Tschechien und Bayern. Gegenüberstellung und Vergleiche / České země. Pozice a srovnání

Tschechien und Bayern. Gegenüberstellung und Vergleiche / České země. Pozice a srovnání

Organisatoren
Collegium Carolinum München; Historisches Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag, Historický ústav AV ČR;Haus der Bayerischen Geschichte in Augsburg; Landeszentrale für politische Bildung in München
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
03.06.2015 - 05.06.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Marco Bogade, Akademie Mitteleuropa/Der Heiligenhof, Bad Kissingen

Der komparatistische Blick auf Bayern und Böhmen hat beim Collegium Carolinum Tradition und verdeutlicht den Wandel der Forschungen zu diesen für die Kulturgeschichte in Mittel- und Ostmitteleuropa zentralen Nachbarregionen im Verlauf von 60 Jahren. Bereits die konstituierende wissenschaftliche Tagung des Collegium Carolinum im Jahre 1956 in Cham befasste sich mit den Regionen Böhmen und Bayern. Im Zentrum des im Jahre 1958 veröffentlichen Bändchens1 stehen vor allem Fragen der historischen deutschen Ostsiedlung und ihr Einfluss auf die Geschichte Böhmens mit einer deutlichen Betonung der Transferprozesse von Westen nach Osten. Im Vorfeld der Bayerischen Landesausstellung „Bayern-Böhmen. 1500 Jahre Nachbarschaft“ in Zwiesel im Jahre 2007 thematisierte die gemeinsame Tagung des Collegium Carolinum und des Hauses der Bayerischen Geschichte vor allem die Beziehungsgeschichte sowie Facetten des Kunst- und Kulturtransfers.2

Die aktuelle Veranstaltung – ein Kooperationsprojekt des Collegium Carolinum, des Historischen Instituts der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag (Historický ústav AV ČR), des Hauses der Bayerischen Geschichte in Augsburg und der Landeszentrale für politische Bildung in München – beabsichtige die regionale Gegenüberstellung bzw. einen Ländervergleich von historischen, kunst- und kulturhistorischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Einzelphänomenen vom Mittelalter bis in die Gegenwart mit dem Ziel, zeitliche Kongruenzen und Inkongruenzen, Gemeinsamkeiten und Sonderentwicklungen aufzuzeigen und neue Impulse für die Forschungen zu geben, wie MILAN HLAVAČKA (Prag) und ROBERT LUFT (München) in ihrem Einführungsvortrag deutlich machten. Die Konferenz war – in Anbetracht der Multidisziplinarität – sinnvollerweise durch „historische Klammern“ gegliedert, die sich in Sektionen niederschlugen.

Ausgehend von der Genese und den Interferenzen der herzoglichen bzw. königlichen Herrschaft im Bayern und Böhmen des hohen Mittelalters, deren Träger – der Adel und die Geistlichkeit – in den Regionen eine unterschiedliche Gewichtung und Dynamik hatten, beleuchtete HUBERTUS SEIBERT (München) die sich ähnelnden Repräsentationsmedien Landtag und Gerichtsbarkeit. ROMAN ZAORAL (Prag) präsentierte Böhmen im 13. Jahrhundert als eine numismatisch geteilte Währungsregion und gleichzeitig -union, die im Westen (mit Alt-Pilsen als Zentrum) den Pfennig nach Regensburger Vorbild, in Prag selbst Brakteate nach Meißener Vorbild prägte. Am Beispiel des Kriegswesens im ausgehenden 15. Jahrhundert beleuchteten ROBERT ŠIMUNEK (Prag) und UWE TRESP (Potsdam) einige (ikonografische) Merkmale bei der Darstellung böhmischer Krieger bzw. Söldnertruppen, die allgemein „exotisch“ (z. B. in der sogenannten Berner Chronik) bzw. mit Bezug zur spätmittelalterlichen Sachkultur (z. B. die sogenannten Pavesen etwa auf dem Flugblatt zur Schlacht von Wenzenbach von 1504) ausfallen konnten. Die Frage nach der Verbildlichung von Bayern in Böhmen blieb in diesem Kontext als Forschungsdesiderat offen.

Die zweite Sektion zur Frühen Neuzeit eröffnete FABIAN SCHULZE (Augsburg) mit einer Gegenüberstellung der Föderalismusmodelle des 17. Jahrhundert, die in Böhmen auf staatsgründender Basis weit ausgeprägt waren, in Bayern vorrangig mit dem Ziel verfolgt wurden, „kollektiv“ und zeitlich begrenzt Friedensverhandlungen zu führen. JIŘÍ MIKULEC (Prag) betrachtete (katholische) Kultpraktiken zur Zeit der sogenannten Gegenreformation nach der Schlacht am Weißen Berg, die mit dem Marienkult („Patrona Bavariae“, „Patrona Bohemiae“) regional übergreifend waren, mit dem hl. Wenzel in Bayern (z. B. Wallfahrtsort Oberlauterbach) bzw. mit den hll. Wolfang, Leonhard, Walburga oder Gunther (z. B. Stift Breunau/Břevnov) Transferbewegungen aufweisen konnten. In ganz Mitteleuropa etablierten sich im 17. und 18. Jahrhundert regional (Bayern, Böhmen, Mähren, Sachsen, etc.) recht wenig unterscheidende Ausprägungen absolutistischer Herrschaft, wie JIŘÍ HRBEK (Prag) in seinem Beitrag darlegte.

TOMÁŠ W. PAVLÍČEK (Prag) führte mit seinen Überlegungen zum Wandel der Religiosität in der Moderne in das 19. Jahrhundert ein – eine Zeit in der vor allem das Vatikanum I. (1869/70) maßgeblich zur Neu -und Umstrukturierung der konfessionellen Gemengelage in Mitteleuropa beitrug, deren Auswirkungen für Böhmen bis weit in das 20. Jahrhundert (Trennung der tschechoslowakischen Kirche 1919) zu beobachten sind. Milan Hlavačka stellte die Armenfürsorge in den Fokus seiner Betrachtungen, die im 19. Jahrhundert in beiden Königreichen zum festen Bestandteil staatlicher Politik auf kommunaler Ebene wurde – in Böhmen vor allem in der Nachfolge des Josefinismus, in Bayern im Wesentlichen auf der Grundlage des Armengesetztes von 1816. In der Gegenüberstellung der sogenannten Familiantengesetze in Böhmen, die ab 1726 auf Veranlassung Kaiser Karls VI. eine deutliche Einschränkungen für jüdische Eheschließungen bedeutete, mit dem knapp 100 Jahre später in Bayern erlassenen Judenedikt von 1813, das – so MARTINA NIEDHAMMER und PHILIPP LENARD (München) – durch das Anlegen von Matrikeln auf eine deutlichere spezifische Bevölkerungskontrolle im Allgemeinen abzielte, wurden die restriktiven, antisemitischen Maßnahmen zur Ausbeutung und letztendlich auch Dezimierung der jüdischen Bevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert deutlich. Zielgerichtet diskriminierend und im Vergleich zum 19. Jahrhundert deutlich radikalisiert waren die beinahe zeitgleich erlassenen „Zigeunergesetze“ (1926 in Bayern, 1927 in der Tschechoslowakei), die – so VOLKER ZIMMERMANN (München) – als Ergebnis einer „erfolgreichen“ grenzübergreifenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kriminologie und Polizeiarbeit interpretiert werden können. PAVEL CIBULKA (Brünn) machte deutlich, dass sich die parteipolitischen Konstellationen in der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in Bayern und Böhmen insofern ähnelten, dass sich die Politik überwiegend auf Länder bzw. Reichsebene bewegte. Einen gewissen Vorbildcharakter hatte die bayerische Zentrumspartei für die Christsozialen in Böhmen.

Der Vergleich der Glasfachschulen in Haida (heute Nový Bor) und Zwiesel von VERENA WASMUTH (Berlin) verdeutlichte die unterschiedlichen Ausbildungsschwerpunkte vor allem im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, die sich in Böhmen auf die künstlerische und Designausbildung, in Bayern auf die „praktische“ Werkstattarbeit fokussierte. Eine Transferbewegung sei dabei – bezogen auf Lehr- und Fachkräfte – von Böhmen (Haida, auch Steinschönau/Kamenický Šenov) nach Bayern zu beobachten. Der Frage der Künstlerausbildung und dem damit verbundenen Spannungsfeld von Tradition und Innovation bei der Etablierung und Vermittlung eines „Schulstils“ gingen HANA SPIJKERS und SILVIA WOLF-MÖHN (Frankfurt am Main) mit Blick auf die Akademien der bildenden Künste von Prag und München in der Zwischenkriegszeit nach. STEFAN ZWICKER (Bonn) erläuterte die gesellschaftspolitische und sozialhistorische Relevanz von Fußballmannschaften in den Städten München und Prag am Beispiel und in Gegenüberstellung der beiden jeweils in den Städten „konkurrierenden“ Vereine „1860 München“ und „FC Bayern“ sowie „Slavia Prag“ und „Sparta Prag“ vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um die Situation der katholischen Kirche in der Zwischenkriegszeit ging es beim Vortrag von JAROSLAV ŠEBEK (Prag). Sie stellte sich in der neu gegründeten deutlich „säkulareren“ Tschechoslowakei wesentlich schwieriger dar als in Bayern, wo das Bayerische Konkordat von 1924 die Trennung und das Miteinander von Staat und Kirche regelte. Nicht nur in Hinblick auf die engen Verbindungen zu dem/zu den politischen System(en) ist die komparatistische Betrachtung der böhmischen Ringhoffer-Tatra-Werke und der Bayerischen Motoren-Werke (BMW) von wissenschaftlicher Relevanz, wie HALGARD STOLTE (Prag) und CHRISTOPHER KOPPER (Bielefeld) in ihrem Tandemvortrag darlegten. Beide Unternehmen standen nach dem Ersten Weltkrieg vor ähnlichen Herausforderungen, neue Produkte für den sich wandelnden Markt (Automobile; Motorräder) zu entwickeln.

Schließlich gingen ANJA DECKER (München) und MANUEL TRUMMER (Regensburg) am Beispiel von zwei ethnografischen Projekten der Frage der Alltagskultur in peripheren, ländlichen Regionen (Westböhmen und Ostbayern) seit 1989 nach, bei der die Mobilität potentielle Nachteile in der Infrastruktur ausgleichen kann.

Die Fachvorträge wurden ergänzt von einer Vorstellung der bayerisch-böhmischen Absichtserklärung zur Bildungszusammenarbeit, die im Mai 2015 unterzeichnet wurde, als neuer Rahmen für grenzübergreifende Projekte (Werner Karg, München). Wolfgang Jahn (Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg) und Jiří Fajt (Nationalgalerie/Národní galerie, Prag/Praha) gaben zudem einen Einblick in die Konzeption der bayerisch-tschechischen Landesausstellung zu Kaiser Karl IV. im Jahre 2017, die vorsieht, multidisziplinär den Herrscher im gesamten 14. Jahrhundert zu verorten.

Zu einem übergreifenden Ergebnis der Tagung zu gelangen, ist angesichts der thematischen und chronologischen Spannbreite schwierig. Allerdings zeigte sich an vielen Vorträgen, dass sich in beiden Nachbarregionen zahlreiche parallele – wenn auch häufig zeitversetzte – Phänomene beobachten lassen, die nicht auf Transfer und Austausch zurückzuführen sind. Häufig sind es sehr ähnliche strukturelle Voraussetzungen, die für ähnliche Entwicklungen sorgten. Zudem wurde deutlich, dass existierende Transferprozesse durchaus in beide Richtungen verliefen, was die nach wie vor weit verbreitete Vorstellung einer West-Ost-Dominanz entkräften kann.

Konferenzübersicht:

Moderation: Martin Schulze Wessel

Wolfgang Jahn (Augsburg) / Jiří Fajt (Prag), Die gemeinsame bayerisch-tschechische Landesausstellung: Karl IV

Milan Hlavačka (Prag) / Robert Luft (München), Gegenüberstellungen und Vergleiche: Tschechien und Bayern: Eine Einführung

Sektion 1 (Mittelalter)
Moderation: Jiří Mikulec

Hubertus Seibert (München), Grundlagen, Formen und Träger herzoglicher Herrschaft in Bayern und Böhmen (10. – 12. Jahrhundert)

Robert Šimůnek (Prag) / Uwe Tresp (Potsdam), Böhmisch-bayerische Perspektivwechsel im späten 15. Jahrhundert: Einflüsse des Kriegswesens auf die gegenseitige Wahrnehmung

Roman Zaoral (Prag), Der Bayerische und der Böhmische Pfennig als „paariges" Phänomen

Sektion 2 (Frühe Neuzeit)
Moderation: Robert Šimůnek

Fabian Schulze (Augsburg), Bayern und Böhmen im Dreißigjährigen Krieg. Zwei föderalistische Ordnungsmodelle im Vergleich

Jiří Mikulec (Prag), Der böhmische und bayerische Barockhimmel. Die wechselseitige Durchdringung katholischer Kultpraktiken

Jiří Hrbek (Prag), Vergleich absolutistischer Herrschaftsformen in Bayern und Böhmen im 18. Jahrhundert

Sektion 3 (19. Jahrhundert)
Moderation: René Küpper

Tomáš W. Pavlíček (Prag), Parallele, verwandte oder einzigartige Wandlungen der Religiosität in der Moderne? Vergleich religiöser Änderungen in Böhmen und Bayern verbunden mit einer sozialen Analyse des Klerus

Milan Hlavačka (Prag), Armenfürsorge in Böhmen und Bayern bis zum Ersten Weltkrieg

Moderation: Ulrike Lunow

Kurzvorstellung: Werner Karg (München), Die bayerisch-tschechische Absichtserklärung zur Bildungszusammenarbeit – ein Rahmen für kooperierende Akteure

Philipp Lenhard / Martina Niedhammer (München), „Ohne Bewilligung". Vorgeschichte, Funktion und Auswirkungen der Judenmatrikel in Bayern (1813 – 1861) und der Familiantengesetze in den böhmischen Ländern (1726/27 – 1859)

Pavel Cibulka (Brünn), Die parteipolitischen Systeme in den böhmischen Ländern und in Bayern in den Jahren 1848 – 1918. Ähnlichkeiten und Unterschiede

Sektion 4 (19. und 20. Jahrhundert)
Moderation: Jaroslav Šebek

Volker Zimmermann (München), „Zigeuner" als „Landplage". Diskriminierung und Kriminalisierung von Sinti und Roma in Bayern und den böhmischen Ländern (Ende 19. Jahrhundert bis 1939)

Verena Wasmuth (Berlin), Moderne Formgestaltung und Strategien zur Profilbildung an den Glasfachschulen in Haida und Zwiesel im frühen 20. Jahrhundert

Stefan Zwicker (Bonn), Die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballsports und lokale sportliche Rivalitäten in München und Prag an den Beispielen FC Bayern und 1860 München bzw. Sparta und Slavia Prag

Sektion 5 (Zwischenkriegszeit)
Moderation: Martin Zückert (München)

Hana Spijkers / Silvia Wolf-Möhn (Frankfurt am Main ), Künstlerausbildung im Umbruch? Die Akademien der bildenden Künste von Prag und München zwischen den Weltkriegen

Jaroslav Šebek (Prag), Der Einfluss der katholischen Kirche in Böhmen und Bayern in der Zwischenkriegszeit

Sektion 6 (Zeitgeschichte)
Moderation: Robert Luft / Milan Hlavačka

Halgard Stolte (Prag) / Christopher Kopper (Bielefeld), Die Entwicklung der Autoindustrie in der Tschechoslowakei und Bayern bis 1945. Die Beispiele BMW und Ringhoffer-Tatra

Mirka Kubatová Pitrová (Budweis), Die Entwicklung der bayerischen und tschechischen öffentlichen Verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich

Anja Decker (München) / Manuel Trummer (Regensburg), Arbeit, Mobilität und Lebensgestaltung in ländlichen Regionen Westböhmens und Ostbayerns seit 1989. Eine vergleichende Ethnographie

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Böhmen und Bayern. Vorträge der Arbeitstagung des Collegium Carolinum in Cham, München 1958 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 1).
2 Siehe hierzu den Tagungsband: Robert Luft / Ludwig Eiber (Hrsg.), Bayern und Böhmen. Kontakt, Konflikt, Kultur. Vorträge der Tagung des Hauses der Bayerischen Geschichte und des Collegium Carolinum in Zwiesel vom 2. bis 4. Mai 2005. München, 2. Auflage 2007 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 111).


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