1990 – The First Year of Transition

1990 – The First Year of Transition

Organisatoren
Imre Kertész Kolleg, Friedrich Schiller Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.06.2015 - 12.06.2015
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Von
Matthias Stadelmann, Institut für Geschichte, Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Nach Konferenzen in den ostmitteleuropäischen Metropolen Prag, Budapest und Warschau veranstaltete das Imre Kertész Kolleg seine Jahrestagung 2015 im heimischen Jena. Thema war ein - wenngleich spannendes – Jahr. „1990 – The First Year of Transition“ zollte aus der „Jubiliäums-Perspektive“ von 25 Jahren einem Jahr rückblickenden Tribut, welches beim Erinnern an den Systemwandel in Ostmitteleuropa meist nicht im Mittelpunkt steht. Auf 1989, das Jahr der Revolutionen und Umbrüche, das Jahr der Regimewechsel und der Maueröffnung, das Jahr, in dem der Aufbruch seinen Anfang nahm, richteten sich häufig die Blicke von Historikern und Zeitzeugen. 1990 geht da, blendet man einmal das deutsche Wiedervereinigungsgeschehen aus, eher unter, bevor die durch dramatische Geschehnisse beschleunigte Auflösung der Sowjetunion 1991 wieder mit dem Potential eines (zumindest osteuropäischen) Epochenjahres ausstattete.

Vor diesem Hintergrund erscheint es als ein berechtigt innovatives Unterfangen, jenes Jahr 1990 als „erstes Jahr des Übergangs“ in den Fokus zu nehmen und damit auch einen Akzent zu setzen gegen jene Makroperspektive, die, bezogen auf Ostmitteleuropa, mit den Umbrüchen 1989 die soziopolitischen und ökonomischen Sachen als „gelaufen“ ansieht. Man sei den Staatssozialismus losgeworden und habe die – vermeintlich – alternativlosen parlamentarisch-marktwirtschaftlichen Wege nach westlichem Vorbild eingeschlagen, wobei gewisse regionale Nuancen nichts an der prinzipiell zugrunde gelegten Teleologie einer „garantierten“ (west-) europäischen Entwicklung seit Beginn der 1990er Jahre zu ändern brauchen. Die entscheidenden Schlachten waren 1989 geschlagen, von da an ging es - nach solcher Sichtweise – nur noch darum, auf dem nachholenden Durchmarsch nach „Europa“ eventuelle lange Talsohlen und steile Berge zu überwinden. Taucht man freilich rückblickend ein in Realitäten und Konzeptionen des Jahres 1990, verändern sich die Bilder. Schließlich, so formulierte es die Jenaer Konferenzankündigung, „löste der unerwartete und unwiderrufliche Fall des Kommunismus Aufregung aus gepaart mit Unsicherheit, Angst und enormen Herausforderungen, in Politik und Gesellschaft ebenso wie im Privatleben“. So sollte es unter anderem das Ziel der Tagung sein, durch Fallstudien aus den Bereichen Politik, Geistesleben, Wirtschaft und Alltag verschiedene Aspekte der mittel- und osteuropäischen Übergangsgesellschaften im ersten Jahr nach dem Neuanfang im vergleichenden Rahmen auszuloten. Eines der Anliegen war dabei die Bestimmung des Verhältnisses von überkommenen Werten bzw. Erfahrungen und neuartigen Paradigmen bei der Ausgestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, womit auch ein Beitrag zur Historisierung jener Transformationsjahre jenseits politischer Empathie möglich erscheint.

Gerade hierauf wies der Osteuropahistoriker und Ko-Direktor des Imre Kertész Kollegs, JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena), in seinen einführenden Worten nochmals hin: Bei aller Attraktivität der westlichen parlamentarischen Demokratie für die Regimegegner im Sozialismus habe es in jener Umbruchsphase keineswegs transformationstheoretische Naturgesetzlichkeiten gegeben, die den Weg der ostmitteleuropäischen Staaten diktiert hätten. Aufgabe der historischen Forschung sei es an dieser Stelle, mit einem gewissen mikrohistorischen Impetus Erwartungen, Befürchtungen und Problemwahrnehmungen der Zeit selbst ernst und die unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Optionen in den Blick zu nehmen, um so die Eigengesetzlichkeiten der historischen Dynamik adäquat erklären zu können.
Zu Beginn hatte es PHILIPP THER (Wien) übernommen, in einer key note lecture (Groping in the Dark. Expectations and Predictions 1988-1991) über Voraussetzungen, Entscheidungsoptionen, Wunschvorstellungen und Umsetzungsprobleme in Zusammenhang mit den Systemübergängen in den ostmitteleuropäischen Staaten zu räsonieren. Dabei streifte er die oft als untrennbar vorgestellten Zusammenhänge zwischen politischer und wirtschaftlicher Reform (Stichworte Demokratie und Marktwirtschaft), die längst eingetretene Krise der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, den daraus resultierenden Übergang von Keynesianischen Modellen zu neoliberalen Konzepten und die Konsequenzen dieses Paradigmenwechsels für die Orientierung der osteuropäischen Reformer. Ausführlicher ging Ther dabei auf Polen ein, welches in der radikalen „Schocktherapie“ des Finanzministers Balcerowicz als erstes der neuen neoliberalen Agenda folgte. Während eindeutige Zusammenhänge zwischen Reformradikalität und -erfolg nicht belegt werden können, scheint die Kausalität zwischen einer nur rudimentär ausgebildeten Demokratie und der Möglichkeit, schmerzhafte Wirtschaftsreformen nicht nur zu implementieren, sondern auch konsequent an Ihnen festzuhalten, klar auf der Hand zu liegen. Entgegen dem meist mit Verbindlichkeitsanspruch vorgetragenen Diskurs müssten also Demokratisierung und Marktwirtschaft, zumindest in ihren Anfangsstadien in Ostmitteleuropa, nicht immer von proportionalen Verhältnissen gekennzeichnet sein.

Hieran knüpfte das erste Panel (An End. Dismantling Communism) an: Joachim von Puttkamer thematisierte den Wandel der Erwartungshaltungen gegenüber der begonnenen Systemtransformation in Polen 1989/90 und fragte danach, inwieweit die „Demontage“ des Kommunismus in Polen tatsächlich jener „determined and purposeful process“ war, den sich die Anti-Kommunisten vorstellten, und wie dieser Prozess in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Puttkamer argumentierte, dass die neue Regierung in Polen gegenüber dem alten Sicherheits- und Machtapparat frühzeitig und nachhaltig aktiv geworden war, dass jedoch diese Aktivität von der Bevölkerung oft mit ungeduldiger, unbefriedigter Skepsis aufgenommen wurde. Auch beim Umgang mit der kommunistischen Nomenklatura etablierte sich in der Bevölkerung die Ansicht, dass der Elitenwechsel nicht stringent genug durchgeführt werde. Anderseits gab es auch Befürchtungen, dass durch einen zu handstreichartig durchgeführten Elitentausch eine neue (Solidarność-) Nomenklatura in die Machtstrukturen gebracht werden könnte, zumal es auch an Ambitionen im Wałęsa-Lager nicht mangelte.

JAMES KRAPFL (Montreal) legte den Schwerpunkt auf den Wandel der gesellschaftlichen Präferenz für einen reformierten Sozialismus oder zumindest einen „Dritten Weg“ Ende 1989 hin zu einer deutlichen Unterstützung für radikale marktwirtschaftliche Reformen im Jahr darauf. Erst im Laufe des Jahres 1990 kam es zu einer Abkehr von reformsozialistischen Visionen, wofür Krapfl vor allem „activities and rhetoric“ der Kommunistischen Partei verantwortlich macht. Demnach habe die Zögerlichkeit der Repräsentanten der bisherigen Macht, Privilegien aufzugeben und Strukturen zu verändern, schnell zur Diskreditierung sozialistischer Erneuerungskonzepte beigetragen.

Auch LJUBICA SPASKOVSKA (Exeter) versuchte in ihrem Beitrag „The Beginning of the End – The Yugoslav 1990“ Gegenakzente zur Mainstream-Wahrnehmung zu setzen, in ihrem Fall freilich vor allem bezogen auf die Hinterfragung des ethno-nationalen Paradigmas, welches am Ende unerbittlich gegen alle jugoslawischen Konzeptionen triumphieren sollte – mit den bekannten, auch kriegerischen bzw. gewalttätigen Konsequenzen. Für Spaskovska verschweigt die Ausblendung „anti-nationalistischer“ und „pro-jugoslawischer Tendenzen“ eine im Jahr 1990 nach wie vor denkbare Entwicklungsvariante. Das bekannte Scheitern einer demokratischen, gesamtjugoslawischen Erneuerung begründete Spaskovska außer mit polittaktischen Defiziten auf Seiten ihrer intellektuellen Protagonisten mit zwei Hauptfaktoren: den mangelnden gesamtstaatlichen Affinitäten und der mangelnden Attraktivität links-liberaler intellektueller Konzepte. So war auch einer der Befunde von Kommentator JAMES MARK (Exeter), dass alternative Entwicklungswege und insbesondere transnationale Konstellationen in der Erforschung von (Süd-) Osteuropas Zeitgeschichte stärkere Berücksichtigung finden sollten.

In Panel 2 stand „Building Democracy” im Mittelpunkt. MICHAL KOPEČEK (Prag) konzentrierte sich dabei in seine Ausführungen zu Central and Eastern Europe vor allem auf Konzepte und Bedeutungen, die Recht und Politik zusammenbringen: Legalität, Legalismus, Konstitutionalismus, Rechtsstaat etc. Schließlich waren die Geschehnisse von 1989 nicht nur „political“, sondern auch „legal events“. Aus solchem Blickwinkel lassen sich die mitteleuropäischen Revolutionen von 1989 als Kreuzungspunkte unterschiedlicher Auffassungen von Legalität beschreiben, etwa einer sozialistischen und einer dissidentischen, die bereits während der sozialistischen Regierungen stets Berührungspunkte aufwiesen, etwa indem sowohl der oppositionelle Legalismus als auch der sozialistische Rechtsstaat der 1960er und der 1980er Jahre versuchten, sich an der strikten Einhaltung der Gesetze auszurichten. Während BOGDAN IACOB (Bukarest) unter den Leitfragen „Transition to What?“ und „Whose Democracy?“ die Entwicklungen der Jahre 1987 bis 1992 in Bulgarien und Rumänien in einer Art Parallelbetrachtung vorführte, widmete sich MARIE-JANINE CALIC (München) der Frage nach dem Zusammenhang von Demokratisierung und Kriegsgefahr in Jugoslawien 1990. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass, im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme, Demokratie nicht automatisch Frieden brächte und dass es in Jugoslawien – wie auch im Kaukasus – Zusammenhänge zwischen Demokratisierung und nationalistisch motivierten Gewaltausbrüchen gegeben habe. Verschiedene Faktoren seien für die Entstehung real angewandter, gewaltbereiter Nationalismen im Zuge der jugoslawischen Demokratisierung verantwortlich: Die desaströse wirtschaftliche und politische Lage habe zur der Aufspaltung der Kommunistischen Partei geführt, zum Verlust unifizierender Überzeugungskraft und zur Entstehung neuer politischer Kräfte, die ihre Ausrichtung entlang ethno-nationaler Identitätslinien vornahmen und dafür gerade auch der Abgrenzung dem vermeintlich „anderen“ gegenüber bedurften. Schwache staatliche Strukturen hätten in der Umbruchsphase ebenfalls die nationalistische Zuspitzung gefördert, da diese Legitimität und Berufung suggerieren könne. Zu guter Letzt habe auch die von der internationalen Gemeinschaft propagierte Mehrheitswahl in ethnisch diversifizierten Territorien, wie etwa Bosnien und Herzegowina, zu Versuchen der Interessendurchsetzung durch Gewalt beigetragen, da überstimmte ethnische Minderheiten in kardinalen Fragen ihre Felle für immer davon schwimmen sahen.

Realitäten und Unsicherheiten des Alltagslebens waren Thema von Panel 3. JOANNA WAWRZYNIAK (Warschau) konzentrierte sich auf die Schilderung des Schicksals eines früheren Beschäftigten einer Tabakfabrik in Radom und seine im Oral History-Verfahren gewonnene Erfahrungen. Interessant daran sei einerseits, dass der Betreffende die Zeit des Sozialismus nicht nostalgisch sehe, anderseits, dass er sein Leben, trotz des Arbeitsplatzverlustes Mitte der 90er Jahre als Erfolgsgeschichte wahrnehme.

ÉVA KOVÁCS (Budapest) schien mit dem konferenzleitenden Jahr 1990 nicht glücklich zu sein, begann sie ihren sehr emotional gefärbten Beitrag „Talkin‘ bout a revolution“ doch mit einer Ehrenrettung des Jahres 1989 in seiner Bedeutung für die einfache ungarische Bevölkerung. Ein angeblicher Gemeinplatz besage, dass die Angehörigen der „lower classes“ die ostmitteleuropäischen Revolutionen 1989 aufgrund struktureller Umstände nicht als bedeutsam für ihr Alltagsleben wahrgenommen hätten – das Gegenteil sei jedoch der Fall. Im zweiten Teil ihres Vortrags brachte Kovács ein individuelles Beispiel eines ehemaligen bischöflichen landwirtschaftlichen Gutes. Dessen Bewohner hatten ihre besten Zeiten wohl während des Staatssozialismus erlebt, die mehrfachen rechtlichen und ökonomischen Transformationen seit 1989 brächten für die – wechselnden – Bewohner des ehemaligen Gutes bestenfalls heterogene Unsicherheit.

Auch STANISLAV HOLUBEC (Jena) hatte bei seinem Beitrag über „New Czech Entrepreneurs after 1989“ sein Problem mit der Festlegung auf das Jahr 1990, weshalb er seine Analyse auf die „ersten drei postrevolutionären Jahre“ ausdehnte. Dabei gelang es ihm, am Beispiel des neuen tschechischen Unternehmertums die besonders positive Wahrnehmung der Marktwirtschaft in der tschechischen Öffentlichkeit vorzuführen. Schon der statistische Vergleich mit den benachbarten Transformationländern zeigt, dass die Tschechoslowakei ein Vorreiter bei der Expansion privater Wirtschaftsunternehmungen, egal welcher Größe, war. Holubec erklärte dies einleuchtend mit einer recht stabilen wirtschaftlichen Situation, mit Traditionen der Zwischenkriegszeit, aber auch mit einem gewissen Nachholbedarf, der durch die, verglichen mit den Nachbarstaaten, besonders strikte Haltung der tschechoslowakischen Kommunisten gegenüber dem „private business“ entstanden sei. Exemplarisch stellte Holubec drei prominente, ganz unterschiedliche Figuren des neuen tschechischen Kapitalismus vor – den zurückkehrenden Schuhfabrikanten Bat’a, den virtuos betrügenden Harvard-Absolventen Kožený und den schmierigen Schmuddelunternehmer Jonák. Holubec machte für die hohe Akzeptanzrate kapitalistischen Wirtschaftens in Tschechien nicht zuletzt die vergleichsweise gute ökonomische Situation der Mehrheitsbevölkerung verantwortlich. In seinem Kommentar ergänzte LUTZ NIETHAMMER (Jena) den Kontext mit einigen Ausführungen zur DDR, verweis freilich gleichzeitig auf einige Probleme der alltagsgeschichtlichen Annäherungen an die Transformationszeit, etwa die oftmals mangelnde Vergleichbarkeit zwischen den unterschiedlichen Ländern oder die generelle Weitgespanntheit, um nicht zu sagen Disparität alltäglich-lebensweltlicher Erfahrungen. In jedem Fall, so seine Anregung, müsse man auch Kategorien wie „Generation“ oder „Geschlecht“ in die alltagsgeschichtlichen Analysen miteinfließen lassen.

Von den Lebenswelten ging es im Panel 4 zur Ebene der internationalen Politik, deren Konstellationen vor allem von der Lage des (ehemaligen) „Patrons“, der Sowjetunion, mitbestimmt wurden. MARY ELISE SAROTTE (Los Angeles) thematisierte in ihrem Beitrag den Umgang der westlichen Außenpolitik mit der Sowjetunion. Breiten Raum nahm dabei die in den aktuellen politischen Umständen wieder heiß diskutierte Frage ein, ob der Westen der Sowjetunion seinerzeit den Verzicht auf eine Ostexpansion der NATO zugesichert habe. Sarotte führte sehr eindrücklich ihre bereits andernorts zu lesenden diplomatiegeschichtlichen Quellenrecherchen vor, die recht klare Ergebnisse liefern. Die westliche Aktionsgemeinschaft, bestehend aus US-Präsident Bush und Bundeskanzler Kohl und deren Außenministerien, habe demnach den unter Druck geratenen, an zahlreichen inneren wie äußeren Fronten agierenden Gorbačev über den Tisch gezogen: mit beruhigenden, nicht eindeutigen, vor allem aber nicht schriftlich festgelegten Formulierungen zur damals nicht aktuellen NATO-Osterweiterung – was man sich auch ohne Umschweife eingestand. Am Ende gelang es, Gorbačev die Zustimmung zu einer NATO-Mitgliedschaft auch des vereinten Deutschlands abzukaufen, wogegen zum weiteren Vorgehen in Osteuropa keine verbindlichen schriftlichen Dokumente mehr vorlagen.

Die aktuellen Ereignisse und Diskurse des Jahres 2015 waren auch im zweiten Paper dieses Panels, indirekt präsent: ŁUKASZ ADAMSKI (Warschau) betrachtete „The Soviet Union’s dissolution from the Ukrainian perspective“. Dabei betonte er, dass die ukrainische Unabhängigkeitserklärung vom August 1991 entscheidend für die Auflösung der Sowjetunion gewesen sei. Nun ist sicher der Umstand, dass sich die zweitgrößte Republik der Union einer Fortführung des gemeinsamen Staatswesens gegenüber negativ verhielt, in seiner Bedeutung alles andere als zu unterschätzen. Trotzdem werfe die These, die Ukraine sei der Schlüsselfaktor für das Ende der UdSSR gewesen, in ereignis- und zeitgeschichtlicher Begeisterung wohl zu vieles an Multikausalität bei der schwierigen und komplexen sowjetischen Spätphase über Bord, als dass sie in die Geschichtsbücher als verbindliche Erkenntnis eingehen wird.

Eine Abstimmung ganz anderer Art, nämlich mit den Füßen, stand im Mittelpunkt von TIM SCHANETZKYS (Jena) Beitrag über „The Case of the Two Germanies“, mit welchem er das fünfte und letzte Panel eröffnete, das sich der deutschen Frage im europäischen Rahmen des Jahres 1990 widmete. Die DDR war bekanntermaßen unter den mittel-osteuropäischen sozialistischen Staaten der große Ausnahmefall, da der westdeutsche Staat als Vorbild (je nach politischem Standort auch Feindbild) vor der Haustür lag und die Einheitsfrage für besondere wie singuläre Problemstellungen und Agenden sorgte. Schanetzky legte seinen Focus auf ein bislang unterbelichtetes und damit seiner Meinung nach auch unterschätztes Phänomen im Zuge des Vereinigungsprozesses, nämlich die immensen innerdeutschen Migrationsbewegungen von Ost nach West und ihre große politische Konsequenz in Form des rapiden Vereinigungstempos.

WILFRIED LOTHS (Duisburg-Essen) – aufgrund der Abwesenheit seines Autors – von William Martin (Jena) verlesener Beitrag behandelte die diplomatiegeschichtliche Situierung der deutschen Frage im europäischen Kontext am Beispiel der wichtigen deutsch-französischen Verständigung im Rahmen des Straßburger EG-Gipfeltreffens vom Dezember 1989. Die polnische Perspektive auf die deutsche (Vereinigungs-) Frage erläuterte vor dem breiteren ostmitteleuropäischen Hintergrund auf profunde Weise WŁODZIMIERZ BORODZIEJ, Ko-Direktor des Jenaer Kertész Kollegs. Für Polen sei das deutsche Thema in den Jahren 1989/90 aufgrund der geographischen und historischen Gegebenheiten von anderer Relevanz als für Ungarn oder die Tschechoslowakei gewesen. Diese Konstellation versuchten die kommunistischen Machthaber zu ihren Gunsten auszunutzen - nur eine starke Anbindung an die Sowjetunion würde die polnische Westgrenze garantieren. Allerdings seien (auch) Polens Kommunisten von der Dynamik der Ereignisse in der deutschen Frage völlig überrascht worden, sodass sie selbst in innerpolnischen Diskursen zu völliger außenpolitischer Einflusslosigkeit herabsanken. Die polnischen Reformkräfte dagegen hätten die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung von Anfang an im Blick und das deutsche Recht auf Einheit nie in Frage gestellt, auch wenn Kanzler Kohls dilatorischer Umgang mit der polnischen Westgrenze Ende 1989 für Irritationen in Warschau gesorgt hatte. Der Reformregierung – und den polnisch-deutschen Beziehungen – sei dabei jedoch der innerpolnische Umstand zugutegekommen, dass die Gegner einer konzilianten Haltung entweder, wie die Kommunisten nicht mehr, oder, wie das rechte Lager, noch nicht in der Lage gewesen seien, ihre Ansichten öffentlichkeitswirksam zu ventilieren.
Die Jahrestagung 2015 des Imre Kertész Kollegs brachte bei ihrem Anliegen, nach 25 Jahren auf das „erste Jahr des Übergangs“ historisierend zurückzublicken, vieles zusammen: Forscher unterschiedlicher Disziplinen internationaler Provenienz; verschiedenartigste Ansätze zur zeitgeschichtlichen Thematisierung von der klassischen Diplomatiegeschichte über politik- und sozialhistorische Annäherungen im weitesten Sinne bis hin zur kulturellen Anthropologie; staatliche, wirtschaftliche und nationale Anliegen; impressionistische Momentaufnahmen und weitweisende Analysen; Bemühungen um Vergleich und Zusammenführung sowie resignierender, durch Disparität bedingter Verzicht darauf; empathische Haltungen von Zeitzeugen und Blicke aus der überseeischen Ferne; die diversifizierten und doch in unterschiedlichen Strukturen miteinander verbundenen ostmitteleuropäischen Territorien von Kiew bis Berlin, von Danzig bis Sarajevo; die Marasmen des Staatssozialismus und die unsicheren, doch willensstarken, herausfordernden, doch hoffnungsvollen Neuanfänge; Geschichten und Konstellationen von Erfolg und Scheitern; Finten und Finessen großer Staatsmänner und Alltagsmühen „kleiner Leute“.

Das Anliegen der Konferenz, „die vielfältigen Aspekte und Reaktionen einer Welt in schnellem Übergang im ersten Jahr nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu erforschen“ und dabei auf „Fallstudien aus den Gebieten Politik, Wirtschaft, Geistesgeschichte und Alltagsleben“ zurückzugreifen, nicht zuletzt um „die Anstrengungen der Menschen, mit unerwarteten Herausforderungen umzugehen zu rekonstruieren“, wurde damit auf durchaus nachhaltige Weise erfüllt. Was die in diesem Zusammenhang ebenfalls intendierten Fragestellungen nach den Bedeutungen alter und neuer Werte bzw. Konzepte angeht, so steht außer Zweifel, dass die Tagung sie berührt hat. Vielleicht hätte man jedoch die Referenten (und Kommentatoren) noch eindringlicher auf die Verfolgung dieser Erkenntnisziele hinweisen sollen, wie überhaupt eine stärkere Ausrichtung der individuellen Beiträger auf das gemeinsame Tagungsziel nicht unwillkommen gewesen wäre. Ungeachtet dessen gab es jedenfalls viel zu lernen und zu erfahren über das ostmitteleuropäische Jahr 1990 und seinen Kontext sowie über die Nöte, Hoffnungen, Perspektiven und Handlungen seiner Zeitgenossen. Insbesondere wurde deutlich, dass es – wie in den meisten historischen Situationen – auch im Jahr 1990 keine zwangsläufig vorgegebenen Entwicklungslinien gab, sondern verschiedene Auswahl- und Entscheidungsoptionen, an Herausforderungen und Bedrohungen, an Ängsten und Hoffnungen, an Alpträumen und Visionen. Rechtzeitig gilt es durch interdisziplinäre, komparative, multiperspektivische Forschung dafür Sorge zu tragen, dass der Neuanfang nach dem Ende des Staatssozialismus in künftigen Geschichtsbüchern nicht als stromlinienförmige Geschichte von Unausweichlichkeiten geschrieben wird. In Jena war für Teilnehmer wie für Zuhörer auch zu lernen, wie schwer es gegenwärtig (noch) ist, Geschichte(n) jenes Jahres zu konzipieren, zumindest dann, wenn Stringenz, Vergleichbarkeit und Verallgemeinerung angestrebt werden, ohne das individuell Besondere zu vernachlässigen. Gerade dieser Umstand demonstriert aber nur, wie notwendig es ist, diese Thematik historisierend und vergleichend zu erwähnen. Mit Facettenreichtum untermauerte die Jenaer Tagung auf eindrucksvolle Weise den Anspruch des Imre Kertész Kollegs, einer der Orte zu sein, an denen Geschichte und Geschichten der europäischen Transformationsjahre im 20. Jahrhundert geschrieben werden.

Konferenzübersicht:

Introduction
Keynote Lecture Philipp Ther: Groping in the Dark. Expectations and Predictions 1988-1991
Chair: Włodzimierz Borodziej

Panel 1: An End. Dismantling Communism
Joachim von Puttkamer on Poland; James Krapfl on Czechoslovakia; Ljubica Spaskovska on Yugoslavia.
Comment: James Mark, Chair: Stanislav Holubec

Panel 2: A Beginning. Building Democracy
Michal Kopeček on Central and Eastern Europe; Bogdan Iacob on Romania and Bulgaria; Marie-Janine Calic on Yugoslavia.
Comment: Petr Roubal, Chair: Milan Ristović

Panel 3: Managing Uncertainty. Everyday Lives in Transition
Joanna Wawrzyniak on Poland; Armina Galijaš on Bosnia; Éva Kovács on Hungary.
Comment: Lutz Niethammer, Chair: Attila Pók

Panel 4: Collapse of the Patron. The Impending Dissolution of the Soviet Union
Mary Elise Sarotte on Foreign Policy; Łukasz Adamski on Ukraine.
Comment: Wolfgang Eichwede, Chair: Raphael Utz

Panel 5: A European Solution to the German Question?
Tim Schanetzky on the two Germanies; Wilfried Loth on the European Dimension; Włodzimierz Borodziej on Polish Perceptions and Expectations
Comment: Holly Case, Chair: John Connelly