislava) und DUŠAN KOVÁČ (Bratislava) verdeutlichten, dass in Oberungarn bzw. der Slowakei auch im „nationalen Zeitalter“ des langen 19. Jahrhunderts regionale über nationale Identitäten bei den deutschsprachigen Bewohnern dominierten. Anhand von statistischen Werken des 19. Jahrhunderts vollzog Šoltés die Typisierung und Charakterisierung der Zipser nach. Die ursprüngliche Absicht von staatlichen Statistiken, die Verwaltung durch Erfassung und Homogenisierung effizienter zu gestalten sei bald in ihr Gegenteil umgekehrt worden. Mit dem Ziel, althergebrachte Privilegien und eine Sonderstellung beizubehalten, wurden Statistiken erstellt, die den besonderen und damit erhaltenswerten „Volkscharakter“ der Zipser aufzeigen sollten. Die Statistiken waren daher zugleich ein Vehikel, Stereotype auszubilden, eine Sonderrechtsstellung gegen Homogenisierungstendenzen zu behaupten, stellten jedoch kein Beispiel für eine nationale Identitätsbildung dar. Auch Kováč unterstrich die geringe Verbreitung von nationalen Tendenzen in der Slowakei und die dominante Stellung der regionalen Identitäten innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung. Alldeutsche Bewegungen seien meist von außen in die Slowakei gekommen und dort – anders als im ungarischen Kernland – auf wenig Resonanz gestoßen. Auch die „karpatendeutsche Bewegung“ sei wenig einflussreich gewesen und habe sich erst in der 1930er-Jahren, vor allem aber nach der Vertreibung verbreitet und identitätsstiftenden Charakter gewonnen.

Auch die Beiträge des letzten Themenfeldes „Migration“ verdeutlichten den Gewinn von vergleichenden und Mikrostudien. So führte DUŠAN SEGEŠ (Bratislava) in seinem überblicksartigen Beitrag zur Auswanderung aus der Slowakei im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus, dass die Motivationen der Auswanderer meist wirtschaftlicher Natur waren, die Rückwirkungen (Landverödung, Geburtenrückgang, Rekrutenmangel) in sämtlichen Regionen ähnlich waren. Insgesamt seien die Migrationswellen in Hinblick auf ihre ethnische Zusammensetzung jedoch nicht ausreichend erforscht, sodass bisher von einem allgemeinen ökonomisch-sozialen Phänomen ausgegangen werden müsse, das sämtliche Bewohner des Landes gleichermaßen betroffen habe.

MICHAL SCHVARC (Bratislava) stellte in seinem Beitrag die Umsiedlung von „Volksdeutschen“ der Slowakei während des Zweiten Weltkriegs in vergleichender Perspektive vor. Auch in der Slowakei ist die Umsiedlungsaktion „von oben“, genauer von der Deutschen Partei initiiert worden, sei aber auf großen Widerstand vonseiten der betroffenen Familien, der Gemeinden und Kirchen gestoßen. Die „Umsiedler“ könnten daher nicht pauschal als Profiteure der NS-Politik bezeichnet werden. Häufig wurden sie unter Zwang als verfügbare Arbeitsmasse umgesiedelt und waren daher häufig eher Objekte als Akteure der NS-Politik.

In dem Vortrag von KLAAS-HINRICH EHLERS (Berlin / München) ging es um die Integration von Vertriebenen aus der Slowakei in Deutschland. In einer Mikrostudie zum mecklenburgischen Ort Satow zeigte sich, dass sich die Integrations- und Akkulturationsprozesse der dort angesiedelten Hauerländer eklatant von Erfahrungen und Prozessen etwa von sudetendeutschen Vertriebenen unterschieden. So wurden sie dort ungewöhnlicherweise kompakt angesiedelt, hätten sich den heimischen Mecklenburgern gegenüber als fortschrittlicher und damit überlegen betrachtet, ihre kulturellen Eigenarten wie Dialekt und Bräuche sehr lange gepflegt und erhalten und die regionale Wirtschaft durch einen exklusiv auf die eigene Gruppe fixierten Binnenprotektionismus bald dominiert.

Der abschließende Vortrag von KONRAD GÜNDISCH (München) fasste in einem Überblick vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit die drei Themenfelder der Konferenz zusammen und stellte dabei vor allem weitere Forschungsdesiderata fest: Die vielfältigen Migrationsbewegungen abseits des Landesausbaus, wie etwa Studenten- und Gesellenwanderungen oder Kaufleute, seien weitgehend unerforscht. Im Bereich der Rechtsentwicklung und der sozialen Struktur könne von einem vielschichtigen Nebeneinander und kulturellen Interferenzen ausgegangen werden, jedoch ist angesichts der Quellenlage und -sprache Latein nicht nachzuvollziehen, ob und in welchem Maße überhaupt ethnische Unterschiede bestanden. Besonders auffällig sei die Forschungslücke zur Frühen Neuzeit, zu der insgesamt kaum Studien vorliegen.

In der Abschlussdiskussion wurde die allgemeine Schwierigkeit betont, angesichts der großen regionalen Unterschiede innerhalb der Slowakei zu übergreifenden Schlüssen zu kommen. Gleichzeitig stimmten die Teilnehmer zu, dass die präsentierten regionalen und Mikrostudien vielversprechend seien, um den Alltag der wechselseitigen Beziehungen fassen zu können. Die Literatur zu anderen Gebieten zu nutzen, also die nationalen Grenzen der Slowakei zu überschreiten, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu parallelen sozialen, linguistischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu untersuchen, wurde ebenfalls als zukunftsträchtige Vorgehensweise bezeichnet. Zusammenfassend kann daher eine positive Bilanz der Tagung gezogen werden: „Die“ Deutschen in der Slowakei erschienen hier weniger als einheitliche Nation, sondern als eine heterogene Gruppe, die sich in mancherlei Hinsicht nicht von ihrem Umfeld unterschied. In der Tat wurden hierdurch im Vergleich zur bereits existierenden Literatur „neue Zugänge“ gewählt und neue Perspektiven auf das Thema präsentiert.

Konferenzübersicht:

I Begrüßung und Einführung
Igor Slobodnik (Botschafter der Slowakischen Republik), Begrüßung

Martin Zückert (Collegium Carolinum, München), Jenseits der Nation: Überlegungen zu einer Geschichte der Deutschen in der Slowakei

II Themenfeld Kulturelle Vielfalt

Jörg Meier (Alpen-Adria Universität Klagenfurt), Die deutsche Sprache im Kontext der slowakischen Geschichte

Jozef Tancer (Comenius-Universität Bratislava), Was alles bedeutet ‚Deutsch‘? Zu den Sprachbiographien der Bewohner Bratislavas in der Zwischenkriegszeit

Gabriela Kiliánová (Slowakische Akademie der Wissenschaften, Bratislava), Kulturelle Interferenzen: Deutsche und Slowaken nach 1945

III Themenfeld Zentrum und Peripherie

Juraj Šedivý (Comenius-Universität Bratislava), An der „Sprachperipherie“? Mittelalterliche deutsche Texte in öffentlichen Räumen des historischen Oberungarn (14.-16. Jh.).

Karl Schwarz (Universität Wien / Institut für Kirchengeschichte des Donau- und Karpatenraumes Bratislava), Die Reformation in Oberungarn zwischen europäischen Kontexten und regionalen Besonderheiten

Peter Šoltés (Slowakische Akademie der Wissenschaften, Bratislava), „Ohnstreitig ist nirgends der wohltätige Einfluß deutscher Cultur so auffalend sichtbar, als an diesen Karpatehen-Bewohner.“ Charakter der Zipser in der statistischen und topographischen Literatur des 19. Jahrhunderts

Dušan Kováč (Slowakische Akademie der Wissenschaften, Bratislava), Zwischen Staatsbewusstsein, regionaler und ethnischer Identität. Die Deutschen im Oberungarn des 19. Jahrhunderts

IV Themenfeld Migration I

Dušan Segeš (Slowakische Akademie der Wissenschaften, Bratislava), Die Auswanderung aus der Slowakei im 19. und frühen 20. Jahrhundert – Ethnische Zusammensetzung und wirtschaftlich-soziale Hintergründe

Michal Schvarc (Slowakische Akademie der Wissenschaften, Bratislava), Die Evakuierung der Deutschen aus der Slowakei im Kontext der sogenannten Umsiedlungsaktion 1939 und der „Südostevakuierung“ 1944/45

Klaas-Hinrich Ehlers (Collegium Carolinum / Freie Universität Berlin), „Unsere Leut'“. Akkulturation und Abgrenzung einer karpatendeutschen Migrantengruppe in Mecklenburg.

Abschlussvortrag und Zusammenfassung
Konrad Gündisch (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München), Die Deutschen im historischen Oberungarn während des Mittelalters und der frühen Neuzeit

Abschlussdiskussion