4. ZeitgeschichtsTage Pragser Wildsee

4. ZeitgeschichtsTage Pragser Wildsee

Organisatoren
Zeitgeschichts-Archiv Pragser Wildsee; Förderverein Zeitgeschichts-Archiv Pragser Wildsee; Südtiroler Landesarchiv (Bozen); Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte an der Freien Universität Bozen; Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin; Lagergemeinschaft Dachau, München
Ort
Prags
Land
Italy
Vom - Bis
03.06.2015 - 05.06.2015
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Von
Mario H. Müller, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Vom 3. bis 5. Juni 2015 fanden in den Südtiroler Alpen am Pragser Wildsee, umrahmt von traumhafter Kulisse, die „4. ZeitgeschichsTage Pragser Wildsee“ statt. Veranstalter und finanzielle Unterstützer waren das Zeitgeschichts-Archiv Pragser Wildsee, der Förderverein Zeitgeschichts-Archiv Pragser Wildsee, das Südtiroler Landesarchiv (Bozen), das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte an der Freien Universität Bozen, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Berlin) sowie die Lagergemeinschaft Dachau (München). Die diesjährige Tagung wurde – wiederum konzipiert von Hans-Günther Richardi – zur Erinnerung an ein bemerkenswertes Ereignis vor 70 Jahren veranstaltet: den Jahrestag der Befreiung von 133 „Sippen- und Sonderhäftlingen“ der SS durch Truppen der deutschen Wehrmacht am 30. April 1945.

Eröffnet wurde die Tagung mit einem Grußwort durch CAROLINE M. HEISS, einer Nachfahrin jener Hotelleiterin, die im Mai 1945 die befreiten SS-Geiseln im Hotel „Pragser Wildsee“ aufgenommen hatte. Im Anschluss daran fand in gelockerter Atmosphäre im Foyer des Hotels ein Gespräch zwischen der Dokumentarfilmerin und Journalistin SYBILLE KRAFFT und dem Zeitzeugen ALFRED VON HOFACKER statt. Sein Vater, Caesar von Hofacker, war am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 in Paris als „führender Kopf“ aktiv beteiligt. Nach dem Scheitern wurde er verhaftet, am 30. August 1944 vor dem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 20. Dezember 1944 in Plötzensee hingerichtet. Alfred von Hofacker berichtete aus persönlichen Erinnerungen über seine eigene Verschleppung – er war damals neun Jahre alt – in das nationalsozialistische Kinderheim in Bad Sachsa, zusammen mit zwei Geschwistern und 43 anderen Kindern von Familien, die am 20. Juli beteiligt waren. Getrennt von seiner Familie und in Unwissenheit über das Schicksal seines Vaters wurde ihm befohlen, seinen Nachnamen nicht zu nennen. Ohne Kenntnis über die Gründe seiner Internierung dauerte es bis zum Januar 1945, bis er wieder Kontakt zu seiner Mutter erhielt. Seine Mutter, sein älterer Bruder und seine Schwester befanden sich unter den Sippenhäftlingen, die die SS in die sogenannte Alpenfestung und dann weiter nach Niederdorf und ins Hotel Pragser Wildsee verschleppte.

Der zweite Tagungstag begann mit einer Andacht des Pfarrers GOTTFRIED BREZGER (Berlin) in der Hotelkirche am Pragser Wildsee. Er erinnerte daran, dass das „Vertrauen auf Gott vielen Häftlingen geholfen hat, nicht zu verzweifeln“. Die Predigt war angefüllt mit Texten von Dietrich Bonhoeffer und Zitaten von ehemaligen SS-Geiseln, die in derselben Kirche nach ihrer Befreiung 1945 auch Andachten abhielten.

Vertreter der verschiedenen Unterstützerorganisationen der Tagung (oben angeführt) sprachen daraufhin begrüßende und dankende Worte. Dabei wurde vor allem die Rolle von Hans-Günter Richardi gewürdigt, der die Aufarbeitung der Geschichte der SS-Geiseln am Pragser Wildsee umfassend vorangetrieben hat und zu den Begründern des „Fördervereins Pragser Wildsee“ im September 2012 zählt.

Das erste Referat von HANS HEISS (Brixen) setzte einige bemerkenswerte Akzente. Dazu gehörte der Hinweis auf die Widersprüchlichkeit des Begriffs der „Befreiung“ in Bezug auf Südtirol. Zwar sei das Ende des NS-Regimes ein Tag der „Befreiung“ im Sinne der Beendigung des Krieges und der Tyrannei gewesen – doch zugleich auch eben jener Moment, in dem sich die italienische Herrschaft über Südtirol neuerlich manifestiert habe und die avisierte Selbstbestimmung endgültig verlorenging. Zudem machte er auf die „Tragödie an der Drau“ aufmerksam, bei der militärische Kosakenverbände, die auf der Seite des Deutschen Reiches kämpften, durch britische Truppen an die Sowjets ausgeliefert wurden. Viele nahmen sich aus Furcht vor der Rache Stalins das Leben, fast alle der übrigen wurden durch sowjetische Standgerichte hingerichtet. Heiss machte anhand dieser Beispiele deutlich, dass Tod (Kosakenhäftlinge in Lienz) und Leben (die befreiten SS-Häftlinge) im Jahr 1945 nahe beieinander lagen.

Die psychologischen Folgen der SS-Geiselhaft untersuchte JÜRGEN MÜLLER-HOHAGEN (Dachau). Zu Beginn wies er darauf hin, dass eine solche Beurteilung immer nur auf den einzelnen Menschen abzielen könne, niemals jedoch auf eine ganze Gruppe. Die wohl verbreitetste und stärkste psychologische Nachwirkung sei das Trauma, das durch verschiedene Ursachen auftreten könne: permanente Todesgefahr, unter der die SS-Geiseln litten; ständige Angst und Unsicherheit, verursacht etwa durch Gewaltandrohung seitens der bewachenden SS- und SD-Truppen; unklare Zukunft und Ungewissheit; Zorn und Wut gegenüber den „Bewachern“, die man jedoch ständig unterdrücken musste, um sein Leben zu schützen. Die meisten Häftlinge verdrängten diese Erinnerungen, schwiegen über das Erlebte und vermochten nur vereinzelt oder mit einem großen zeitlichen Abstand über die Geschehnisse zu reden. Eine weitere Auswirkung der erlittenen Qualen seien Schuld und Schuldgefühle, die durch das Trauma hervorgerufen werden können. Die sogenannte Überlebensschuld steht hierbei nicht in realen Zusammenhängen. Die Opfer suchen die Schuld bei sich selbst und nicht bei dem verantwortlichen NS-System; viele der Überlebenden litten an solchen Schuldgefühlen. Aber auch die positiven Eigenschaften, die den Geiseln halfen, das Martyrium zu überstehen, stellte Müller-Hohagen klar heraus: die Verwurzelung im christlichen Glauben; die Überzeugung, sich gegen das verbrecherische Regime aufgelehnt zu haben; der starke Zusammenhalt der Gruppe.

Den ersten Weggefährten Hitlers, die sich später gegen ihren einstigen „Führer“ stellen sollten, widmete sich EKKEHARD KLAUSA (Berlin). Er schilderte, dass ein Teil des national-konservativen Widerstandes – vor allem des „Stahlhelms“ – dem gleichen Gedankengut verhaftet war wie der Nationalsozialismus selbst: antidemokratisch, antisemitisch, antikommunistisch, antiliberalistisch. Klausa konstatierte, dass der Stahlhelm „eifrigster Mitarbeiter der NSDAP bei der Beseitigung der Weimarer Demokratie“ war. Vor 1933 war es das Ziel dieser Vereinigung, eine gleichberechtigte Koalition mit der NSDAP zu erreichen – nach 1933 trug man die menschenverachtende Gesetzgebung der Nationalsozialisten mit. Gleichzeitig formierte sich aber auch Widerstand, der bis zum 20. Juli 1944 auf einen gewaltsamen Umsturz hoffte. Personenspezifisch stellte Klausa dabei vor allem zwei Akteure heraus: Ferdinand von Lüninck und Siegfried Wagner. Lüninck war zeitweise Vorsitzender des Stahlhelm-Landesverbands Westfalen, bis er 1938 auf Drängen Görings aus diesem Amt ausschied und seit diesem Zeitpunkt aktiv im Widerstand beteiligt gewesen war. Wagner, zeitweiliger Bundeskanzler des Stahlhelms, fand ebenso den Weg in die Opposition, den er am 23. Juli 1944 mit seinem Leben bezahlen sollte. Das Milieu des Stahlhelms war konterrevolutionär und militant, und richtete sich ab 1933 auch gegen die NSDAP. Eine der prägnantesten Figuren, die diese Elemente in sich vereinigte, war Friedrich Wilhelm Heinz, der schon 1938 – vergleichsweise früh – direkt an einem Plan zur Tötung Hitlers beteiligt gewesen war.

Den Europavorstellungen des deutschen Widerstandes galt das Interesse des Vortrags von FRANK-LOTHAR KROLL (Chemnitz). Grob teilte er die wichtigsten Strömungen in zwei Lager ein: zum einen in das des nationalkonservativen Widerstandes (Ulrich von Hassell und Carl Friedrich Goerdeler), zum anderen in das des Kreisauer Kreises (Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg). Kroll verwies darauf, dass es selbstverständlich noch andere Gruppen gab, die intensiv und aktiv an der Beseitigung des NS-Regimes arbeiteten – in Bezug auf ihre Europakonzeptionen aber allesamt den vorangestellten Gruppen zuzuordnen seien: so die militärische Fronde der konservativen Opposition und der sozialistische Widerstand dem Kreisauer Kreis. Die kommunistischen Akteure um Ernst Thälmann hätten keine eigene Europakonzeption vorzuweisen gehabt, da für sie in nahezu allen Fragen die Sowjetunion das Vorbild gewesen sei. Die Ziele des konservativen Widerstands waren (bei Goerdeler) ein Deutschland in den Grenzen von 1914, welches als hegemoniale Ordnungsmacht in Kontinentaleuropa auftreten sollte. Hassell war in gleicher Art bestrebt, eine Revision des Versailles Vertrages zu erreichen, wobei das englische Prinzip der „Balance of Power“ für Europa von einer deutschen Führungsstellung ablöst werden sollte. Daraus folgend sollte eine Zurückdrängung des Kommunismus erreicht werden und gleichzeitig sollten durch die Errichtung eines Großwirtschaftsraums unter deutscher Kontrolle vor allem die südosteuropäischen Staaten stärker in den deutschen Herrschaftsbereich eingebunden werden – allerdings unter ausdrücklicher Beachtung der jeweiligen nationalen Eigenart und der Souveränität der Länder. Die Personen des Kreisauer Kreises hingegen begegneten allen nationalen Bestrebungen mit Abneigung. Sie gingen davon aus, dass das „Nationalstreben“ der Grund allen politischen Übels und damit auch die Ursache für jedweden Krieg sei. Daher strebten sie eine übernationale Allianz, eine Art „europäischen Bundesstaat“ an, der als Oberorganisation über kleine Gemeinschaften wacht, die jeweils mit regionaler Selbstverwaltung ausgestattet sein sollten.

Das Leben und Sterben Dietrich Bonhoeffers sowie seine Botschaft für die Zukunft schilderte GOTTFRIED BREZGER (Berlin). Als prägendsten Erinnerungsort stellte Brezger das Bonhoeffer- Haus in Berlin vor. Des Weiteren skizzierte er den Lebensweg von Bonhoeffer und rezitierte aus seinen Briefen, die jener im Gefängnis verfasst hatte. Brezger legte dabei den Schwerpunkt auf die Zukunftshoffnungen des Widerstandskämpfers und auf seinen christlichen Glauben, in dem er Mut und Hoffnung fand und beides an seine Mitstreiter und an die Nachwelt weitergab.

Über die Sondergerichtsbarkeit in Italien und Südtirol nach der deutschen Besetzung 1943 referierte KERSTIN VON LINGEN (Heidelberg). Nach der deutschen Okkupation wurden dort drei verschiedene Machtbereiche eingerichtet: eine deutsche Operationszone (dem Deutschen Reich angegliedert), ein deutsch „besetztes“ Gebiet und schließlich das von italienischen Truppen unter Mussolini verwaltete Territorium. Frau von Lingen stellte vor allem die im Alpenvorland herrschenden Verhältnisse dar. Dabei machte sie auf den Umstand aufmerksam, dass dort zu jener Zeit drei unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ansässig waren: der italienischsprachige Teil, der deutschsprachige Teil, der 1939 die italienische Staatsbürgerschaft angenommen hatte und jene, die 1939 ins Deutsche Reich emigriert waren. Das von den deutschen Machthabern neu installierte Sondergericht Bozen war bei der Verfolgung vermeintlicher Straftaten besonders aktiv. Als „Vergehen“ gegen die deutsche Ordnung wurden Taten geahndet, wie zum Beispiel: Desertion, Schwarzmarkthandel, Diebstahl, bewaffneter Aufstand oder Wehrdienstverweigerung. Allein wegen dieser politischen Delikte wurden in Bozen 1944 440 und Anfang 1945 200 Personen entweder zu langen Zuchthausstrafen (respektive Konzentrationslager) oder zum Tode verurteilt.

Mit einem Beitrag über den sogenannten Remer-Prozess beendete CAJETAN VON ARETIN (München) die wissenschaftliche Vortragsreihe. Er konstatierte, dass gerade durch den Prozess gegen diesen hochdekorierten Soldaten – Remer war Generalmajor a. D. und Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub – ein positives Bild der militärischen Widerstandskämpfer in der Bundesrepublik installiert wurde. Der ehemalige Führer des Berliner Wachbataillons diffamierte am 3. Mai 1951 bei einer Wahlveranstaltung der rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei – als deren 2. Vorsitzender Remer amtierte – die Widerstandskämpfer des 20. Juli als Hoch- und Landesverräter, die aus dem Ausland bezahlt worden seien. Durch eine Anzeige des Bundesinnenministers Robert Lehr kam es im Mai 1952 vor dem Landgericht Braunschweig zum Prozess, in dem fünf wissenschaftliche Gutachten diskutiert und unterschiedliche Zeugen vernommen wurden. Am 15. März 1952 wurde Remer zu drei Monaten Haft verurteilt, der er sich durch Flucht nach Ägypten entzog. Der Prozess und der Rechtsspruch stießen bei der deutschen Bevölkerung infolge der breiten Berichterstattung durch die Medien auf großes Interesse. Daraufhin änderte sich die Betrachtungsweise der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Widerstandskämpfern im Allgemeinen und dem Umsturzversuch des 20. Juli 1944 im Speziellen. Fortan wurden diese Akteure nicht mehr als „Verräter“ diffamiert, sondern als Streiter für Menschenrechte geehrt.

HANS HEISS (Brixen) konstatierte abschließend den interdisziplinären Charakter der Tagung, der es ermöglichte, das vorgegebene Thema aus dem Blickwinkel verschiedener Fachrichtungen zu erörtern – der Geschichtswissenschaft ebenso wie der Psychologie oder der Rechtswissenschaft. Neben den akademischen Impulsen der Veranstaltung sei auch der erinnernde Aspekt hervorzuheben. Die Tagung bot Zeitzeugen und Hinterbliebenen eine Plattform, auf der sie sich mit den Geschehnissen auf unterschiedliche Art auseinandersetzen konnten.

Konferenzübersicht:

Caroline M. Heiss, Begrüßung und Einführung

Sybille Kraft und Alfred von Hofacker, Als Kind in der Gewalt der SS

Gottfried Brezger (Berlin), Morgenandacht

Begrüßung durch die Veranstalter
Zeitgeschichts-Archiv Pragser Wildsee, Förderverein Zeitgeschichts-Archiv Pragser Wildsee, Südtiroler Landesarchiv (Bozen), Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte an der Freien Universität Bozen, Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Berlin) und Lagergemeinschaft Dachau (München)

Hans Heiss (Brixen), Einführung in die Gedenktagung

Jürgen Müller-Hohagen (Dachau), Das lange Schweigen nach dem Drama. Anmerkungen aus psychologischer Sicht zu den Folgen des Geiseltransports

Ekkehard Klausa (Berlin), Sie kamen aus dem „Stahlhelm“: Frühe Kampfgenossen Hitlers, späte Widerständler. Zur Weltanschauung des „Bundes der Frontsoldaten“

Frank-Lothar Kroll (Chemnitz), Europavorstellungen und europäische Neuordnungspläne im deutschen Widerstand

Gottfried Brezger (Berlin), „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.“ Dietrich Bonhoeffers Weg in den Tod und sein Blick in die Zukunft

Kerstin von Lingen (Heidelberg), Sondergericht Bozen: Besatzungsjustiz gegen Südtiroler, 1943-1945

Cajetan von Aretin (München), Tragische Helden. Der Remer-Prozess 1952 und das Bild des 20. Juli 1944

Hans Heiss (München), Bilanz der Gedenktagung


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