Vierter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Vierter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Organisatoren
Frauke Schneemann, Georg-August-Universität Göttingen; Anne-Christine Weßler, Universität Leipzig; Archiv der deutschen Jugendbewegung
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.04.2016 - 24.04.2016
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Von
Frauke Schneemann, Georg-August-Universität Göttingen; Anne-Christine Weßler, Universität Leipzig

Vom 22. bis 24. April 2016 fand auf der Burg Ludwigstein der vierte Workshop zur Jugendbewegungsforschung statt, der auch in diesem Jahr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen versammelte. Der Workshop wird seit 2013 vom Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), dessen wissenschaftlichem Beirat, der Jugendbildungsstätte Ludwigstein sowie der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung unterstützt und ist Produkt eines Netzwerks junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das sich vor dem Hintergrund der vielfältigen Forschungsprojekte stets verändert und erweitert. Innerhalb dieses eigenständigen Netzwerks soll auch über den Rahmen des Workshops hinaus der interdisziplinäre Austausch zwischen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern im Bereich der Jugendbewegungsforschung gefördert und bewahrt werden. Unter der Organisation von Frauke Schneemann (Göttingen) und Anne-Christine Weßler (Leipzig) bot sich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Gelegenheit, ihre Forschungsprojekte in einem interdisziplinären wie teils internationalen Rahmen zu präsentieren und zu diskutieren.

Eröffnet wurde der Workshop von INDRE CUPLINSKAS (Alberta), die einen Einblick in den Forschungsstand ihrer im Entstehen begriffenen Monographie über Formen des modernen Katholizismus gab. In ihrer transnational angelegten Studie fokussiert sie sich hierbei auf drei katholische Studierendenorganisationen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts – „Quickborn“ in Deutschland, „Ateitis“ in Litauen und „The Association Catholique de la Jeunesse canadienne-française“ in Französisch-Kanada. Im Mittelpunkt stehen Aushandlungsprozesse innerhalb der Bewegungen, die folgende Bereiche der modern concerns miteinschließen: Natur, Körper, Geschlecht, Jugend, Geschichte, Nation und neue Regeln für die katholische Laienbewegung.

Gastreferent WOLFGANG BRAUNGART (Bielefeld) definierte in seinem Vortrag die Begriffe „Ritual“ und „Mythos“ als grundlegende Formen „kultureller Artikulation“, welche sich in verschiedenen Künsten wie Tanz, Musik, Theater, Architektur, Literatur und Bildende Kunst manifestieren. „Ritual“ und „Mythos“ haben für die Jugendbewegung eine große Bedeutung. So entstehen die Rituale der Jugendbewegung in deren eigenen kommunikativen Prozessen in freier Selbstbestimmung (Meißner-Formel), dies jedoch im Rekurs auf symbolisches und mythisches Material der Kultur. Dies ist letztendlich der gemeinschaftlichen und kommunikativen Herstellung von Sinn dienlich.

JOHANN THUN (Lyon / Leipzig) stellte seinen Aufsatz „Der Bund und die Bünde“ vor, welcher im von Thorsten Carstensen und Marcel Schmid herausgegebenen Band „Die Literatur der Lebensreform“ erschienen ist. Er erläuterte zunächst die „Wahlverwandtschaft“, die in Form von historischen, soziologischen und ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen der Jugendbewegung und Stefan George und seinem Kreis bestehen. Dazu zählen etwa die Ablehnung bestimmter Aspekte der modernen Welt (Industrialisierung, „Vermassung“, …), der beiden gemeinsame Rekurs auf den „Pädagogischen Eros“ und die starke Betonung von Form und Treue, welche sowohl für George als auch für die Jugendbewegung in ihrer bündischen Phase charakteristisch ist. Thun legte anhand von einigen Beispielen dar, dass sich die George-Rezeption nicht nur auf konservative oder rechte Bünde beschränkte, sondern als ein überbündisches Phänomen aufgefasst werden kann. Der zweite Teil seines Vortrages befasste sich mit zwei Bünden, in denen die Figur des Dichters von zentraler Bedeutung war: dem neuhumanistischen Bund „Südlegion“ um Rudi Pallas (1907–1952) und dem deutsch-jüdischen Bund „Werkleute“ um Hermann Gerson (1908—1989). Hierdurch gewährte er einen Einblick in das breite Spektrum der George-Rezeption innerhalb der Jugendbewegung und machte auf einige Aspekte zum Problemfeld „Literatur und Jugendbewegung“ aufmerksam.

REBECCA GUDAT (München) präsentierte einen Teilaspekt ihrer Dissertation, in der sie in literatur- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive den „Pädagogischen Eros“ und grenzüberschreitende Lehrer-Schüler-Beziehungen im Spiegel der Literatur untersucht. Insbesondere zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in der Reform- und Landerziehungsheimpädagogik sowie in der sich konstituierenden Homosexuellenbewegung erfuhr das auf Platon und die griechische Knabenliebe zurückreichende, männlich konnotierte und äußerst problematische Bildungsmodell eine neue Renaissance, die ihren Niederschlag auch in zahlreichen literarischen Texten gefunden hat. Gudat vertritt dabei die These, dass diese Texte nicht nur einen spezifischen Einblick in Praxen reformpädagogische Nähe- und Distanzierungsregulierung liefern können, sondern aufgrund ihrer größeren moralischen Autonomie auch in Phantasmen und prekäre Zuschreibungen, die häufig mit dem diffusen Begriff des „Pädagogischen Eros“ verbunden waren. Schließlich wurde der „Pädagogische Eros“ wiederholt als Deckideologie für sexuelle Gewalt an Heranwachsenden enttarnt. Gudat fragt deshalb, welche ambivalente Haltung zwischen pädagogischer Tendenzliteratur und impliziter Kritik, literarischer Decouvrierung und Verschleierung die zeitgenössische Belletristik sowohl gegenüber dem pädagogischen Eros, als auch daraus resultierender Grenzüberschreitung eingenommen hat.

PHILIP LEHAR (Innsbruck) präsentierte, aufbauend auf seiner 2013 veröffentlichten Diplomarbeit und seiner Arbeit im Pfadfinderarchiv Tirol, Biographien und biographischen Skizzen österreichischer Pfadfinderführer und -funktionäre, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren und zum Teil dort ermordet wurden. Zentral sind hierbei die Lebensgeschichten von Karl Prochazka, Ing. Hans Singer, Maximilian Kellner, Johann Ringer, Fritz Toffler und Dr. Fritz Ungar, die momentan gesammelt und in einen zeit- und gesellschaftsgeschichtlichen Kontext eingebettet werden. Zudem gelte es, die Frage zu klären, ob die Verfolgung der Betroffenen primär aufgrund ihres Engagements in der Jugendarbeit oder aus anderen Gründen erfolgte. Somit soll das Forschungsprojekt vor allem einen Beitrag zur Erinnerungskultur der österreichischen Pfadfinderbewegung leisten.

Beim Dissertationsprojekt von FRAUKE SCHNEEMANN (Göttingen) steht die deutsche Pfadfinderbewegung und ihre Einbettung in internationale Vernetzungsprozesse zwischen 1945-1980 im Mittelpunkt. Das diskursanalytisch angelegte Dissertationsprojekt untersucht zum einen auf einer „nationalen Ebene“ Identitätsbildungs- und Vergemeinschaftungsprozesse innerhalb der deutschen interkonfessionellen Pfadfinderszene auf männlicher (Bund Deutscher Pfadfinder) sowie weiblicher (Bund Deutscher Pfadfinderinnen) Seite, somit folglich auch deren Identifikations-und Repräsentationsmöglichkeiten als deutsche Pfadfinderbünde. Zu fragen ist hierbei, ob nach der Fusion der beiden Verbände in den 1970-er Jahren Veränderungen im Selbstverständnis und der Arbeitsweise auftraten. Zum anderen sollen auf der „internationalen Ebene“ beide deutschen Bünde in das globale Gefüge der Weltpfadfinderschaft eingebettet werden. Bedeutsam sind hierbei sowohl Kommunikationsprozesse mit beiden Pfadfinder-Weltverbänden, welche Exklusions- und Integrationsmechanismen offenlegen sollen, als auch Mittel performativer Repräsentation unter anderem in Form von der Teilnahme an Jamborees (internationale Pfadfindergroßlager).

Ausgehend von der Betrachtung der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Wandervogel-Bewegung mit seiner vorgeblich unpolitischen Haltung und der Ausrichtung auf Wanderschaft, Natur und Musizieren, beschäftigt sich die Arbeit von FRANZISKA MEIER (Heidelberg) mit der Praxis des gemeinsamen Musizierens innerhalb der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Jugendmusikbewegung und Bündischen Jugend sowie deren Akteuren. Im Hinblick auf seine Funktion als identitätsstiftendes Element der Jugendbewegung, untersucht Meier das Liedgut auf die Konstruktion von „Heimat“, „Volk“, „Nation“, und „Deutschtum“, um aufzuzeigen, wie sich Wahrnehmungen, Begriffsdefinitionen und der Rückgriff auf historische Personen, Orte und Ereignisse in der Bündischen Jugend beschreiben lassen. Meier vertritt die These, dass Musik einen Teil der Realität abbildet und dass sie von zeitgenössischen Vorstellungen, Idealen und Lebenszielen geprägt ist. Vor diesem Hintergrund untersucht sie das Liedgut mit Blick auf prägende Akteure der Jugendmusikbewegung, das von ihnen ausgehende Netzwerk sowie die Praxis des Musizierens insbesondere den politisierenden und ideologischen Einfluss von Musik in einer sich durch Musizieren definierenden Gruppe wie der Bündischen Jugend.

Ziel des Dissertationsprojekts von ANNE GÖPEL (Hildesheim) ist es zum einen, ein (nord-)europäisches Netzwerk bündischer Gruppierungen aufzuzeigen, die das Gedankengut einer sogenannten „Konservativen Revolution“ vertraten. Deren Vertreter richteten sich vor allem gegen Folgen des Liberalismus im Sinne von Individualismus, Kapitalismus, Materialismus und letztendlich gegen die Regierungsform der parlamentarischen Demokratie selbst. Zum anderen soll untersucht werden, inwieweit jene konservativen Ideenkonstrukte Einzug in das transnationale Netzwerk fanden und auf soziale Praxen übertragen wurden. Zentrum des Netzwerkes bildet hierbei der britische rural revivalist Rolf Gardiner, der sich für die Reanimation traditioneller „ländlicher Werte“ in Großbritannien einsetzte. Somit war er Verfechter und entscheidende Triebkraft der ökologischen Landwirtschaft in Großbritannien. Nicht zuletzt Gardiners umfangreiche Kontakte zur Deutschen Freischar, aber auch zum damaligen preußischen Bildungsminister Carl Heinrich Becker sollen eine Grundlage der Untersuchungen darstellen.

SANDRA FUNCK (Göttingen) präsentierte den Entwicklungsstand ihrer Masterarbeit, in deren Rahmen sie die Schülerbewegung als soziale Bewegung am Beispiel der Stadt Göttingen untersucht. Bereits zu Beginn des Jahres 1967 hatten sich in Göttingen verhältnismäßig früh Initiativen aus dem schulischen Umfeld entwickelt, die sich gegen das Elternhaus sowie mangelnde Demokratisierung innerhalb des bundesrepublikanischen Schulwesens auflehnten. Inspiriert durch die studentische Bewegung trat der im Februar 1967 gegründete „Unabhängige Sozialistische Schülerbund“ (USSB) für eine Demokratisierung von Gesellschaft und Schule sowie die Mitentscheidung bei allen schulischen Angelegenheiten ein und übte deutliche Kritik an den mangelnden Befugnissen der traditionellen Schülermitverwaltung (SMV). Zwar fanden die Schülerinnen und Schüler in den Reihen des SDS Unterstützung, verstanden sich jedoch bewusst als unabhängig und gründeten im selben Monat das „Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler“ (AUSS) in Frankfurt, das bis 1968 etwa 3000 Mitglieder unter seinem Dach versammelte und sich aktiv an den Protesten des Jahres 1968 beteiligte, bevor es sich ein Jahr später auflöste. Unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zeichnet Sandra Funck die Schülerbewegung als soziale Bewegung im Raum Göttingen nach und widmet sich dabei ihren Mitgliedern, Programmatik, Praktiken, dem Verhältnis zur Studentenbewegung bzw. zur Universität Göttingen, der Schülerbewegung als politischem Lernort sowie dem schulischem Umfeld und Elternhaus.

MICHAEL KUBACKI (Marburg) befasste sich im letzten Beitrag des Workshops mit dem Thema seiner Bachelorarbeit, dem Freundeskreis der Artamanen (1964—2001). Jener Verein ehemaliger Siedler ist auf den 1926 formal gegründeten Bund Artam e.V. zurückzuführen, der wiederum der Völkischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit (1924—1935) zuzurechnen ist. Neben einem Abriss der Geschichte der Artamanen in der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus warf Kubacki am Beispiel ausgewählter Selbstzeugnisse und -darstellungen aus den Anfangsjahren die Frage auf, welches Verständnis der Freundeskreises von der eigenen Vergangenheit hatte und wie die Idee einer bäuerlich-autarken Gemeinschaft in die bundesrepublikanische Gesellschaft getragen werden sollte.

Den Schwerpunkt der Abschlussdiskussion bildete vor allem die Frage nach einer thematischen Erweiterung des Workshopkonzepts. Es wäre zu überlegen, ob die Präsentation der Forschungsprojekte zukünftig durch Vorträge über methodische und theoretische Aspekte ergänzt werden könnte. Denkbar wäre beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem „Gemeinschafts-“ und „Identitätsbegriff“ und deren mögliche Anwendung auf Bereiche der Jugendbewegungsforschung. Somit könnten zusätzliche Anregungen und Denkanstöße für weitere Forschungsvorhaben, oder die Modifikation bereits bestehender Projekte geliefert werden. Raum für einen erneuten interdisziplinären Austausch wird der fünfte Workshop zur Jugendbewegungsforschung, welcher vom 21. bis 23. April 2017 wieder im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) stattfinden wird, geben.

Konferenzübersicht:

Frauke Schneemann (Göttingen); Anne-Christine Weßler (Leipzig): Begrüßung.

Indre Cuplinskas (Alberta, CAN): Comparing Catholic Youth movements – Germany, Lithuania, Quebec.

Wolfgang Braungart (Bielefeld): Mythos und Ritual als zwei Formen ästhetisch-sozialer Artikulation.

Johann Thun (Lyon / Leipzig): „Und er im dämmernden Heidegras/Ein Lied von Stefan George las.“ Stefan George und die deutsche Jugendbewegung.

Rebecca Gudat (München): Der Pädagogische Eros als literarisches Phantasma.

Philipp Lehar (Innsbruck): 16378, 16379…Wer steckt hinter den Häftlingsnummern? Fünf österreichische Häftlinge des KZ Dachau aus der Pfadfinderbewegung.

Frauke Schneemann (Göttingen): Zwischen nationaler Identität und globaler Vernetzung. Die deutsche Pfadfinderbewegung im internationalen Kontext 1945-1980.

Franziska Meier (Heidelberg): Ideen- und Kulturtransfer durch das Liedgut der Bündischen Jugend 1918—1933.

Anne Göpel (Hildesheim): Konservative Jugend in Weimar und Großbritannien 1918—1932.

Sandra Funck (Göttingen): „Es gibt Schüler, die machen jetzt nicht mehr mit!“ Die Schülerbewegung in Göttingen in den 1960er und 1970er Jahren.

Michael Kubacki (Marburg): Ehemalige Artamanen und Freundeskreis der Artamanen in der BRD nach 1945.

Abschlussdiskussion, organisatorische Fragen und Ausblicke auf 2017


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