Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte, Kultur, Erinnerung

Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte, Kultur, Erinnerung

Organisatoren
Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östliche Europa (BKGE) in Oldenburg; Deutsches Historisches Museum (DHM) in Berlin; in Zusammenarbeit mit dem Historischen Institut der Universität Stuttgart, dem Institut für Germanistik der Universität Breslau / Wrocław und der Juniorprofessur für die Kunstgeschichte Ostmitteleuropas am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der Technischen Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.03.2016 - 10.03.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Marco Bogade, Akademie Mitteleuropa e.V., Bad Kissingen

Das reformatorische Geschehen veränderte das politische und konfessionelle Gefüge in Europa tiefgreifend. Es wirkte sich auf die Reiche und Territorien ebenso aus wie auf die Regionen, Städte und Herrschaften. Die lutherische (und vorlutherische) Reformation und die personellen „reformatorischen Netzwerke“ erstreckten sich mit bis heute wirksamen Folgen auch auf das östliche und südöstliche Europa: als städtisches Phänomen zeigt sich bereits sehr früh der reformatorische Einfluss aus Wittenberg in den 1520er-Jahren etwa in der Stadt Breslau oder in den livländischen Städten Dorpat / Tartu, Riga / Rīga und Reval / Tallinn. Mit den frühen Kirchenordnungen im Herzogtum Pommern (1535) oder in Siebenbürgen (1547) kam es zu regionalen Konsolidierungen. Anders in Böhmen und Mähren; dort fassten die reformatorischen Ideen Martin Luthers im Vergleich zu anderen Städten und Regionen erst relativ spät und unter Vorbehalt Fuß – sah man doch Vieles bereits durch Johannes Hus (gest. 1415) und seine „böhmische Reformation“ vorweggenommen.

Die vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östliche Europa (BKGE) in Oldenburg und dem Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Historischen Institut der Universität Stuttgart, dem Institut für Germanistik der Universität Breslau / Wrocław und der Juniorprofessur für die Kunstgeschichte Ostmitteleuropas am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der Technischen Universität Berlin veranstaltete Tagung konzentrierte sich genau auf diese, in den spezifischen Disziplinen oft sehr gut bearbeiteten, in der Wissenschaftsgemeinschaft ebenso wie in der kirchlichen und allgemeinen Öffentlichkeit jedoch oft unterrepräsentierten und wenig bekannten Regionen in Europa.

WINFRIED EBERHARD (Leipzig) verglich in seinem Eröffnungsvortrag die Königreiche Polen, Böhmen und Ungarn als „Rezeptionsregionen“ der Wittenberger Reformation, wobei der Adel bzw. die Magnaten, zum Teil auch die Städte, – oft in Opposition zum Landesherren – im Rahmen der Ständegesellschaften die jeweils entscheidende Rolle spielten. Es entwickelten sich konfessionelle Pluralitäten, die in sich am stärksten in Böhmen auch wieder zusammenfanden. Die zunehmend antiklerikale Gesinnung des Adels führte in Polen letztlich zu einem „friedlichen Scheitern“ der Reformation, das in Böhmen deutlich gewaltsamer vonstattenging. Konfessionelle Kontinuitäten lassen sich, als Teil der Ständefreiheit, in Ungarn beobachten.

Dem Mit- und Gegeneinander der Bekenntnisse im östlichen Europa widmete sich der erste Tagungsschwerpunkt. MATTHIAS WEBER (Oldenburg) differenzierte am Beispiel der Religionsfrieden von Augsburg (1555 für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation), Kuttenberg (1485 für Böhmen), Thorenburg (1568 für Siebenbürgen), Warschau (1573 für Polen-Litauen) und dem Majestätsbrief Rudolfs II. (1609 für Böhmen und Schlesien) die konfessionellen Wahl(un)freiheiten in Abhängigkeit von den spezifischen sozialen Ständesystemen. Religionsfrieden entspringen dabei einem staatlich-administrativen Pragmatismus, der vor allem die in den Landtagen dominanten Konfessionen privilegierte. EDITH SZEGEDI (Klausenburg / Cluj-Napoca) versuchte eine Analyse der komplexen Beziehungsgeschichte von Reformierten bzw. Unitariern zu Wittenberg im Siebenbürgen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Akteure dieser „radikaleren“ Reformationsgruppen agierten dabei auch auf der Gemeindeebene sehr individuell; übergeordnete kirchliche Strukturen etablieren sich eher zögerlich. Am Beispiel von antilutherischen polemischen Schriften des 16. Jahrhunderts in Polen-Litauen (vor allem Stanislaus Hosius), Böhmen (vor allem Tomáš Bavorovský, Johann Hasenberg) und Siebenbürgen (vor allem Jakob Wujek) diskutierte KOLJA LICHY (Gießen) die Frage, ob Luther letztlich nicht als Katalysator für die katholischen Reformbestrebungen fungiert habe.

Den zweiten Tagungsschwerpunkt zum Verhältnis von Nation und Konfession im östlichen Europa in der Zeit der Konfessionalisierung leitete HANS-JÜRGEN BÖMELBURG (Gießen) mit einem Vortrag über die nationale Zuschreibung und kulturelle Positionierung der Lutheraner im 17. und 18. Jahrhundert in Polen-Litauen ein. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Lutheraner, im Unterschied zu den Reformierten, in der polnisch-litauischen Gesellschaft eher ausgegrenzt waren und kaum Einfluss hatten. Erste Anzeichen für ein „deutsches Nationalbewusstsein“ dieser sozialen und konfessionellen Minderheit seien erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in Danzig zu beobachten. EVA KOWALSKA (Pressburg / Bratislava) erörterte die konfessionelle Beziehungsgeschichte im Königreich Ungarn des 17. und 18. Jahrhunderts; eine Abgrenzung der Lutheraner und Reformierten und damit einhergehende Anklagen und Reversen entsprachen dabei der jeweiligen machtpolitischen Gemengelage.

Sprache und Literatur als Kommunikationsmedien standen im Mittelpunkt der dritten Sektion. ANJA RASCHE (Speyer, Lübeck) betonte, mit Fokus auf die Reformation im Hanseraum, die Relevanz der personenbezogenen Netzwerkforschung – Kaufleute traten in den Städten auch als politische Akteure auf – und die Bedeutung des Buchs als transregionales Medium des Ideentransfers. Zur Zeit der Konfessionalisierung stellten Bücher in einigen Regionen gleichsam einen Ersatz für eine fehlende kirchliche bzw. konfessionelle Anbindung der „Kryptoprotestanten“ dar. Der Zugang zu protestantischen Büchern war – unter anderem auch durch Bücherschmuggel – mittels der engen persönlichen Netzwerke auch immer gewährleistet, wie JOACHIM BAHLCKE (Stuttgart) in seinem Vortrag aufzeigte. Das Augsburger Interim Kaiser Karls V. wurde im 16. Jahrhundert in Polen unterschiedlich rezipiert, wie MACIEJ PTASZYŃSKI (Warschau / Warszawa) herausstellte. Während der Theologe Stanislaus Hosius die Handlungsräume, die die Verordnung den Protestanten einräumte, kritisierte, sah der Humanist Andreas Fricius Modrevius im Interim eine Möglichkeit der Ökumene. In seinem Beitrag zur Situation der lutherischen Glaubensflüchtlinge aus Österreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts stellte PÉTER ÖTVÖS (Szeged) fest, dass die Exulanten nicht zur konfessionellen Einigung in Ungarn beitrugen, wo eher die Tendenz zum Calvinismus vorherrschte.

Den visuellen Medien und der Architektur als Kommunikationsmedien galt der vierte Schwerpunkt der Tagung. GRAŻYNA JURKOWLANIEC (Warschau / Warszawa) zeigte am Beispiel von illustrierten Bibeln und Katechismen des 16. Jahrhunderts in Polen, dass ikonografische Sujets – zum Teil in Variationen – interkonfessionell verwendet wurden und Bildtypen nur bedingt als identifikationsrelevant für die jeweilige konfessionelle Ausrichtung festzumachen sind. KRISTA KODRES (Reval / Tallinn) untersuchte die Transfergeschichte reformatorischer Ideen am Beispiel von Architektur und Altären des 16. Jahrhunderts im Baltikum. Die Kunsthistorikerin stellte fest, dass eine konfessionsspezifische Architektur im östlichen Ostseeraum, auch bei einer sekundären Nutzung ehemals katholischer Kirchengebäude, nicht sehr ausgeprägt war. Eine „protestantische Interieurgestaltung“ (ein Hauptaltar im Ostchor, Kanzel am Triumphbogen), die zum Teil aus der Transformation vorhandener Ausstattung hervorging, etablierte sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts. JAN HARASIMOWICZ (Breslau / Wrocław) gab einen Überblick über den protestantischen Kirchenbau in Ostmitteleuropa bzw. in Schlesien, der sich mit der zunehmenden Etablierung des Protestantismus im Spannungsfeld von Neubau, Umbau (zum Beispiel Greiffenberg / Gryfów Śląski aus der Mitte des 16. Jahrhunderts) und Modernisierung mit Neuausstattung (zum Beispiel Landeshut / Kamienna Góra) zum Teil säkularer Gebäude (zum Beispiel Fraustadt / Wschowa) bewegte. EVELIN WETTER (Riggisberg) wies im Umgang mit der vorreformatorischen Kirchenausstattung (Paramente, Altarretabel, liturgische Geräte) in Siebenbürgen eine Entwicklung von der konfessionellen Abgrenzung und Selbstvergewisserung hin zu einer Demonstration der Konfession bei gleichzeitigem Anknüpfen an ältere Traditionen nach.

In der fünften Sektion ging es um die Rezeption der Reformation respektive Martin Luthers seit dem 19. Jahrhundert. In Polen besetzen Luther bzw. die Lutheraner in der Erinnerungskultur des 19. und 20. Jahrhunderts, wie ANNA MAŃKO-MATYSIAK (Breslau / Wrocław) aufzeigte, erwartungsgemäß nicht nur alle Varianten von Feindbildern, sondern es zeigten sich bereits ab dem 18. Jahrhundert auch Tendenzen einer konfessionellen Toleranz, wie etwa der „überkonfessionelle Kampf“ im Novemberaufstand 1830/31 belegt. KATRIN BOECKH (München, Regensburg) richtete ihren Fokus auf die evangelischen Gemeinden in Galizien, die im 19. Jahrhundert – lutherisch und reformiert ausgerichtet – fast ausschließlich deutsch geprägt waren. Nach den Umsiedlungs- und Migrationsprozessen des 20. Jahrhunderts stellen die Protestanten im Postkommunismus der Ukraine aktuell die viertgrößte Konfession dar, wobei die Lutheraner und Calvinisten eine deutliche Minderheit im Vergleich zu den Pfingstlern, Baptisten, Adventisten und Zeugen Jehovas bilden. MARTIN ZÜCKERT (München) zeigte das Spannungsfeld von Abgrenzung und Integration der evangelischen Kirchen in der Tschechoslowakei auf, die mit der Gründung der evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (1918) sowie der Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien (1919) eine nationale tschechische und deutsche, jedoch nicht trennscharfe Prägung bekamen. Auf der Grundlage von Befragungen ehemaliger deutscher und heutiger polnischer Bewohner untersuchte MAŁGORZATA BALCER (Thorn / Toruń) die Rolle der 1654/55 errichteten protestantischen Friedenskirche im schlesischen Jauer / Jawor als transnationaler Erinnerungsort.

Am Ende der Tagung stellte ANNE-KATRIN ZIESAK (Berlin) die Konzeption der vom Deutschen Historischen Museum vorbereiteten Ausstellung „Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt“ (Gropius-Bau Berlin, April bis November 2017) vor.

Das Themenspektrum wurde musikalisch erweitert durch ein vom Deutschen Kulturforum östliches Europa in Potsdam veranstaltetes Abendkonzert, bei dem das Ensemble „The Schoole of Night“ polnische, litauische und deutsche Leider und Psalmen der Reformationszeit darbot.

Im Vorfeld des Reformationsjubiläums leistete die Tagung einen wichtigen Beitrag zur Reformationsforschung in gesamteuropäischem Kontext sowie zur Vermittlung in die Öffentlichkeit. Die Referate sollen in einem Essayband zusammengefasst werden, der als Begleitpublikation zur vorstehend erwähnten Ausstellung des DHM erscheinen soll.

Konferenzübersicht:

Einführung:
Winfried Eberhard (Leipzig): Die Rezeption der lutherischen Reformation in Ostmitteleuropa

Sektion 1: Der reformatorische Aufbruch im östlichen Europa – Konkurrenz und Toleranz

Matthias Weber (Oldenburg): Koexistenz und Religionsfrieden in Ostmitteleuropa

Edit Szegedi (Klausenburg / Cluj-Napoca): Luther als Bezugsgröße der siebenbürgischen Reformierten und Unitarier im 16. und 17. Jahrhundert

Kolja Lichy (Gießen): Wider Luthers Satanismus. Katholische Reform und lutherische Reformation in Ostmitteleuropa

Sektion 2: „Die deutsche Religion“? Zum Verhältnis von Nation und Konfession

Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen): Die Lutheraner in Polen-Litauen im 17. und 18. Jahrhundert. Nationale Zuschreibungen und kulturelle Positionierung

Eva Kowalska (Pressburg / Bratislava): Konkurrenten und/oder Verbündete: Die wechselseitigen Rollen der Lutheraner und Reformierten im Königreich Ungarn im 17.-18.Jahrhundert

Sektion 3: Vermittlung und Kommunikation I: Sprache und Literatur

Anja Rasche (Speyer, Lübeck): Reformation im Hanseraum: Kaufleute, Bücher und Sanktionen

Joachim Bahlcke (Stuttgart): Bücherschmuggel. Die Versorgung ostmitteleuropäischer Protestanten mit Bibeln, Gesangbüchern und lutherischen Erbauungsschriften seit der Zeit der Gegenreformation

Maciej Ptaszyński (Warschau / Warszawa): Das Ende oder der Anfang der Reformation? Reaktion auf das Augsburger Interim in Polen

Péter Ötvös (Szeged): Die lutherischen Exulanten aus Österreich auf ungarischem Boden, ihre Vorhaben und Integrationsversuche zu Beginn des 17. Jahrhunderts

Sektion 4: Vermittlung und Kommunikation II: Architektur und visuelle Medien

Grażyna Jurkowlaniec (Warschau / Warszawa): Illustrierte Bibeln und Katechismen im Polen des 16. Jahrhunderts: getrennte und gemeinsame Wege der christlichen Ikonographie nach der Reformation

Krista Kodres (Reval / Tallinn): Übersetzungen – Reformatorischer Ideentransfer durch räumliche und visuelle Medien im östlichen Ostseeraum

Jan Harasimowicz (Breslau / Wrocław): Protestantischer Kirchenbau in Ostmitteleuropa

Evelin Wetter (Riggisberg): Abgrenzung und Selbstvergewisserung. Zur Rolle vorreformatorischer Kirchenausstattungen in Siebenbürgen

Sektion 5: Erinnerung und Erinnerungsorte – Lutherrezeption seit dem 19. Jahrhundert

Anna Mańko-Matysiak (Breslau / Wrocław): Den Gedächtniskulturen auf der Spur: Das Lutherbild in Polen

Katrin Boeckh (München, Regensburg): Identitäten und transnationale Netzwerke. Lutheranische Gemeinden in Galizien (20. Jahrhundert)

Martin Zückert (München): Abgrenzung und Integration. Lutherische Traditionen und evangelisch-lutherische Kirchen in der Tschechoslowakei

Małgorzata Balcer (Thorn / Toruń): Die Friedenskirche in Jauer / Jawor – ein deutsch-polnischer Erinnerungsort

Anne-Katrin Ziesak (Berlin): Projektpräsentation der Ausstellung „Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt“


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