Alte Mythen in neuem Kleid - was ist neu im "neuen Europa"? 3. Arbeitstreffen FOSE

Alte Mythen in neuem Kleid - was ist neu im "neuen Europa"? 3. Arbeitstreffen FOSE

Organisatoren
Arbeitstreffen des Forums Ostmittel und Südosteuropa (FOSE)
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
06.11.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Daniel Henseler

Das Treffen widmete sich dem „neuen Europa“ und besonders der Frage nach den Mythen, die gerade in den tiefgreifenden Umbruchprozessen in Ostmittel und Südosteuropa eine zentrale Rolle spielen: alte Helden, Gründerlegenden und Opfermythen werden reaktiviert und umgedeutet, neue werden erfunden, andere geraten in Vergessenheit.

Zum Einstieg wurden zwei grundlegende Texte zum Thema Mythen diskutiert.1 Dabei ging es vor allem um Hobsbawms Konzept der erfundenen Traditionen, dessen Erklärungspotential gerade auch im ostmittel- und südosteuropäischen Kontext angesprochen wurde. In einem ersten Teil wurden insbesondere die Fragen diskutiert, in wessen Händen die Kompetenz, Traditionen zu erfinden liegt, welche Akteure also hinter den erfunden Traditionen stehen und aufgrund welcher Prozesse und Mechanismen diese zustande kommen. Daran schloss sich die Frage an, unter welchen Bedingungen die Erfindung einer Tradition erfolgreich verläuft bzw. welche Umstände deren Etablierung verhindern. Aus diesem Themenkomplex ergab es sich rasch, dass trotz dem im Prinzip unbestrittenen Erklärungspotential, das anhand diverser Beispiele belegt wurde, das Konzept der Erfindung von Tradition zu einseitig das konstruktivistische Element des jeweils betrachteten Prozesses betont. Ohne den Erkenntniswert konstruktivistischer Ansätze zu leugnen war doch die Mehrheit der Diskutierenden der Ansicht, dass dem konstruktivistischen Akt bestimmte vorgegebene Elemente zugrunde liegen, die gleichsam als Versatzstücke neu zusammengefügt werden. Man hätte es damit im Resultat weniger mit einem komplett neuen, willkürlich "erfundenen", Phänomen zu tun, sondern vielmehr mit einer neuen Kombination überlieferter Traditionslinien. Alte, oft sinnentleerte Inhalte werden dementsprechend neu strukturiert, um in einem neuen Kontext sinnstiftend zu wirken. Insofern wurde vor allem die von Hobsbawm vorgenommene Trennung von erfundenen Traditionen und "echten" Bräuchen als wenig hilfreich, ja gar als verschleiernd, kritisiert, stellt doch gerade das, was er unter Bräuchen versteht, ein wichtiges Reservoir dar, aus dem bei der Erfindung von Traditionen geschöpft wird.
Abschließend wurde nach der Rolle und den moralischen wie gesellschaftlichen Aufgaben der historisch arbeitenden Personen gefragt, die oft selber aktiv an Prozessen der Erfindung von Traditionen beteiligt sind. Ohne hier zu abschließenden Aussagen zu gelangen, war man sich einig, dass Konstruktion und Dekonstruktion von Mythen Hand in Hand gehen. Zentral sei daher vor allem die Einsicht in die entsprechenden Mechanismen.

Im anschließenden Teil wurde die Debatte anhand von drei Fallbeispielen in der Praxis von der theoretischen auf die praktische Ebene verlagert.

Julia Richers (Basel <Julia.Richers@unibas.ch>) stellte im Nachmittagspanel das umstrittene "Haus des Terrors" in Budapest als eine spezifische Variante der ungarischen Geschichtsaufarbeitung vor. Das besagte Haus an der Andrássy-Straße 60 beherbergte von 1937 bis Kriegsende die Zentrale der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler-Partei und von 1945 bis 1956 die ungarische Staatssicherheit (PRO, ÁVO, ÁVH). Seit 2002 befindet sich - mit der maßgeblichen Unterstützung des damals amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán - an diesem historischen Ort ein Museum, das sich den beiden Terror-Regimen des 20. Jahrhunderts widmen sollte.

Seit seiner Eröffnung vor mehr als zwei Jahren steht das Museum im Kreuzfeuer der Kritik. Zwei Beispiele aus jüngster Zeit sind die Auseinandersetzungen um den 60. Jahrestag der Machtergreifung durch die Pfeilkreuzler am 15. Oktober 1944 sowie auf wissenschaftlicher Ebene die Debatten während der Weimarer Tagung "Kommunismus im Museum" Ende Oktober 2004. Dem Budapester Museum wurde mehrfach vorgeworfen, nicht der geschichtlichen Aufarbeitung der totalitären Gewalt zu dienen, sondern eine multimediale, unsachliche Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit Ungarns zu sein. Julia Richers nahm die jüngsten Diskussionen um das "Haus des Terrors" zum Anlass, das Museumskonzept zusammen mit den Informationsblättern, die in den 25 Museumsräumen auf Ungarisch und Englisch aufliegen, zu diskutieren und nach dem inhärenten, spezifischen Verständnis von Geschichte, Erinnerung und Aufarbeitung zu fragen.

Die Diskussion ergab, dass eine Vielzahl der Vorwürfe nicht von der Hand zu weisen ist. Dazu gehört nicht allein die Tatsache, dass sich nur zwei der über zwanzig Räume mit den Verbrechen der Pfeilkreuzler beschäftigen, während sich der überwiegende Rest dem kommunistischen Terror widmet. Ebenso fielen der sehr selektiv erinnerte Geschichtsdiskurs und die vergessenen Geschichtspassagen sowie wohl absichtlichen Unklarheiten auf. So wird suggeriert, dass Ungarn und das ungarische Volk Opfer von fremden Herrschaftssystemen wurden, womit die eigene Partizipation und Mitverantwortung ausgeblendet wird. Hinzu gesellt sich eine äußerst eigenwillige Periodisierung der Geschichte: Ungarn wird von den Ausstellungsmachern und -macherinnen bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1944 als ein freies und demokratisches Land dargestellt, womit historische Tatsachen wie die ungarischen Judengesetzgebungen von 1938, 1939 und 1941, die Arisierungen, die frühzeitigen Rüstungsprogramme, die Anlehnung an die Achsenmächte sowie der Jugoslawienfeldzug und die dortigen Massaker in der Zeit vor 1944 unterschlagen werden. Ebenso fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit der "Stunde Null" im Frühjahr 1945 und der Frage, wo man von "Befreiung vom Faschismus" und ab wann man von "sowjetischer Okkupation" sprechen kann und soll. Ein weiterer Punkt der Diskussion war die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen einem Museum mit Bildungsauftrag und einer (kollektiven) Gedenkstätte. Im "Haus des Terrors" schien man sich nicht ganz entscheiden zu können.

Julia Richers wies am Ende ihres Beitrags nicht nur auf die Gefahren einer politisch instrumentalisierten Gedächtniskultur hin, sondern machte schließlich auch auf die möglichen kolonialistischen Züge westeuropäischer Kritik aufmerksam. Sie sprach damit eine zentrale Problematik beim Umgang mit osteuropäischer Geschichtsaufarbeitung und Erinnerungspolitik an. Nicht beim Anprangern zu verharren, sondern zu untersuchen, warum und wann sich an was konkret erinnert wird, sollte ins Zentrum gerückt werden. Die Tatsache, dass im "Haus des Terrors" in Budapest ganz offenbar nicht beide totalitären Epochen adäquat Platz finden, verweist darauf, dass wir es in Ungarn mit gespaltenen resp. getrennten Erinnerungen zu tun haben. Die Erinnerung an die Shoah (oder auch an die Verfolgung der Roma) erscheint damit auf tragische Weise weniger als eine "ungarische" als vielmehr Teil einer (ausschließlich) jüdischen Erinnerung, die sich topographisch zudem noch einen anderen Gedächtnisort suchen musste.

Daniel Henseler (Fribourg <Daniel.Henseler@unifr.ch>) stellte danach Molwanien, einen fiktiven Kleinstaat in Osteuropa, vor und thematisierte dabei besonders die westlichen Stereotype über den Osten Europas. Unter dem Titel „Molvania. A Land Untouched by Modern Dentistry“ haben Santo Silauro, Tom Gleisner und Rob Sitch 2003 einen Reiseführer über das fiktive Land Molwanien vorgelegt, der zahlreiche amüsante und bisweilen auch recht respektlose Informationen enthält. Molwanien ist als Fiktion völlig konsequent und verfügt deshalb über eigene erfundene Traditionen, über Gründermythen und „Gedächtnisorte“ im Sinne Pierre Noras, wie etwa Hymne, Flagge usw. ¯ Das Buch ist als eine Parodie auf Reiseführer gedacht, deren Aufbau und Stil es konsequent imitiert. Zugleich kann Molwanien aber auch als eine europäische Antiutopie gedeutet werden, wie der Vortragende ausführte: Mit der EU-Osterweiterung wurde das Beste vom europäischen Osten ins Schiff gehievt; der Rest hatte (vorläufig) draußen zu bleiben. Die - im doppelten Sinne - arme Republik Molwanien muss nun die gesammelten dunklen Seiten Europas auf sich nehmen.
Der Reiseführer arbeitet sehr stark mit stereotypen Vorstellungen vom Osten Europas; der Referent führte hierzu verschiedene Beispiele an und warf anschließend die Frage auf, ob diese im Buch thematisierten Stereotypen - die wir vielleicht überwunden glaubten - uns mit Unbehagen erfüllen sollten. Tatsächlich hat das Buch nämlich nach Erscheinen in England eine kleinere Debatte ausgelöst; der ehemalige Europaminister Keith Vaz warnte davor, es könne alte Vorurteile verstärken oder sogar neue hervorbringen. ¯ Daniel Henseler wies jedoch darauf hin, dass im diskutierten Buch die sonst oft nur unterschwellig funktionierenden Stereotype deutlich zur Sprache kämen. Dies interpretierte er als eine Chance: Dadurch werde nämlich eine ernsthafte Beschäftigung mit den thematisierten Stereotypen erst ermöglicht. Schließlich wies Daniel Henseler noch auf Molwaniens offizielle Website hin (http://www.molvania.com).

Abschließend nahm Daniel Ursprung (Zürich <daur@access.unizh.ch>) die Frage nach dem Verhältnis von alt und neu aus der einleitenden Diskussion wieder auf, indem er an einem konkreten Gegenstand darlegte, wie erfundene Traditionen an Elemente früherer Traditionen anknüpfen. Er zeigte anhand von Stefan dem Grossen, dem als Türkenkämpfer bekannt gewordenen Fürsten des mittelalterlichen Fürstentums Moldau, wie solche Heldenfiguren in unterschiedlichen Kontexten jeweils neu codiert werden, ohne jedoch einen komplett neuen Sinn zu erhalten. Vielmehr erweisen sich grundlegende Elemente als erstaunlich stabil, werden jedoch für unterschiedliche Diskurse je anders nutzbar gemacht. Anlässlich des 500. Todestages von Stefan dem Grossen (2. Juli 2004) wurde seine Person in der Republik Moldau (Moldawien) von offizieller Seite ganz massiv für die Legitimation der moldauischen Staatlichkeit nutzbar gemacht, indem die Republik Moldau nun als direkte Rechtsnachfolgerin des Fürstentums Moldau dargestellt wird. Dies beschwor einen diplomatischen Streit mit Rumänien hervor, welches das Erbe des mittelalterlichen Fürsten ebenfalls für sich reklamiert. Der Referent legte dar, dass mit der Herrscherfigur Stefans des Grossen ein in vormodernen Vorstellungswelten (Fresken, Klosterstiftungen, mündliche Traditionen etc.) verankertes Symbol zur Verfügung steht, dessen identitätsstiftendes Moment (christliche Gemeinschaft, moldauischer Herrschaftsverband) nun auf nationale Gemeinschaften übertragen wird. Damit kann auch in historisch neuen Situationen (Unabhängigkeit der Republik Moldau) die Sinnstiftung über ein altes Symbol funktionieren und damit der Anschein von Kontinuität oder eben Tradition erweckt werden. Eine Publikation des Beitrages ist in Vorbereitung.

Die Diskussion während des Arbeitstreffens wies über den engeren Kontext Ostmittel- und Südosteuropas hinaus, indem grundlegende Fragen in Zusammenhang mit Mythen wie etwa die Brauchbarkeit von Hobsbawms Konzept der Erfindung von Tradition thematisiert wurden. Der Ansatz wurde als durchaus fruchtbar identifiziert, wenn auch zugleich auf dessen Grenzen verwiesen wurde.

Die Teilnehmenden des Workshops einigten sich zum Abschluss darauf, das nächste Arbeitstreffen des Forums Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE) am Samstag, 24. April 2005 aus aktuellem Anlass (60 Jahre nach dem Kriegsende) dem Themenbereich Gedächtnis und Erinnerung zu widmen. Die Tagung wird in Basel stattfinden. Genauere Informationen
folgen.

Anmerkungen:
1 Hobsbawm, Eric: Das Erfinden von Traditionen. In: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Hg. von Christoph Conrad, Martina Kessel. Stuttgart 1998, 97-118. Jaworski, Rudolf: Alte und neue Gedächtnisorte in Osteuropa nach dem Sturz des Kommunismus. In: Gedächtnisorte in Osteuropa: Vergangenheiten auf dem Prüfstand. Hg. von Rudolf Jaworski, Jan Kusber und Ludwig Steindorff. Frankfurt am Main 2003, 11-25.


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