HT 2016: Globalgeschichte von Religionen – Perspektiven und Erkenntnischancen

HT 2016: Globalgeschichte von Religionen – Perspektiven und Erkenntnischancen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Sören Rohrmann, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Globalgeschichte von Religionen: Eine Glaubenfrage?

"Sollte es aber jemals eine universale Religion geben, so muss es eine sein, die weder an Ort, noch an Zeit gebunden ist; die unendlich, wie der Gott ist, den sie verkündet; [...] die nicht brahmanisch, christlich oder mohammedanisch ist, sondern die Zusammenfassung alles diesen [...]"1, verkündete 1893 Vivekananda in seiner Rede auf dem Weltparlament der Religionen in Chicago, nachdem er seine Idee des Hinduismus als erfahrungsbasiertem Advaita Vedanta, also die Offenbarung der Einheit von Atman und Brahman in den vedischen Traditionen (Naturgesetze), in die Welt entlassen hatte. Vivekanandas Hinduismuskonzept reihte sich neben Christentum und Islam in die Vorstellung ein, es gebe große Religionen.

Globalgeschichte – alles nur eine Glaubenssache? So fragte OLAF BLASCHKE (Münster) in seiner Einführung und stellte damit gleich zu Beginn den Bezug der Sektion zum übergeordneten Thema des Hamburger Historikertages "Glaubensfragen" her. Sein Vortrag kreiste um zwei Problemstellungen, die gleichsam den konzeptionellen Rahmen der gesamten Sektion markierten: Wie kann Religion die Globalgeschichtsschreibung bereichern und welchen Nutzen hat eine globale Perspektive für die Religionsgeschichte? Unverkennbar seien in der Gegenwart das wachsende Interesse an Globalisierung und ein Boom der globalgeschichtlichen Forschung. Doch welchen Erkenntnisgewinn bietet eine globale Verflechtungsgeschichte für die Arbeit des Historikers? Denn Verflechtungsgeschichte als Selbstzweck zu betreiben, sei wenig erhellend, solange sie nicht den Nachweis erbringe, Zusammenhänge besser erklären zu können als der methodologische Nationalismus bisher, so Blaschke.

Einerseits konzentrierten sich globalgeschichtliche Ansätze häufig auf wirtschafts- oder migrationsgeschichtliche Phänomene und vernachlässigten Religion. Andererseits werde Religionsgeschichte weiterhin vorwiegend als Nationalgeschichtsschreibung betrieben. Trotzdem könne eine globalgeschichtliche Perspektiverweiterung der Religionsgeschichtsschreibung auf eine ansehnliche Leistungsbilanz zurückblicken: So spricht etwa Christopher Bayly von einer wachsenden "Uniformität" der Weltreligionen seit dem frühen 19. Jahrhundert.2 Tomoko Masuzawa vertritt die These, dass Europäer wie der Indologe Max Müller die Nicht-Europäer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts darin beeinflusst hätten, ihre religiösen Identitäten als Weltreligionen zu konstruieren.3 Außerdem plädiert beispielsweise Rebekka Habermas dafür, Missionsgeschichte nicht mehr als einfache Expansionsgeschichte Europas zu betreiben, sondern als "entangled history".4 Klaus Koschorke wirbt für eine "polyzentrische Christentumsgeschichte" der transkontinentalen religiösen Netzwerke.5

Auch an Skepsis gegenüber einer Globalgeschichte des Religiösen mangele es nicht: Werde nicht gerade der Eurozentrismus durch den Gebrauch eines westlichen Religionsbegriffs vertieft? In den luftigen Höhen globalgeschichtlicher Fragestellungen sei Quellenarbeit schwierig, aber nötig. Mangelnde Sprachkenntnisse der Historiker seien ohnehin ein grundsätzliches Problem. Außerdem könne man verflechtungsgeschichtliche Untersuchungen gar nicht als Projekt von Einzelnen betreiben.

Obwohl es historiographische Wellen und disziplinäre Modeerscheinungen gebe, schloss Blaschke sein Plädoyer für die Vorzüge einer Globalgeschichte von Religionen, sei diese eben nicht nur eine vorübergehende Glaubenssache, sondern ein konstruktiver Lösungsvorschlag für lang anhaltende Debatten in der Historikerzunft, wie etwa bei der Frage, ob der Ultramontanismus im 19. Jahrhundert eher von oben oder von unten ausgegangen sei.

MARGRIT PERNAU (Berlin) widmete sich in ihrem Vortrag über die Emotionen der kolonialen Moderne in Indien einem Modernenarrativ, das Rationalisierung, Säkularisierung und Disziplinierung auf der Chronologie normativ synchronisiere und so die Muslime bzw. den Orient als vormoderne Gesellschaften ausweise, da Religion und exzessive Gefühle dort einen hohen Stellenwert einnähmen. Diversität im Raum werde in Homogenität in der Zeit überführt: Europas Moderne werde zur Zukunft des Orients und dieser wiederum führe Europa seine eigene Vergangenheit vor Augen. Pernau gab jedoch zu bedenken, dass die Moderne nicht in Karl Marx, Max Weber und Michel Foucault aufgehe, sondern dass zu ihr ebenso Religion bzw. Emotionalisierung gehöre, wie das Beispiel der Kulturkämpfe oder der Herausbildung von Geschlechteridentitäten im 19. Jahrhundert zeige. Außerdem verwies Pernau auf einen merkwürdigen Befund: Das Denken in Entwicklungsstadien und das Erzählen einer Defizitgeschichte seien in der akademischen Welt so weit verbreitet, dass das Narrativ der nachholenden Modernisierung in Bezug auf den Islam, bei manchen Autoren gar die Geschichte einer verweigerten Modernisierung, selbst dann beibehalten werde, wenn ihm die empirischen Befunde der Forschung offensichtlich widersprächen. Daher war Pernaus These ein emphatisches Plädoyer dafür, dass es bei einer Globalgeschichte von Religionen nicht darum gehen könne, "auch noch ein paar Frauen und Schwarze" ins Narrativ zu integrieren, sondern dass die Masternarrative Europas andere werden müssten, denn Europa brauche Kenntnisse über andere Religionen und Weltregionen zur Selbstinterpretation.

"Welchen Erkenntnisgewinn bringen globalgeschichtliche Fragestellungen für die Religionsgeschichte?", fragte sich VOLKHARD KRECH (Bochum) und spitzte seine Antwort aus religionswissenschaftlicher Perspektive in fünf Thesen zu. Erstens verdanke sich der heutige Blick auf Religion zeitgenössischen Globalisierungsprozessen seit den 1970er-Jahren, wobei die Vorgeschichte der Globalisierung des Religiösen zweitens bis in die Frühe Neuzeit zurückreiche. Man müsse daher mehrere Globalisierungen voneinander unterscheiden; die Geschichte der globalisierten Religion sei retrospektiv zu schreiben. Die religiöse Globalisierung in der Gegenwart knüpfe drittens an eine relationale Verflechtungsgeschichte von Religion im 19. Jahrhundert an. Mission sei keine Einbahnstraße und Europa das Produkt seiner außereuropäischen Verflechtungen. Globale Prozesse beschrieben viertens eine eigenständige Ebene des Religiösen. Deshalb sei Globalgeschichte kein methodischer Turn, sondern eine Perspektiverweiterung des Religionsbegriffs in der Religionsgeschichtsschreibung, die zur Aufgabe der Zentrum-Peripherie-Unterscheidung zugunsten einer polyzentrischen Geschichte des religiösen Feldes nötige. Einzelne Religionen bezögen sich fünftens trotz ihrer regionalen Emergenz auf gemeinsame, einheitsstiftende Traditionen, wie die weltweite Ausbreitung der Marienverehrung zeige. Krech resümierte: "Was also bringt die Globalgeschichte für die Religionsgeschichtsschreibung? Wesentliches." Denn eine integrale Religionsgeschichte globaler Verflechtungsprozesse könne ohne sie nicht sinnvoll geschrieben werden.

Ausreichend Diskussionsstoff war vorgelegt worden, als REBEKKA HABERMAS (Göttingen) ans Rednerpult trat, um die vorangegangenen Vorträge kritisch zu würdigen. Die Globalisierung von Religion habe nichts mit Homogenisierung zu tun, sondern immer mit der Schärfung des eigenen Profils, gab sie etwas knapp zu bedenken. Auf die bohrende Frage, warum sich die Verflechtungsgeschichte selber derart schwer tue mit dem Thema Religion, fand Habermas folgende Antwort: Die Globalgeschichtsschreibung werde so lange blind für Religion bleiben, wie sie keinen Begriff des Säkularen entwickele. Säkular und religiös seien relationale Begriffe, die sich im "langen 19. Jahrhundert" wechselseitig in einer globalen Verflechtung konstituierten. Habermas fasste ihre Überlegungen in der Forderung zusammen, die große Chance, die das Thema Religion für verflechtungsgeschichtliche Arbeiten biete, stärker zu nutzen, aber nur in Verbindung mit einer Geschichte des Säkularen.

Die sich anschließende Plenumsdiskussion kreiste im Wesentlichen um vier zentrale Fragekomplexe. Erstens: Wer ist eigentlich der Ansprechpartner für eine globale Religionsgeschichte? Etwa die Religionssoziologie in historischer Perspektive? Aber Religion geht in ihrer Funktionalisierung auf Interesse und Erkenntnis genauso wenig auf wie im Nationalen, sie hat vielmehr einen Eigensinn. Zweitens: Woher kommt das Säkulare? Gibt es ein Konzept des Säkularen, das womöglich protestantisch und europäisch konnotiert ist? Im 19. Jahrhundert machte sich vor allem für Sozialdemokraten und Naturwissenschaftler das Säkulare am Antikatholizismus und Antipietismus fest. Es war ein europäischer Kampfbegriff. Drittens: Wann wird aus "entangled history" eine Globalgeschichte? Gar nicht. Man kann nur eine Geschichte von Vorstellungen des Globalen schreiben. Religion entstand einerseits erst durch Performanz, andererseits durch Interaktivität von Religion und Nicht-Religion. Jedenfalls sollte man nicht den Fehler machen, Religion einfach als analytischen Begriff vorauszusetzen, so wie einst die Nationalismusforschung den Begriff Nation. Viertens: Warum bleibt das Judentum in den Sektionsbeiträgen ein Thema non grata, obwohl es doch seit 2.000 Jahren eine Verflechtungsgeschichte mit dem Christentum gibt?

Die Globalgeschichtsschreibung wird wohl solange mit dem Thema Religion hadern, wie sie sich gegen das Theorieangebot des Postkolonialismus sperrt. Wenn man wie Jürgen Osterhammel Religion als einen westlichen Begriff einfach voraussetzt6, verpasst man gerade die Pointe, die eine Globalgeschichte von Religion im 19. Jahrhundert zu bieten hätte, und vertieft vielmehr den alt bekannten Eurozentrismus der Historikerzunft. Michael Bergunder hat überzeugend dargelegt, wie die Historisierung des heute allgemein gebräuchlichen Religionsbegriffes im Rahmen einer asymmetrisch verflochtenen und postkolonial grundierten Globalgeschichte dafür sensibilisieren kann, dass Religion im 19. Jahrhundert das Produkt einer globalen Aushandlung war.7 Denn um die "Mitte des 19. Jahrhunderts [...] fanden Namensgebungen für ‚Religion‘ statt, die im Angesicht der Herausforderungen der Naturwissenschaften und der Entdeckung der Religionsgeschichte sowie der Globalisierung im Zeichen des Kolonialismus neue Äquivalenzketten produzierten, die den heutigen sedimentierten Namen ‚Religion‘ nach wie vor bestimmen."8 Die Geschichte von Vivekanandas Hinduismuskonzeption als erfahrungsbasiertem Advaita Vedanta, um auf das Eingangszitat zurückzukommen, mag dafür paradigmatisch stehen.9

Es kommt also darauf an, die Rede vom "europäisch-westlichen" Religionsbegriff zugunsten eines globalen Verständnisses zu überwinden. Erste Schritte wurden bereits gemacht; die besprochene Sektion auf dem Hamburger Historikertag leistete dazu einen substantiellen Beitrag. So gesehen wurde der Fehdehandschuh geworfen, nun liegt es an den Skeptikern einer globalen Verflechtungsgeschichte von Religion, sich der Diskussion konstruktiv zu stellen – das heißt jenseits von Glaubensfragen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Olaf Blaschke (Münster)

Olaf Blaschke (Münster): Einführung. Glaubenssache Globalgeschichte?

Margrit Pernau (Berlin): Religion in der Globalgeschichtsschreibung

Volkhard Krech (Bochum): Globalgeschichte in religionswissenschaftlicher Perspektive

Rebekka Habermas (Göttingen): Kommentar

Anmerkungen:
1 Swami Vivekananda, Hinduismus. Ansprache gehalten auf dem internationalen Religionskongress in Chicago 1893, hrsg. von Emma von Pelet, Zürich 1935, S. 29.
2 Vgl. Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, Frankfurt am Main 2006.
3 Vgl. Tomoko Masuzawa, The Invention of World Religions. Or, How European Universalism was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005.
4 Vgl. Rebekka Habermas, Mission im 19. Jahrhundert. Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 629-679.
5 Vgl. Klaus Koschorke / Adrian Hermann (Hrsg.), Polyzentrische Strukturen in der Geschichte des Weltchristentums (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte 25), Wiesbaden 2014.
6 Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Historische Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung 5), München 2009, S. 1242.
7 Vgl. Michael Bergunder, "Religion" and "Science" within a Global Religious History, in: Aries 16 (2016), S. 86-141.
8 Ders., Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19 (2011), S. 3-55, hier S. 46.
9 Vgl. ders., Indischer Swami und deutscher Professor. "Religion" jenseits des Eurozentrismus, in: Michael Stausberg (Hrsg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, S. 95-107.