Rituale, Symbole und Willensbildung: Funktionen und Herrschaftspraxis im Spiegel mittelalterlichen Schriftwesens. Kulturhistorische Vergleiche zwischen Europa und Japan

Rituale, Symbole und Willensbildung: Funktionen und Herrschaftspraxis im Spiegel mittelalterlichen Schriftwesens. Kulturhistorische Vergleiche zwischen Europa und Japan

Organisatoren
Seminar für Mittelalterliche Geschichte, Eberhard-Karls-Universität in Tübingen; Abteilung Mittlere Geschichte, Universität Stuttgart
Ort
Tübingen, Karlsruhe, Reichenau, St. Gallen
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.03.2015 - 19.03.2015
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Von
Thomas Wozniak, Mittelalterliche Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Das ambitionierte Konzept dieser Tagung, den Einsatz von Urkunden als Elemente der Legitimation von Herrschaft zu untersuchen, dabei speziell Rituale, Symbole und Willensbildung und deren schriftlichen Niederschlag in den Blick zu nehmen und darüber hinaus den komparatistischen Blick auf das Schriftwesen im mittelalterlichen Japan zu richten, zeigt die in letzter Zeit oft verlangte Offenheit der Diplomatik gegenüber Fragestellungen der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geschichtswissenschaften im Sinne einer umfassenden Kulturgeschichte der Urkunde.

Im ersten Panel, das der Urkundenherstellung und den Empfängern gewidmet war, hob YASUTOSHI SAKAUE (Fukuoka) hervor, dass die Willensbildung der Tang-chinesischen Herrscher in einem dreistufigen System erfolgte, bei der jede Beamtenstufe und auch der Kaiser schriftlich auf der Urkunde Ergänzungen vornahmen. Demgegenüber wurde im bürokratischen Verwaltungssystems Japans der Nara- und Heian-Zeit (8.–12. Jahrhundert), das sich aus dem importierten chinesischen Strafrechtssystem selbstständig weiterentwickelte, die mündlich mitgeteilte Entscheidung des Kaisers (shôsho) nach einer Diskussion durch Beamte vom Schreiber fixiert und vom Kaiser lediglich mit „Pro“ oder einem Namenszeichen gekennzeichnet. Sehr anschaulich wurden diese verschiedenen Stufen der Rituale bei der Genese von Schriftlichkeit in einer Animation der virtuell rekonstruierten kaiserlichen Anlagen präsentiert.

In seinem Vortrag betonte MARK MERSOWSKY (Stuttgart) den großen Anteil der Empfängerüberlieferung bei karolingischen Herrscherurkunden, die allerdings das „Nadelöhr geistlicher Überlieferung“ erhalten. Nachdem er historiographische Zeugnisse zur Urkundenherstellung präsentiert hatte, hob er hervor, dass die Herrscherurkunde weit mehr als nur ein Rechtsdokument ist, da sie aus einem komplexen Gefüge der Realisierung und Konkretisierung von Symbolhandlungen vor Ort und aus auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit beruhenden sozialen Verfahren hervorgeht. Deshalb sind Urkunden sowohl Rechtsinstrumente als auch Herrschaftszeichen und besitzen auch Memorialcharakter. An den unterschiedlichen Phasen der Urkundengestaltung wurde deutlich, dass der Beurkundungsvorgang komplex und mehrstufig.

Im zweiten Panel zu Urkunden und Ritualen im Hochmittelalter machte KAZUKI TAKAHASHI (Tokyo) für die weitere Entwicklung der „Tennō-Dokumente und Rituale im Mittelalter“ deutlich, dass neben der Schrift auch dem Trägermedium Papier eine besondere Rolle zukam. Die Wahrung formaler, an überlieferten Formen orientierter Einheitlichkeit zeichnete das Verwaltungsschriftgut des Kriegeradels wie auch der unteren Schichten aus. Die Beglaubigung wurde durch eine persönliche Signatur der beauftragten Beamten ausgedrückt. Spätere Formen der Dokumente hin zur Briefform gingen auf Veränderungen der Prozeduren beim Abfassen amtlichen Schriftgutes zurück, die zu einer „Dokumentenflut“ im japanischen Mittelalter führten. Im Vortrag wurde das an den, semmyō genannten, protokollierten kaiserlichen Reden deutlich, die teilweise vom Tennō persönlich ins Reine geschrieben wurden und auf gefärbten Papieren höchster Qualität niedergeschrieben wurden. Sie dienten dazu, in Abwesenheit des Tennō dessen Worte wiederzugeben und wurden nach der Verlesung verbrannt, weshalb Textzeugnisse nur noch in hofadeligen Tagebüchern überliefert sind. Demgegenüber dienten die auf grauem Papier und in Briefform verfassten (rinji) und (inzen) den Willensäußerungen des regierenden oder des Ex-Kaisers, die von Höflingen verfasst wurden. Die Prozeduren, die zur Entstehung solcher Schriftstücke führten, konnten an Beispielen der Jahre 1157/1158 konkret nachvollzogen werden.

WOLFGANG HUSCHNER (Leipzig) betonte in seinem Vortrag die Bedeutung der ottonischen Urkunden für die Kommunikation zwischen den Großen des Reiches und dem Herrscher. Dabei spiegelt das „rechtliche Dokument“ Herrscherurkunde als „politisches Dokument“ bi- und multilaterale Beziehungen wider, diente aber auch der Repräsentation von Herrscher, Empfänger und Intervenient. Als „exklusive Dokumente“ kursierten die Einzelstücke nur innerhalb bestimmter Kreise und waren in deren Kommunikationsprozesse integriert. In der äußeren Gestaltung von Empfängerausfertigungen zeigte sich Nähe oder Distanz zum Hof.

Im folgenden Panel zu Briefen und ihren Formen machte MASASHI OGUCHI (Tokyo) in seinem Vortrag klar, dass Briefe in Japan nach der hierarchischen Beziehung zwischen Absender und Empfänger insbesondere nach den verschiedenen Arten von Stilen gegliedert und unterschieden werden: Stil von oben nach unten, Stil von unten nach oben, öffentlicher Stil, Stil des Hofadels und Stil der Kriegerhäuser. Dass in Japan 200 Originalbriefe aus dem 8. Jahrhundert überliefert sind, liegt am großen Skriptorium der Nara-Zeit (710–794), dem Shôsôin („Abtei zur wahrhaftigen Schatzkammer“), in dem die unbeschriebenen Rückseiten vieler privater Briefe zur Abschrift buddhistischer Sutren wiederverwendet wurden. Insgesamt ist in der Praxis eine so starke Vermengung von Öffentlichem und Privatem zu beobachten, dass eine Kategorisierung als rein private oder öffentliche Briefe schwierig erscheint.

KARL BORCHARDT (München) unterschied in seinem Vortrag Briefe von Petrus de Vinea, die nur kurzfristig gültig waren und keinen Rechtscharakter besaßen, von Privilegien und Mandaten. Von den Mustersammlungen (dictamina) im 12./13. Jahrhundert, deren Entstehung Borchardt unter anderem auf Veränderungen der Lebenswelt zurückführt, sind bisher erst wenige ediert. Die Bedeutung dieser Sammlungen liegt in deren späterer Nutzung als Mustertexte, die im 14. und 15. Jahrhundert an den Bildungseinrichtungen gelehrt wurden und in Kanzleien als Formularbehelfe dienten.

Das vierte Panel stand im Zeichen der graphischen Symbole. Der (von Masashi Oguchi vorgetragene) Vortrag von SHOSUKE KOCHI (Tokyo) führte in die faszinierende Welt der graphischen Möglichkeiten der japanischen Schriftzeugen ein. An kaiserlichen Dokumenten mit und ohne Unterschriften wurde die graphische Verschmelzung verschiedener Symbole zu einer Art Monogramm oder Signatur (kaô) erläutert, das im Laufe der Zeit die Funktion einer Unterschrift übernommen hat. Für die Entstehung dieser kursiven und stilisierten Form der kaiserlichen Namensschriftzeichen wurden drei Möglichkeiten vorgestellt. Seit der späten Kamakura-Zeit (1185–1333) sind viele Signaturen von Kaisern überliefert. Diese leiten sich aber nicht von Namenszeichen, sondern von Schriftzeichen ab, welche die eigenen Ideale und Hoffnungen zum Ausdruck brachten (so steht bspw. die „Schildkröte“ für ein langes Leben). Besondere Merkmale verbinden die Signaturen blutsverwandter Kaiser, wogegen es eigene graphische Merkmale, die kaiserliche Signaturen von adeligen absetzen, nicht gegeben hat.

IRMGARD FEES (München) betonte in ihrem Vortrag den Charakter von Urkunden als Medien der Kommunikation. Die Ottonen- und Salierzeit bildete dabei eine Hochphase des Einflusses der Herrscher auf die graphische Gestaltung der Herrscherurkunde. Deren optische Wirkung war neben der Vermittlung des Rechtsinhaltes wichtig und als Repräsentationsmittel wurde die äußere Gestaltung später vom Adel imitiert. Im Vortrag wurde der Wandel der einzelnen graphischen Zeichen (Monogramm, Chrismon, Subskriptionszeichen etc.) zwischen dem Anfang des 10. Jahrhunderts und dem Anfang des 12. Jahrhunderts bis zu ihrer Erstarrung bzw. ihrem gänzlichen Verschwinden gezeigt.

Im Anschluss an die acht Fachvorträge folgte eine Diskussion mit fünf kurzen Impulsreferaten, die teilweise die bisherigen Vortragsergebnisse zusammenfassten, teilweise eigene Anregungen für künftige Forschungswege in die Debatte einbrachten.

ATSUSHI OKAZAKI (Fukuoka) hob in seinem Beitrag hervor, dass die Kaiser in Japan wie Europa in ihren Dokumenten mit Erscheinungen am Grenzbereich zu großen Reichen (Byzanz, China) umzugehen hatten, was sich in ihrem Umgang mit Schriftlichkeit widerspiegelt.

ELLEN WIDDER (Tübingen) sprach „aus der Zukunft“, indem sie viele wichtige Impulse des spätmittelalterlichen europäischen Kanzleiwesens mit in die Diskussion einbrachte. Am Beispiel einer Urkunde Heinrichs VII. wurde deren rituelle Einbindung dadurch greifbar, da es andere Urkunden über die genauen Umstände des Eids der unterworfenen Bürger von Brescia berichteten. Ein zweites Beispiel machte die „Belehnung als Ritual“ anhand einer Abbildung aus einem Lehnbuch sehr konkret sichtbar.

OSAMU KANO (Nagoya), der seine Ergebnisse auf Deutsch vortrug, versuchte die Ergebnisse der acht Fachvorträge hinsichtlich der Elemente (Zeit, Raum, Teilnehmer) zu vergleichen und unterteilte die Rituale in drei Phasen: 1) bis zur Verschriftlichung, 2) Übergabe der Urkunde, 3) nach der Übergabe. Da in Japan dem im Tempel vollzogenen Dank für eine Urkunde in Phase 3 besondere Bedeutung zukam, könnte es sich künftig lohnen, „die Sakralität der Urkunden“ zu vergleichen.

MARKUS RÜTTERMANN (Kyōto) machte anhand einiger hypothetischer Überlegungen deutlich, welchen Pendants die Übernahme der chinesischen Schrift und Verwaltung durch die Japaner im 7. Jahrhundert in Europa entsprächen. Er machte zudem auf die Problematik japanischer Forschungsgruppen untereinander aufmerksam, die bei Interpretationen stark in die Traditionen konkurrierender Fachschulen eingebunden sind, die einer unvorbelasteten Forschung oft im Wege stünden.

ANJA THALLER (Stuttgart) verlieh dem „choc par les documents“ Ausdruck, der bei der Erstbegegnung mit Originalen auftreten kann und verdeutlichte damit, wie der persönliche Eindruck vieler europäischer Teilnehmer angesichts des andersartigen japanischen Materials gewesen ist. Sie betonte, dass die Frage nach der Funktion von Dokumenten über die Untersuchung des Verhältnisses der unterschiedlichen Kommunikationsarten führt, immer unter Berücksichtigung, dass die Texte konstruierte Kommunikationsarten nur einen „gefilterten“ Zugriff auf die außertextuelle Wirklichkeit zulässt.

In der weiteren allgemeinen Diskussion betonte Mark Mersiowsky abschließend, dass sich die Chancen der Tagung gerade in der Auseinandersetzung und nicht im Konsens boten. Nach zwei Tagen theoretischer Erörterungen folgten zwei Tage Archivbesuche. Im Generallandesarchiv in Karlsruhe mit dem Bestand des Klosters Reichenau wurde die Gruppe von KURT ANDERMANN (GLA Karlsruhe) geführt. Die Aufmerksamkeit galt neben den handschriftlichen Zeugnissen des Archivs auch den baulichen Aspekten, weil es in Japan keine dem europäischen System vergleichbare Institutionalisierung von Archiven gibt. Bei der Betrachtung von echten, ver- und gefälschten Urkunden der Karolingerzeit, wurde deutlich, dass in Bezug auf die technische Realisierung von Editionen jede Zeit ihre Möglichkeiten nutzen sollte.

Beim Besuch in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe ging es um karolingische Fragmente, die von ANNIKA STELLO (BLB Karlsruhe) zur Verfügung gestellt wurden. So wurde eine Liste von Personen gezeigt, die gegen eine Urkundenbestimmung verstoßen hatten und entsprechend Strafbeträge zahlen mussten; darüber hinaus frühmittelalterliche Brieffragmente aus dem Reichenauer Bestand.

In St. Gallen setzte PETER ERHART (Stiftsarchiv St. Gallen) Privaturkunden aus dem 9. Jahrhundert, die bereits zeitnah zerschnitten worden waren, vor den Augen der Gäste wieder zu einem Rotulusfragment zusammen. Eine karolingische Herrscherurkunde, die nicht weniger als vier Monogramme enthält, versetzte nicht nur außereuropäische Diplomatiker in Staunen. Das Interesse der papieraffinen Forscher aus Japan galt auch der Faltung des Schriftgutes aus Pergament.

In der Stiftsbibliothek von Sankt Gallen führte KARL SCHMUKI (Stiftsbibliothek St. Gallen) in den ehemaligen Aufbewahrungsraum der Handschriften. Die Originalschränke sind zwar mit modernen Archivalien gefüllt, aber der Raum als solcher ist in mehrfacher Hinsicht sehenswert. Im modernen Lesesaal der Bibliothek standen dann spätantike und frühmittelalterliche Fragmente im Fokus des Interesses. Den Abschluss bildete ein königlicher Brief Karls des Großen, der im Schneeballprinzip verbreitet worden war und sich in einer zeitgenössischen Abschrift erhalten hatte. Gerade im Vergleich mit der reichen japanischen Überlieferung wurde anhand solcher Fragmente wieder einmal der Überlieferungsverlust für die Dokumente der Karolingerzeit deutlich.

Abschließend muss die ungeheure Leistung der drei Übersetzer – Takuro Tsuda (Aichi Prefectural University, Nagakute), Shigeto Kikuchi (The University of Tokyo) und Markus Rüttermann – betont werden, da es nicht nur um unterschiedliche Bezeichnungen, sondern völlig andere Sinnzusammenhänge ging. Um die bei dieser Tagung entstandenen Impulse und Ergebnisse weiteren Kreisen zugänglich zu machen, werden die Tagungsakten zeitnah auf Japanisch und auf Deutsch veröffentlicht werden.

Konferenzübersicht

Begrüßung und Einführung
Klaus Antoni (Prodekan der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen): Begrüßung
Shosuke Kochi (Hosei University, Tokyo): Begrüßung
Steffen Patzold (Tübingen): Einführung
Ellen Widder (Tübingen): Einführung

1. Sektion: Urkundenherstellung und Empfänger

Yasutoshi Sakaue (Kyushu University, Fukuoka): Urkunden und mündliche Übermittlung im japanischen Altertum: Geschäftsführung und Befehlsgebung

Mark Mersiowsky (Stuttgart): Aussteller und Empfänger in der Karolingerzeit

2. Sektion: Rituale, Aussteller und Empfänger

Kazuki Takahashi (Musashi University, Tokyo): Tennō-Dokumente und Rituale im Mittelalter

Wolfgang Huschner (Leipzig): Aussteller-Empfänger-Relationen ottonischer Herrscherurkunden

3. Sektion: Briefe

Masashi Oguchi (Hosei-University, Tokyo): Die Genealogie privater Briefe im japanischen Altertum

Karl Borchardt (Monumenta Germaniae Historica, München): Die nach Petrus de Vinea benannten Mustersammlungen (13. Jahrhundert) und ihre Bedeutung für die spätmittelalterliche Staatlichkeit

4. Sektion: Graphische Symbole

Shosuke Kochi (Hosei University, Tokyo): Dokumente des Kaiserhofs und kaiserliche Privatdokumente

Irmgard Fees (München): Graphische Symbole in ottonischen und salischen Herrscherurkunden

5. Round table: Rituale, Symbole und Willensbildung: Funktionen und Herrschaftspraxis im Spiegel mittelalterlichen Schriftwesens

Atsushi Okazaki (Kyushu University, Fukuoka)
Ellen Widder (Tübingen)
Osamu Kano (Nagoya University)
Markus Rüttermann (International Research Center for Japanese Studies, Kyōto)
Anja Thaller (Stuttgart)

6. Workshop Karlsruhe: Bestand des Klosters Reichenau

Kurt Andermann (Generallandesarchiv Karlsruhe), Mark Mersiowsky (Stuttgart): Archivwesen und Urkundenfonds im Generallandesarchiv Karlsruhe

Annika Stelle (Badische Landesbibliothek Karlsruhe), Mark Mersiowsky (Stuttgart): Mittelalterliche Briefe und anderes Schriftgut aus der Reichenauer Bibliothek

7. Workshop St. Gallen: Bestand des Klosters St. Gallen

Peter Erhart (Stiftsarchiv St. Gallen), Mark Mersiowsky (Stuttgart): Archivwesen und Urkundenfonds im Stiftsarchiv St. Gallen

Karl Schmuki (Stiftsbibliothek St. Gallen), Mark Mersiowsky (Stuttgart): Mittelalterliche Briefe aus der Stiftsbibliothek St. Gallen


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