Reichtum in Deutschland. Akteure, Netzwerke und Lebenswelten im 20. Jahrhundert

Reichtum in Deutschland. Akteure, Netzwerke und Lebenswelten im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Anne Kurr / Lu Seegers, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg; Universität Hamburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.02.2016 - 19.02.2016
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Von
Moritz Liebeknecht, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Reichtum hat als Thema und Analysekategorie in der Geschichtswissenschaft lange Zeit keine dezidierte Beachtung gefunden. Die Tagung „Reichtum in Deutschland. Akteure, Netzwerke und Lebenswelten im 20. Jahrhundert“, die am 18. und 19. Februar 2016 an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg stattfand, bot Historiker/innen verschiedener Teildisziplinen, die sich im Rahmen ihrer Forschungsarbeit mit Reichtum befassen, eine Plattform zur Diskussion ihrer Projekte.

Nachdem Kirsten Heinsohn (Hamburg) die Teilnehmer/innen und Gäste der Tagung begrüßt hatte, erläuterten die Veranstalterinnen Anne Kurr (Hamburg) und Lu Seegers (Hamburg) in ihrer Einführung konzeptionelle Überlegungen und inhaltliche Schwerpunkte des Tagungsprogramms. Während die empirische Erfassung der Entwicklung von Reichtum in den Sozialwissenschaften seit den 1990er-Jahren untersucht werde, sei sie in der historischen Forschung bislang nur am Rande beachtet worden. Ziel der Tagung sei es, verschiedene geschichtswissenschaftliche Zugänge zusammenzuführen und über eine Fokussierung auf den Untersuchungsgegenstand Reichtum neue Perspektiven zu eröffnen. Neben der ökonomischen Ausprägung von Reichtum (Einkommen und Vermögen), gelte es auch die damit verbundenen sozialen Praktiken bzw. kulturellen und räumlichen Repräsentationen von Akteuren in Abhängigkeit zu untersuchen. In diesem Zusammenhang sei die Frage besonders interessant, inwiefern Veränderungen der ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen Auswirkungen auf einen transnationalen Habitus, Lebensstil und die Netzwerke von Reichen gehabt hätten. Vor dem Beginn des ersten Panels der Tagung skizzierte DOROTHEE SPANNAGEL (Düsseldorf) in ihrem Impulsvortrag „Reichtum in Deutschland. Entwicklungen und Diskurse“ aktuelle sozialwissenschaftliche Befunde zur historischen Entwicklung bzw. Transformation des Reichtums und der Einkommensungleichheit in der Bundesrepublik. Diese überblicksartige thematische Einführung bildete eine gute Grundlage für spätere Diskussionen. Die Einkommenssituation, so Spannagel, habe sich in den letzten Jahrzehnten deutlich polarisiert: Demnach wüchsen die Einkommen der als reich einzustufenden Bevölkerungsgruppe stark an, während sich die Armut finanziell schlechter gestellter Menschen zunehmend verfestige. Ähnliche Entwicklungen seien zwar auch für andere westeuropäische Nationen zu konstatieren, äußersten sich in der Bundesrepublik jedoch vergleichsweise drastisch. Problematisch sei diese Entwicklung, da die zunehmende Polarisierung das Wirtschaftswachstum hemme und die Ungleichheit den sozialen Frieden gefährde.

In dem Eröffnungsvortrag des ersten Panels „Akteure und Lebenswelten des Reichtums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ referierte DOROTHEE WIERLING (Berlin) über „Lebenswelten des Reichtums. Hamburger Kaffeehändler im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“. Die wohlhabenden Kaffeehändler, in dieser Phase gewissermaßen noch ständisch organisiert, hätten sich innerhalb der hamburgischen Gesellschaft habituell als eine „Gemeinschaft“ inszeniert. Sie knüpften im Stadtstaat Hamburg politische und unternehmerische Allianzen, während sie zugleich ein transnationales Wirtschaftsnetzwerk etablierten, das durch enge soziokulturelle oder oft sogar familiäre Verbindungen zusammengehalten wurde. Das auf diese Weise etablierte, fast geschlossene System diente nicht zuletzt dem Erhalt der wirtschaftlichen Position und damit der Wohlstandssicherung der Rohkaffeehändler. Dabei gelang es den Akteuren, so verdeutlichte Wierling, ihre Position und ihren Wohlstand auch über die politischen Zäsuren hinweg zu bewahren oder – beispielsweise im Rahmen der Arisierungen während des „Dritten Reiches“ – noch auszubauen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren die Absicherungsstrategien der Rohkaffeehändler an Wirksamkeit und viele der alteingesessenen Unternehmerfamilien an Bedeutung.

JÜRGEN DINKEL (Gießen) behandelte in seinem Vortrag „Reichtum richtig weiterreichen. Ratgeberliteratur für Vererbende und Erben zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ die Rahmenbedingungen (und deren Transformation) für die Weitergabe von Vermögen im Raum Hessen insbesondere in den 1920er-Jahren. Er veranschaulichte, dass die geplante Erbschaft in den oftmals von Juristen verfassten Ratgebern ihrer zumeist bürgerlichen Leserschaft als Möglichkeit der Generierung oder des Erhalts eines familiären Reichtums angepriesen wurde. Auf diese Weise bediente die Ratgeberliteratur eine im Bürgertum verbreitete Sehnsucht nach sozialem Aufstieg und gab ihren Lesern hierzu eine vermeintlich verlässliche Handlungsanleitung. Laut Dinkel bewirkte die testamentarische Regelung jedoch häufig nicht den beabsichtigten aktiv und selbstbestimmt betriebenen Vermögenserhalt, sondern das Gegenteil. Die Testamente seien selten an familiäre, politische oder ökonomische Wandlungen angepasst worden, weshalb darin getroffene Regelungen hinfällig wurden und im Falle der Erbschaft neu ausgehandelt werden mussten.

Das zweite Panel der Tagung „Orte und Netzwerke des Reichtums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ wurde mit MICHAEL WERNERs (Gießen) Vortrag „Ein fließender Kulturraum. Reichtum und Mäzenatentum in Hamburg und New York“ eröffnet. Werner zeigte, wie sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein durch beiderseitigen Kulturtransfer geschaffener transatlantischer Raum herausbildete, der zu einer Angleichung der Kultur des Reichtums in Hamburg und New York führte. Als einen der Orte dieses Austausches führte Werner die Luxusliner an, die zwischen den beiden Städten verkehrten und als Treffpunkt ihrer Oberschichten dienten. Erst durch den Ersten Weltkrieg sei dieser Kulturtransfer weitgehend zum Erliegen gekommen, wenngleich es versatzstückhafte Beispiele dafür auch für die Zwischenkriegszeit noch gebe. Werner zeigte, wie sich in New York als Stadt der Superreichen kulturelles und bildungspolitisches Engagement (Mäzenatentum) als Distinktionsmittel gegenüber den „alten“ europäischen Eliten herausbildete. In Hamburg wiederum sei ein Bedürfnis nach neuen Distinktionsformen entstanden, die über die herkömmliche Wohltätigkeit hinausgingen und sich an US-amerikanischen Vorbildern orientierten. Die aus den USA übernommene, aktive Förderung der Wissenschaft – etwa die Stiftung des Hauptgebäudes der Universität Hamburg durch den Unternehmer Edmund Siemers – war geeignet, dieses Bedürfnis zu befriedigen.

EVA GAJEK (Gießen) befasste sich in ihrem Beitrag „Abseits der Massen- und Krisenkultur? Orte des Reichtums in der Weimarer Republik“ mit der Sozialstruktur der Oberschicht in der ersten deutschen Republik und dem massenmedial konstruierten Sozialtypus des Millionärs in dieser Zeit. Gajek erläuterte, dass der alte Reichtum der Kaiserzeit nach 1918 teilweise weggebrochen sei und „Neureiche“ in die Räume der alten Eliten gedrängt seien. Dadurch habe sich etwa die Wohn- und Sozialstruktur der Villenviertel als „Orte des Reichtums“ drastisch gewandelt. Zudem ging Gajek auf die breite massenmediale Rezeption von Reichtum in der Weimarer Republik ein und zeigte, dass „Millionäre“ und „Neureiche“ zwar einerseits häufig im Zentrum satirischer Darstellungen standen, zugleich aber auch Projektionsflächen für Hoffnungen auf sozialen Aufstieg waren. Dem zunehmenden öffentlichen Interesse an Reichen und Reichtum lag demnach eine gewisse Ambivalenz zugrunde.

SIMONE DERIX (München / Gießen) untersuchte in ihrem Vortrag „Die feinen Unterschiede der Mobilität. Transnationale Residenz- und Bewegungsmuster Ultravermögender in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Am Beispiel der „transnationalen Familie“ Thyssen zeigte Derix auf, dass räumliche Mobilität historisch als Distinktionsmittel und Privileg des Adels betrachtet und später von reichen Wirtschaftsbürgern adaptiert wurde. Zwei Motive der Mobilität seien die Vermögenssicherung (internationale Streuung des Vermögens) und die internationale geschäftliche wie personelle Vernetzung gewesen, so Derix. Örtliche Knotenpunkte dafür waren Großstädte wie Paris oder London, aber auch Kur- und Erholungsorte wie St. Moritz gewesen. Derix ging zudem auf die Rahmenbedingungen der räumlichen Mobilität im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein und verdeutlichte, dass die beschriebene Form des Reisens mit Hausstand und Bediensteten aufgrund der hohen Kosten und des beachtlichen Aufwands nur Ultravermögenden möglich war.

SONJA NIEDERACHER (Wien) referierte über „Vermögensstrukturen jüdischer Unternehmerfamilien in Wien vor, während und nach dem Nationalsozialismus“ und eröffnete damit das dritte Panel „Enteignung, Umverteilung und Akkumulation von Reichtum im Nationalsozialismus“. Niederacher beleuchtete die wirtschaftliche und soziale Situation jüdischer Unternehmerfamilien in Wien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und beschrieb die sich durch zwangsweise Enteignungen und Arisierungen verändernde Vermögensstruktur dieser Familien. Anhand von Quellenmaterial zur Erfassung jüdischen Vermögens durch die Nationalsozialisten aus dem Jahr 1938 belegte Niederacher Höhe und Umfang der vernichteten Vermögen. Ein weiterer Aspekt ihres Vortrags waren die Vermögensstrukturen jüdischer Unternehmerinnen, die sich von männlichen Familienmitgliedern deutlich unterschieden. Weibliches Vermögen basierte größtenteils auf Immobilienbesitz. Männer erbten hingegen zumeist das Unternehmen oder das Produktivkapital, das sie durch aktives Handeln vermehren konnten. Insgesamt sei das vermögende jüdische Bürgertum in Wien durch den Nationalsozialismus nahezu vollständig ausgelöscht worden. Nach 1945 habe es zwar sukzessive Entschädigungen gegeben, allerdings sei dieser Prozess ebenso langwierig und fragmentarisch verlaufen wie auch in der Bundesrepublik.

Im Rahmen des anschließenden Beitrags „Aus Ostwestfalen in die Welt. Transnationale Praktiken der Unternehmerfamilie Oetker zwischen Weltwirtschaftskrise und Wirtschaftswunder“ befasste sich JÜRGEN FINGER (Paris) mit dem Wirken der Unternehmerfamilie Oetker vornehmlich in der Zeit des Nationalsozialismus. Das Unternehmen Oetker expandierte erst verhältnismäßig spät international. Die Anpassung an den Nationalsozialismus, so betonte Finger, sei schnell und aus Überzeugung erfolgt. Die Expansion des „Dritten Reiches“, insbesondere im Osten, bedeutete für Oetker eine Reduktion von Komplexität hinsichtlich der eigenen Unternehmensstruktur: Zahleiche ausländische Zweigfirmen konnten einfach in den nationalen Hauptsitz eingegliedert werden. Durch ihr Vermögen, das sie infolge der unternehmerischen Ausweitung in den eroberten Gebieten stark ausbauen konnte, habe sich die Familie, so legte Finger dar, im Nationalsozialismus Zugang zur politischen Elite verschafft. Daraus hätten sich neuartige Handlungsspielräume ergeben. Die generelle Rolle des Reichtums sowie die Inszenierung eigenen Reichtums im Nationalsozialismus sei indes ein Feld, das es noch zu erforschen gelte.

Am zweiten Tag der Tagung eröffnete LU SEEGERS (Hamburg) das Panel „Alte und neue Wege des Reichtums in der Bundesrepublik“ mit einem Vortrag über „Hanseatische Unternehmer im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik“. Seegers zeichnete die Kontinuitätslinien medialer Darstellung hanseatischer Unternehmertypen von der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik am Beispiel der Lokalpresse nach und konstatierte, dass diese Darstellungen identitätsstiftenden Charakter für die Rezipient/innen besaßen. Mit dem Typus des hanseatischen Kaufmanns, dem ihm zugeschriebenen Verhaltenskodex und damit verbundenen Bildern eines auf „altem Wege“ erworbenen und daher legitimen Reichtums seien seit dem 19. Jahrhundert positive Konnotationen verknüpft gewesen. So sei das Hanseatentum der Wirtschaftselite nach 1945 angeführt worden, um das Narrativ der angeblich unbedenklichen Rolle Hamburgs im „Dritten Reich“ aufrechtzuerhalten. Die vermeintlichen Hanseaten vermochten wiederum – das nötige Geschick vorausgesetzt – aus ihrem positiven Image auch und gerade soziales Kapital zu schlagen. Die enge Allianz zwischen Journalisten und reichen Hamburger Unternehmern konnte allerdings bei wirtschaftlichem Misserfolg aufgekündigt werden. Dann stand sowohl das Wirtschaftshandeln der Unternehmer während des Nationalsozialismus im Mittelpunkt der Kritik als auch ein „unhanseatischer“, weil „neureicher“ Lebensstil.

Den anschließenden Vortrag „Die Deutsche Bank auf der Suche nach Investmentbankern. Transnationale Bankgeschäfte als Personalproblem“ hielt FRIEDERIKE SATTLER (Frankfurt am Main) und zeigte damit einen der „neuen Wege“ auf, Reichtum zu generieren. Sattler erörterte, dass die Verdienstmöglichkeiten im Bankwesen seit den 1970er-Jahren rasant angestiegen seien und die Zahl der Banker unter den Superreichen massiv zugenommen habe. Am Beispiel der Deutschen Bank veranschaulichte sie, wie durch den Einstieg zahlreicher Finanzhäuser in den Investmentsektor ein neuer spezifischer, internationaler Arbeitsmarkt entstand. Mit dem Argument der hohen Nachfrage nach Investmentbankern wurden sukzessive exorbitant hohe Gehälter gezahlt. Allerdings habe diese Praxis empfindliche Auswirkungen auf die Unternehmenskultur gehabt. Im Falle der Deutschen Bank entstand eine bis heute anhaltende Konkurrenz zwischen der Konzernzentrale in Frankfurt am Main und dem Sitz der „reichen“ Investmentbanker in London.

Der Vortrag, mit dem ANNE KURR (Hamburg) das Panel „Reichtum als Lebensstil und soziale Praxis“ eröffnete, trug den Titel „Reichtum ausstellen. Besetzung des öffentlichen Raums durch die Kunstsammler Irene und Peter Ludwig im Köln der 1980er-Jahre“. Kurr untersuchte die Bedeutung des Mäzenatentums des Ehepaars Ludwig für die Kultur- und Museenlandschaft Kölns und fragte nach sozial akzeptierten Praktiken reicher Wirtschaftsbürger. Durch Schenkungen und Dauerleihgaben großer Teile ihrer Sammlungen machte das Ehepaar Ludwig Kunst öffentlich zugänglich. Allerdings waren ihre umfassenden Stiftungen stets an Bedingungen geknüpft. So forderte das Ehepaar etwa, dass der Museumsneubau in Köln ihren Namen tragen sollte und räumte sich Mitsprache bei der Konzeption und Zusammenstellung der Museumssammlungen ein. Das Sendungsbewusstsein des Stifterehepaars wurde teilweise mit überkommenen sozialen Praktiken des Mäzenatentums assoziiert und als vermeintlich illegitimer Eingriff in kulturpolitische Belange negativ rezipiert.

Der Amerikanist MARTIN LÜTHE (Berlin) befasste sich in seinem Beitrag „Bedrooms, Bathrooms, and Beyond. MTV Cribs und Reichtumsperformanzen im privaten Kabelfernsehen“ mit der medialen Inszenierung von Reichtum im Rahmen der US-amerikanischen Fernsehsendung, die auch in Deutschland ausgestrahlt wurde. Die Sendung erzähle zumeist klassische Aufsteigergeschichten, in deren Mittelpunkt Angehörige ethnischer Minderheiten, etwa afroamerikanische Hip-Hop-Millionäre, stünden und beteilige sich somit an der Konstruktion der Idee des „Amerikanischen Traums“. Die völlig überspitzte und zugleich ritualisierte Darstellung der Villen dieser Aufsteiger, die Lüthe als eine „Fetischisierung“ der Orte des Reichtums bezeichnete, diene als Projektionsfläche dieser Geschichten. Den Zuschauern würde dabei eine doppelte Lesart angeboten, die sich auch in anderen TV-Formaten finde: Einerseits die „Freak-Show“, über deren Akteure sich der Zuschauer erheben könne, andererseits das Aufsteiger-Narrativ mit Vorbildfunktion. Die Reichtumsperformanzen der US-amerikanischen Aufsteiger wurden infolge ihrer transnationalen medialen Verbreitung auch in Deutschland, etwa durch Akteure des deutschen „Gangsta-Rap“, symbolisch und praktisch übernommen.

In dem ersten Vortrag des abschließenden Panels „Reichtum im Staatssozialismus“ referierte JENS GIESEKE (Potsdam) zu der Frage „Gab es Reichtum in der DDR? Zu Strukturen, Selbstdarstellungen und kollektiven Wahrnehmungen im egalitären Staatssozialismus“. Gieseke wies daraufhin, dass die Rahmenbedingungen zur Vermögensbildung in der DDR recht schnell beseitigt worden waren. Trotzdem hätten sich Gruppen potenziell vermögender Menschen herausgebildet. Der Wohlstand dieser Gruppen zeigte sich in nicht-ökonomischem Kapital und Privilegien (beispielsweise bei Politikern, Funktionären oder Akteuren aus Wissenschaft und Technik), in einem relativ hohen Einkommen (etwa bei Handwerkern und Selbstständigen) und/oder durch Vermögensbildung in Westdeutschland (zum Beispiel bei Erb/innen, Künstler/innen und Sportler/innen). Dabei spielte der Besitz von Westgeld eine bedeutende Rolle. Zugleich beleuchtete Gieseke die Möglichkeiten zu Distinktion und Darstellung von Reichtum in der DDR. Westlicher Reichtum diente dabei als Referenzsystem, gleichwohl entwickelten sich spezifisch ostdeutsche Repräsentationen von Reichtum.

Den abschließenden Vortrag der Tagung hielt INES LANGELÜDDECKE (Hamburg) zum Thema „Mit Diskretion und Distinktion. Eine Oral-History-Studie über adlige Rückkehrer im postsozialistischen Brandenburg“. Langelüddecke veranschaulichte anhand eigener Interviews die Selbstinszenierungen adliger Familien hinsichtlich ihrer Rückkehr in die ehemalige Brandenburgische Heimat nach 1990. Dabei stünden Narrative der eigenen Bescheidenheit und Bodenständigkeit im Sinne eines „Kults der Kargheit“, der seit dem Bedeutungsverlust des Adels im 19. und 20. Jahrhundert fast traditionell gepflegt worden sei, im Mittelpunkt, während im Gegensatz dazu gesellschaftliche Zuschreibungen eher auf die exklusive Lebenswelt des Adels rekurrierten. Diese Selbstdarstellung harmonierte mit der Einpassung des Adels in spezifische gesellschaftliche Verhältnisse – in diesem Fall in die verarmte postsozialistische Bevölkerung. In der Verbindung von Repräsentanz und Diskretion von Reichtum und Vermögen machte Langelüddecke ein strategisches Muster adliger Selbstdarstellung aus. Die Repräsentanz diene der Sicherung der gesellschaftlichen Position, die Diskretion sei nötig, um die soziale Stabilität einer Gemeinschaft nicht zu gefährden.

Den sich insgesamt gut ergänzenden Vorträgen der lebhaften Tagung schlossen sich jeweils intensive Diskussionen an, welche die Veranstalterinnen zum Abschluss in einigen Leitfragen und -thesen bündelten. Dabei wurde auch auf die politische Dimension des Tagungsthemas hingewiesen. Reichtum müsse erforscht werden, um Machtstrukturen aufdecken, um der Entstehung sozialer Ungleichheiten auch am „oberen Ende“ entgegenzuwirken und Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns in diesem Kontext aufzuzeigen. Da vielfach aus aktuell laufenden Projekten berichtet wurde, bleibt die weitere Beschäftigung mit dem Themenkomplex Reichtum in jedem Fall spannend.

Konferenzsübersicht:

Begrüßung und Einführung

Kirsten Heinsohn (Hamburg): Begrüßung

Anne Kurr, Lu Seegers (beide Hamburg): Einführung

Impulsvortrag
Dorothee Spannagel (Düsseldorf): Reichtum in Deutschland. Entwicklungen und Diskurse

Panel I: Akteure und Lebenswelten des Reichtums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Dorothee Wierling (Berlin): Hanseatische Kaffeehändler und ihre transnationalen Praktiken

Jürgen Dinkel (Gießen): Reichtum richtig weiterreichen. Ratgeberliteratur für Vererbende und Erben zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Panel II: Orte und Netzwerke des Reichtums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Michael Werner (Gießen): Ein fließender Kulturraum. Reichtum und Mäzenatentum in Hamburg und New York

Eva Gajek (Gießen): Abseits der Massen- und Krisenkultur? Orte des Reichtums in der Weimarer Republik

Simone Derix (München, Gießen): Die feinen Unterschiede der Mobilität. Transnationale Residenz- und Bewegungsmuster Ultravermögender in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Panel III: Enteignung, Umverteilung und Akkumulation von Reichtum im Nationalsozialismus

Sonja Niederacher (Wien): Vermögensstrukturen jüdischer Unternehmerfamilien in Wien vor, während und nach dem Nationalsozialismus

Jürgen Finger (Paris): Aus Ostwestfalen in die Welt. Transnationale Praktiken der Unternehmerfamilie Oetker zwischen Weltwirtschaftskrise und Wirtschaftswunder

Panel IV: Alte und neue Wege des Reichtums in der Bundesrepublik

Lu Seegers (Hamburg): Hanseatische Unternehmer im Übergang vom Nationalsozialismus in die Bundesrepublik

Friederike Sattler (Frankfurt am Main): Die Deutsche Bank auf der Suche nach Investmentbankern. Transnationale Bankgeschäfte als Personalproblem

Panel V: Reichtum als Lebensstil und soziale Praxis

Anne Kurr (Hamburg): Reichtum ausstellen. Besetzung des öffentlichen Raums durch die Kunstsammler Irene und Peter Ludwig im Köln der 1980er Jahre

Martin Lüthe (Berlin): Bedrooms, Bathrooms, and Beyond. MTV Cribs und Reichtumsperformanzen im privaten Kabelfernsehen

Panel VI: Reichtum und Staatssozialismus

Jens Gieseke (Potsdam): Gab es Reichtum in der DDR? Zu Strukturen, Selbstdarstellungen und kollektiven Wahrnehmungen im egalitären Staatssozialismus

Ines Langelüddecke (Hamburg): Mit Diskretion und Distinktion. Eine Oral-History-Studie über adlige Rückkehrer im postsozialistischen Brandenburg


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