30 Jahre Demokratiedenkschrift. Eine akademische Geburtstagsfeier

30 Jahre Demokratiedenkschrift. Eine akademische Geburtstagsfeier

Organisatoren
DFG-Forschergruppe 1765 "Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland"; Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Schieder, Institut für Öffentliches Recht, Universität Göttingen

Vom Theologen Wolfgang Trillhaas ist der Satz überliefert, „dass die Demokratie für sie [die lutherische Staatslehre] das eigentlich unbewältigte Thema darstellt“.1 Seither wurde im westdeutschen Protestantismus viel Energie darauf verwendet, die demokratische Staatsordnung theologisch zu verarbeiten und in theologische Staatsdeutungen zu integrieren. Ein Zeugnis dieser theologischen Verarbeitung und Aneignung der normativen Prämissen des liberalen Staates stellt die sogenannte „Demokratiedenkschrift“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dar.2 Die Veröffentlichung der Denkschrift im Jahre 1985 liegt nunmehr 30 Jahre zurück. Grund genug, zu einer „akademischen Geburtstagsfeier“ einzuladen, um Vorgeschichte, Entstehungsgeschichte sowie Kontexte und Wirkungen der Denkschrift in den Blick zu nehmen.

REINER ANSELM (München) nahm zum Auftakt die theologische Langzeitperspektive in den Blick. Er stellte die bestimmenden theologischen Figuren zur Staatsdeutung von der Reformation bis heute vor. Dabei machte er deutlich, welche Neudeutungen und Akzentverschiebungen notwendig waren, um die Besonderheiten einer demokratischen Staatsform theologisch überhaupt zu erfassen. Trotz des zunächst obrigkeitskritischen Anspruchs der Reformatoren gegenüber Papst und Kaiser waren sie von Anfang an auf die Unterstützung durch die Landesherren angewiesen. Die Fürsten gewährten Schutz nach außen und konnten administrative Strukturen bereitstellen, die eine Kirchenorganisation erst möglich machten. Das führte zu einer engen Verbindung von Obrigkeit und Kirche. Die Rückwirkungen dieser äußeren Umstände auf die Theologie sind nicht zu übersehen. Der Fürst wurde als von Gott eingesetzte Obrigkeit gesehen, der Ordnung herstellen und erhalten sollte. Ihm war man, solange er seine Ordnungsfunktion erfüllte, uneingeschränkt Gehorsam schuldig. Die Vorstellung einer von Gott gewollten und von ihm eingesetzten Obrigkeit zur Erhaltung der Ordnung war besonders mit autoritären Staatsformen kompatibel. Zwar wurde der Kirche und den Theologen, als so genanntem „ersten Stand“ in der reformatorischen Ständelehre, eine starke Korrekturfunktion gegenüber der Obrigkeit zugebilligt, die Bürger, der „dritte Stand“, kamen aber stets zu kurz. Nicht von ungefähr besitzt der von Edmond Vermeil formulierte Dreischritt: Luther – Bismarck – Hitler eine gewisse Plausibilität. Nicht wenige Protestanten sahen im „Führer“ anfangs die Verkörperung der gottgewollten und von Gott eingesetzten Obrigkeit. Nach 1945 war klar, dass die Traditionsbestände des protestantischen Staatsverständnisses überdacht werden mussten. Zunächst richtete sich die Kritik noch gegen vermeintliche Eigengesetzlichkeiten, in welche man den Staat infolge der lutherischen zwei-Regimente-Lehre entlassen zu haben glaubte. Bald wurde jedoch klar, dass das eigentliche Problem die Sakralisierung der Obrigkeit und die unkritische Vorstellung dieser Obrigkeit als Bollwerk gegen die Sündhaftigkeit des Menschen war. Es war allerdings nicht leicht, diejenigen Traditionsbestände freizulegen, die eine nüchternere Deutung der Obrigkeit zuließen und den Staatsbürger in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken konnten. Eine gewisse Brückenfunktion nahm die Barmer Theologische Erklärung aus dem Jahre 1934 ein, indem sie einer allzu unkritischen Sakralisierung des Staates entgegentrat und die Reichweite staatlicher Macht auf das Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens zu begrenzen suchte. Langsam erinnerte man sich an diejenigen reformatorischen Traditionsbestände, die egalitäre Elemente in sich trugen. Drei zentrale Neudeutungen ermöglichten schließlich die theologische Aneignung demokratischer Grundprinzipien in der Demokratiedenkschrift. Man verabschiedete sich zunächst von der Vorstellung, wonach allein die Obrigkeit den Schutz gegen die Sündhaftigkeit der Menschen darstellt und betonte, dass sich Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit auch auf die Obrigkeit beziehen, was ein System der ‚checks and balances‘ nötig macht. Zudem wurde die Legitimation des Staates nicht mehr rein funktional zur Abwehr von Sünde und Chaos konstruiert. Vielmehr wurde die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte in den Mittelpunkt gerückt. Schließlich wurde die Lutherische Berufsethik herangezogen, um die politische Partizipation in der Demokratie als Beruf aller Bürger zu beschreiben. Interessanterweise spielte der im Rahmen des anstehenden Lutherjahres so stark betonte Freiheitsbegriff in den skizzierten theologischen Auseinandersetzungen kaum eine Rolle. Er wurde immer noch durch den starken Ordnungsgedanken eingefangen.

Die innerprotestantische Debatte um das Staatsverständnis und die Aneignung der Demokratie hatte stets auch eine gesamtdeutsche Komponente. Hierauf wies CLAUDIA LEPP (München) in ihrem Vortrag hin. Der EKD, die sich bis 1969 als letzte gesamtdeutsche Institution verstand, sah sich stets mit der Tatsache konfrontiert, dass Christen nicht nur in der freiheitlichen Demokratie Westdeutschlands lebten, sondern auch im deutlich weniger freiheitlichen System der DDR. Die Äußerung einer klaren Präferenz für ein System war vor diesem Hintergrund problematisch. Die „10 Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“ der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR und die „Sieben Sätze von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ vom staatsnahen Weißenseer Arbeitskreis aus dem Jahre 1963 spiegeln die Schwierigkeiten einer theologischen Positionsbestimmung gut wieder. Im Vorfeld der Veröffentlichung der Demokratiedenkschrift wurden Bedenken laut, die klare kirchliche Äußerung zugunsten der bundesrepublikanischen Staats- und Gesellschaftsordnung könnte negative Rückwirkungen auf die Kirchen in der DDR haben. In Gesprächen mit Vertretern der Kirchen in der DDR äußerste sich etwa Jürgen Schmude vor der Veröffentlichung der Demokratiedenkschrift sehr vorsichtig. Er betonte, dass die Bejahung der Staatsform keine Bejahung der jeweiligen Regierung bedeute und die Denkschrift eine bundesdeutsche Momentaufnahme darstelle. Von Theologen in der DDR wurde die Forderung nach einer Äquidistanz der Kirchen zu beiden deutschen Staaten laut. In den Weißenseer Blättern wurde polemisiert: „FDGO als Bekenntnis der EKD?“. Der Vorwurf der Sakralisierung einer Staatsform stand so im Raum. Spätestens mit der Wiedervereinigung traten die unterschiedlichen Prägungen des theologisch-ethischen Denkens in Ost und West offen zu Tage. Hatte man im Westen mit der Demokratiedenkschrift einen Weg gefunden, die grundgesetzliche Demokratie positiv anzunehmen und zur Beteiligung an ihr aufzufordern, stellten sich die ostdeutschen Landeskirchen nie explizit auf den Boden der Denkschrift, um eine kritische Distanz zum Staat beizubehalten.3

Nachdem der theologische und weitere historische Rahmen für die Denkschrift abgesteckt war, konnte HANS MICHAEL HEINIG (Göttingen) von der Entstehung der Denkschrift in der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD berichten. Schon 1978 war die Kammer vom Rat beauftragt worden, „das Problem der staatlichen Gewalt in unserem Zeitalter“ zu bedenken. Als Trutz Rendtorff 1980 den Vorsitz der Kammer übernahm, versuchte er den Ratsauftrag in eine umfassendere „Studie zum Staatsverständnis“ zu verwandeln und machte es sich zum Ziel, Grundlegenderes zum demokratischen Verfassungsstaat und seinen Institutionen vorzubringen. Die Kammerarbeit blieb von den politischen Debatten der frühen 1980er-Jahre nicht unberührt. Eine starke Fraktion in der Kammer wollte die aktuellen politischen Streitfragen, wie etwa Risiken technologischen Fortschritts (Atomfrage), Umweltfragen, Wirtschaftsordnung neuen politische Beteiligungs- und Demonstrationsformen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Trotz der teils heftig geführten Kontroversen konnte dem Rat der EKD im Juli 1985 ein erster Entwurf der Denkschrift vorgelegt werden. Einige Mitglieder der Kammer hegten allerdings noch schwere Vorbehalte gegen den Text. Sie spielten mit dem Gedanken, ein Sondervotum zu verfassen, in welchem „schwere Gefährdungen der Demokratie und des Friedens“ sowie der Freiheit und Lebensmöglichkeit zukünftiger Generationen durch Nachrüstungspolitik, Atomenergie und den technologischen Fortschritt betont werden sollten. Nach dieser Ankündigung beschloss die Kammer, den Text der Denkschrift noch einmal zu überarbeiten und die Anliegen der ‚Dissenter‘ zu integrieren. Eine detaillierte Analyse der hierbei vorgenommenen Änderungen zeigt, dass der Text in der Grundanlage kaum verändert wurde. Kleine Akzentverschiebungen machten den Text schließlich auch für die ‚Dissenter‘ zustimmungsfähig. Die Akzentverschiebungen betrafen insbesondere die Erwähnung von Aktionen zivilen Ungehorsams und die Anerkennung der Motive der so Protestierenden. Dass, wer zivilen Ungehorsam übt, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen hat, wurde bei allem Verständnis für den Protest aber deutlich herausgestellt. Die Kontroversen in der Kammer bündelten die großen gesellschaftlichen Debatten der ersten Jahre der Kanzlerschaft Kohls wie in einem Brennglas.

ANDREAS BUSCH (Göttingen) nahm das Demokratieverständnis der Denkschrift aus politikwissenschaftlicher Sicht unter die Lupe. Er las die Denkschrift vor dem Hintergrund moderner Demokratietheorien und bewertete sie. Sein Urteil: Die Denkschrift bewegt sich weitgehend in staatsrechtlichen, weniger in politikwissenschaftlichen Kategorien. Sie enthält konzise Beschreibungen und Positionierungen. Jede Landeszentrale für politische Bildung könnte die Denkschrift bedenkenlos in ihr Programm aufnehmen. Die Anerkennung demokratischer Verfahren und die klare Einordnung inhaltlicher, religiös begründeter Forderungen in den demokratischen Prozess sind durchaus bemerkenswert. Kritisch merkte Busch an, dass der Text an einigen Stellen das eigene Reflexionsniveau unterschreite. Beispielsweise wird recht pauschal Kritik an den etablierten Parteien geübt und ein Politikerbild transportiert, das eher einem Parlamentsideal des 19. Jahrhunderts als der modernen Parteiendemokratie angemessen erscheint. Zudem wird das demokratische System bisweilen mit übersteigerten Gerechtigkeitserwartungen belastet, was die Gefahr mit sich bringt, dass, sollten die Erwartungen verfehlt werden, ein Scheitern des Systems statt eines Scheiterns der Regierung konstatiert werden kann.

Wie die Eröffnung, so gehörte auch der Abschluss einem Theologen. ROGER MIELKE (Hannover) berichtete aus dem Kirchenamt der EKD in Hannover, wo er den Posten des Geschäftsführers der Kammer für öffentliche Verantwortung innehat. Mielke hatte wie Heinig einen genaueren Blick auf die Entstehung der Denkschrift geworfen, aber die Quellen besonders im Hinblick auf die Bestimmung des Ortes der Kirche im demokratischen Staat ausgewertet. Hierbei stellte er fest, dass in der Demokratiedenkschrift die Rolle der Kirche als Institution fast völlig ausgeblendet wurde. Die Bejahung der liberalen Demokratie in der Denkschrift wurde in erster Linie über die Beschreibung des einzelnen Christen in der Demokratie und seine Rolle als zur Mitwirkung aufgerufener Staatsbürger konstruiert. Ältere Denkfiguren, welche der Kirche als Institution eine wichtige Legitimations- und Kontrollfunktion zuwiesen, wurden nicht einmal erwähnt. Die Demokratiedenkschrift nimmt im Bereich kirchlicher Schriften damit eine Sonderstellung ein. Besonders deutlich wird das, wenn man spätere Schriften der EKD betrachtet, wie etwa das gemeinsame Wort des Rates der EKD mit der deutschen Bischofskonferenz „Demokratie braucht Tugenden“ (2006) oder die Erklärung des Rates der EKD zu „Christentum und politische Kultur“ (1997). Diese Verlautbarungen legen sehr viel Wert auf die Betonung der prägenden Kraft des Christentums für die Grundwerte des Staates. Nach Mielkes Dafürhalten war die starke Betonung des Eigenwertes des demokratischen Prozesses unter Zurückstellung inhaltlicher Positionierungen in der Demokratiedenkschrift vor allem deshalb möglich, weil die politischen und gesellschaftlichen Konflikte in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre mit großer Härte ausgetragen wurden und die Gräben mitten durch die Kirchen liefen. Nur vor diesem Hintergrund, so seine These, war eine Positionierung zur grundgesetzlichen Demokratie in der Form der Demokratiedenkschrift möglich. Bei dieser Analyse blieb Mielke nicht stehen, sondern hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für eine theologische Neubestimmung des Ortes der Kirche in der Gesellschaft, für den Entwurf einer „politischen Ekklesiologie“. Nur so könnten auch die theologischen Kategorien entwickelt werden, um angemessene Antworten der Kirche auf aktuelle Herausforderungen zu ermöglichen.

Die Tagung machte deutlich, dass die evangelische Theologie den Staat in ganz eigenen Kategorien deutet und hierbei einen vielfältigen Traditionsbestand zu berücksichtigen hat. Die Forderungen liberaler Demokratie in theologische Kategorien aufzunehmen und produktiv zu verarbeiten ist keine leichte Aufgabe. Die „Aneignung der normativen Grundlagen des liberalen Staates unter eigenen Prämissen“4 ist der evangelischen Kirche mit der Demokratiedenkschrift 1985 durchaus gelungen. Diese Errungenschaften bleiben aber stets bedroht. Theologische Deutungen bleiben umstritten. Die Anerkennung des Eigenwertes demokratischer Verfahren unabhängig von inhaltlichen Forderungen ist vor dem Hintergrund des Universalitätsanspruches der Religionen der wohl heikelste Punkt.

Konferenzübersicht:

Reiner Anselm (München): Demokratie und Protestantismus in theologischer Langzeitperspektive

Claudia Lepp (München): Die demokratische Ordnung als Gegenstand des deutsch-deutschen Kirchendialogs

Hans Michael Heinig (Göttingen): Die Entstehung der Demokratiedenkschrift - Einsichten aus der Archivarbeit

Andreas Busch (Göttingen): Das Demokratieverständnis der Denkschrift aus politikwissenschaftlicher Sicht

Roger Mielke (Hannover): Politische Ekklesiologien. Theologische Diskurse um den Ort der Kirchen im demokratischen Staat und die Demokratiedenkschrift von 1985

Anmerkungen:
1 Wolfgang Trillhaas, Die lutherische Lehre von der weltlichen Gewalt und der moderne Staat, in: Hans Dombois / Erwin Wilkens (Hrsg.), Macht und Recht, Berlin 1956, S. 22-33, hier S. 26.
2 Kirchenamt der EKD [Hrsg.]: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh 1985.
3 Kritisch resümierend: Jürgen Schmude, Unser Glaube mischt sich ein. Demokratie als Angebot und Aufgabe, Vortrag vom 28.10.1999, <https://www.ekd.de/vortraege/1999/schmude1.html> (01.03.2016).
4 Jürgen Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte, in: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, 258-278, hier 268; Vgl.: Hans Michael Heinig, Protestantismus und Demokratie, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 60 (2015), S. 227-264, hier S. 232ff.


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