Lautsphären des Mittelalters. Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille

Lautsphären des Mittelalters. Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille

Organisatoren
Martin Clauss / Antonia Krüger, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz; Gesine Mierke, Institut für Germanistik und Kommunikation, Technische Universität Chemnitz
Ort
Chemnitz
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.09.2016 - 16.09.2016
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Von
Sebastian Schaarschmidt, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Benötigen wir einen „acoustic turn“? – mit dieser Frage eröffnete MARTIN CLAUSS (Chemnitz) die Tagung und zeigte sowohl Potentiale als auch Problemfelder einer interdisziplinären „Lautsphären-Forschung“ auf. Anschließend wies UWE FIEDLER (Schloßbergmuseum Chemnitz) in seinen einführenden Worten darauf hin, dass gerade das Museum als öffentliche Institution, ein gesteigertes Interesse an der Vermittlung von vergangenen Klängen besitze.

Den Auftakt zur Sektion A ‚Methodik‘ machte ERCAN ALTINSOY mit seinem Vortrag „Klang des Lebens. Entwicklung der Bedeutung von Sounddesign“, in dem er zunächst einen Einblick in den Bereich der aktuellen Soundforschung gab. Altinsoy wies zudem auf eine marktorientierte Klanggestaltung beispielsweise der Autoindustrie hin und schlug damit eine Brücke zur aktuellen Hörwahrnehmung. Den Schall als reinen Informationsträger stellte er dem von der abendländischen Kultur geprägten Hörer gegenüber, der letztlich über die Qualität des Produkts auch auf klanglicher Ebene entscheidet. Ganz im Sinne Murray Schafers betonte Altinsoy die Veränderungen der klanglichen Umwelt durch die Erfindung der Elektrizität und die Ausbreitung der Industrialisierung, worauf die heutigen Hörgewohnheiten und Vorlieben basieren.

Es schlossen sich zwei Vorträge zur digitalen Rekonstruktion historischer Klangräume an: Der Beitrag zur „Auralisation archäologischer Räume. Von 3D-Modellen zur Rekonstruktion auditiver Erfahrung auf antiken Platzanlagen“ eröffnete den Teilnehmer/innen der Tagung aktuelle Einblicke in die Sound Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin. SEBASTIAN SCHWESINGER (Berlin) stellte das Projekt der virtuellen klanglichen Rekonstruktion am Beispiel des Forum Romanums vor. Mit Hilfe raumfunktionaler Simulationen ermittelte ein interdisziplinäres Forscherteam des Exzellenzclusters „Bild Wissen Gestaltung“, welchen akustischen Raum antike Redner von der Rednertribüne des Forum Romanums im Idealfall besetzen konnten.

Daran anknüpfend basierten auch die Ausführungen von BORIS GÜBELE (Stuttgart) auf akustischen Simulationen eines historischen Redegeschehens. Allerdings erfolgte die Untersuchung innerhalb der geschlossenen Architektur am Beispiel der ‚Aula regia‘ der karolingischen Kaiserpfalz in Ingelheim. Sein Vortrag „Historische Stimmforschung: Akustisch-visuelle Rekonstruktion öffentlicher Redesituationen in ihren historischen räumlichen Kontexten“ thematisierte die akustische und inhaltliche Verständlichkeit mittelalterlicher Urkundentexte und präsentierte die akustischen Ergebnisse, die in Zusammenarbeit mit dem Frauenhofer-Institut erstellt wurden.

Mit ihrem Beitrag über „Akustische Strukturen der Reformationszeit – Methodische Ansätze“ beschloss ANTONIA KRÜGER (Chemnitz) die erste Sektion und problematisierte an einzelnen Fallbeispielen die aus dem interdisziplinären Forschungsfeld der Sound Studies erwachsenen Begriffsdefinitionen und ihre Anwendbarkeit in der Geschichtswissenschaft. Krüger verwies auf die rezeptive Aufgabe historiografischer Analyse im Rahmen einer Hörgeschichte und betonte die soziale, kulturelle und politische Kontextualisierung von Klängen, die innerhalb der historischen Disziplin Beachtung finden sollten, ohne im Vorfeld jedoch einen „acoustic turn“ ankündigen zu müssen.

GESINE MIERKE (Chemnitz) leitete die Sektion C „Textanalyse“ mit einem Vortrag zur späthöfischen Epik ein. Eingangs skizzierte sie den gegenwärtigen Stand der germanistisch-mediävistischen Forschung zu akustischen Phänomenen in der mittelalterlichen Literatur. Am Beispiel des Romans „Reinfried von Braunschweig“ fragte sie anschließend nach einer ‚Poetik des Hörens‘, die sich, Mierke zufolge, innerhalb des Textes auf der Ebene der Handlung , auf poetologischer und rezeptionstheoretischer Ebene zeigen lasse. Vor diesem Hintergrund, resümierte Mierke, kann die Analyse akustischer Phänomene in der mittelalterlichen Literatur dazu beitragen, die Perspektive im Hinblick auf eine Synästhesie der Sinne zu erweitern.

Auch ALMUT SCHNEIDER (Göttingen) ging in ihrem Vortrag „Klang – Raum – Bewegung. Mittelalterliche Wahrnehmungsweisen lautlicher Sphären in Text und Bild“ der Funktion und Semantik akustischer Beschreibungen in der mittelalterlichen Literatur nach. Vor dem Hintergrund der antiken und mittelalterlichen Wahrnehmungstheorie, die Schneider einleitend skizzierte, fragte sie anhand des „Partonopier und Meliur“ Konrads von Würzburg nach synästhetischen Wahrnehmungsweisen lautlicher Sphären in Text und Bild. In ausgewählten Passagen des Textes konnte sie zeigen, dass akustische Beschreibungen auf der Handlungsebene auch auf innere Klangbilder und damit auf den Seelenzustand des Protagonisten Anwendbarkeit besitzen.

Mit „Schreie[n] im Fegefeuer“ beschäftigte sich SEBASTIAN KLEINSCHMIDT (Freiburg) und analysierte die Funktion und Wirkung von teuflischem Lärm und wehklagenden Seelen in den mittelenglischen Jenseitsvisionen Owain Miles und in „The Vision of Tundale“. Kleinschmidt setzte sich dabei im Besonderen mit dem spezifisch mittelalterlichen Lesekonzept auseinander und stellte fest, dass Schmerzgesänge ihre Wirkung erst im Akt des Vorlesens entfalteten und auf diese Weise in reale Gesänge transformiert werden. Gerade akustische Beschreibungen innerhalb der Texte verknüpfen, nach Kleinschmidt, im Akt der Rezeption fiktionalen und realen Raum und verstärken somit die heilswirksame Wirkung.

Die Sektion beschloss MIRIAM WEISS (Trier) mit ihren Überlegungen zu „Akustische[n] Phänomene[n] in den ‚Chronica maiora‘ des Matthaeus Parisiensis“. Sie analysierte die Chronik hinsichtlich akustischer Phänomene. Weiss etablierte zunächst verschiedene Kategorien der mittelalterlichen Klangwelt, die sich an den narrativen Funktionen der Verweise auf lautliche Phänomene orientierten. In ihrer Analyse konnte sie verschiedene funktionale Zugänge zu akustischen Beschreibungen innerhalb des Textes aufzeigen.

Im Mittelpunkt der dritten Sektion C standen ‚Lärmdefinitionen‘. JULIA SAMP (Aachen) widmete sich dabei diesem Phänomen in ihrem Beitrag „Muhende Kühe und plappernde Priester – die Wahrnehmung akustischer Störungen im Umfeld humanistischer Gelehrsamkeit“. Samp setzte sich darin mit der Funktion von Lautphänomenen im Briefwechsel Willibald Pirckheimers auseinander. Mithin stellte sie fest, dass gelehrte Lärmempfindlichkeit nicht die potenzierte Wahrnehmung der Anwesenheit lauter und intensiver Schallereignisse sei, sondern metaphorischer Ausdruck einer verstärkten Empfindung der Abwesenheit von Ruhe. Samp deutete dies folglich als Teil einer habituell angelegten Strategie mit dem Ziel der Distinktion. Der Hinweis auf akustische Störungen ist somit Teil einer sozial-literarischen Konstruktion.

STEFAN BÜRGER (Würzburg) ging der Geräuschkulisse auf mittelalterlichen Baustellen nach. Er untersuchte unter dem Titel „Vom Anschlagen und Ansagen – Baustellenlärm im späten Mittelalter“ die akustische Signalsetzung und Kommunikation mittels Klopfzeichen, Zurufen oder dem Gebrauch von Zunftliedern und verortete die Werkgeräusche zentraler Kirchenbaustellen als positive Lautmarken im städtischen Kontext.

Den öffentlichen Abendvortrag hielt GERHARD DOHRN-VAN ROSSUM (Chemnitz) zum Thema: „Glockenruf und Muezzin – Campanile und Minarett: Historische und aktuelle Konflikte um die akustische Vorherrschaft in urbanen Lautsphären“; auf der Grundlage jahrelanger Forschungen zu Zeitverständnis, Uhren, Glocken und Glockentürmen entfaltete er ein breites Panorama von den ersten christlichen Glocken des frühmittelalterlichen Lateineuropas, das zum ‚Glockeneuropa‘ (Friedrich Heer) wurde, bis zu den Uhrtürmen im Osmanischen Reich. Glockenklänge mit sehr unterschiedlichem Signalcharakter – von der Rats- über die Bier- bis hin zur Stundenglocke – prägten die Lautsphären christlicher Städte, so wie der Ruf des Muezzins diejenigen des Islam. Das heutige Festhalten an diesen Signallauten begründete Dohrn-van Rossum mit gesellschaftlichen Traditionen jenseits religiöser oder pragmatischer Notwendigkeiten.

Mit einem Einblick in die Quellengruppe der Tierstimmenkataloge eröffnete ACHIM HACK (Jena) die Sektion D ‚Differenzierte Klangkulissen‘. Diese Kataloge bieten in Listenform Tierbezeichnungen als Nomen und jeweils zugeordnete Geräusche als Verben. An Hand von drei Beispielen aus dem 2., 5. und 8. Jahrhundert analysierte Hack Aufbau und Inhalt dieser Texte, die – so wie im Titel des Vortrages angelegt: „Tiergeräusche & Co. im frühen Mittelalter“ – bisweilen mehr als nur Tierstimmen bieten und etwa auf das Lärmen des Volkes oder das Klingen des Erzes verweisen. Hack deutete die Kataloge hierbei als Teil der ‚Listenwissenschaft‘ (Wolfram von Soden) und als Bestandaufnahme akustischer Räume.

CHRISTIAN JASER (Berlin) verschränkte in seinem Beitrag „Klangräume des Agonalen bei italienischen und oberdeutschen Pferderennen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts“ die Analyse von sporting sounds mit dem Ansatz der Konkurrenz-Kulturen. Pferderennen waren von akustischen Phänomenen geprägt: vom Startsignal über die Anfeuerungen des Publikums bis zum Habituationstraining der Pferde, das diese an die Geräusche der Rennkulisse gewöhnen sollte. Bei Pferderennen trafen städtisches Selbstbewusstsein und fürstliche Patronage auch akustisch aufeinander: In Florenz wurde das Startsignal dabei durch eine städtische Glocke erzeugt und so der stadtumfassende und kommunale Charakter des Rennens gegen fürstliche Inszenierung – etwa durch Hof-Musiker – klanglich propagiert.

Im städtischen Klangraum bewegten sich auch die letzten drei Vorträge der Tagung. ARND REITEMEIER (Göttingen) stellte in einem breiten Überblick spätmittelalterliche Pfarrkirchen als Ausgangspunkte von Lautsphären vor: „Pfarrkirchen als Soundzentren des Mittelalters.“ Er unterschied hier zwischen nach außen und nach innen gerichteten akustischen Räumen und macht so deutlich, dass die Klänge der Pfarrkirche, deren Türme oftmals das höchste Bauwerk einer Stadt waren, in die städtische Umgebung hineinwirkten – und umgekehrt. Klänge sind dabei nicht nur unter dem Blickwinkel der Akustik zu interpretieren, sondern auch zu kontextualisieren, wie Reitemeier etwa an den akustischen, sozialen und ökonomischen Aspekten des Totengeläuts aufzeigte. Die von Pfarrkirchen ausgehenden Lautsphären waren weder synchron (Veränderungen im Kirchenjahr) noch diachron (Homogenisierung der Lautsphäre durch die Reformation) statisch.

SABINE REICHERT (Regensburg) ging dem „Klang der Kathedralstadt“ und der „Raumbesetzung im religiös-kultischen Ritual“ am Beispiel der Pestprozession im spätmittelalterlichen Osnabrück nach. Durch die klangliche Ausgestaltung der Prozession als Liturgie in Bewegung wurde der Sakralraum in die Stadt ausgeweitet.

Am Ende der Tagung zog GERALD SCHWEDLER (Zürich) die von Alfred Haverkamp vorgelegte Deutung vom einigenden Charakter des Glockenklangs in Zweifel: „Politische Interaktion und akustische Repräsentation kommunaler Verbände im Spiegel der Rathausglocken.“ Die Rathausglocke als politischer Signalgeber konnte im Kontext von kommunalen Aufständen – wie etwa in Chemnitz 1345/6 – nicht der Einigung der Kommune, sondern der Verständigung zwischen den Aufständischen dienen. Im Sinne der Hörgeschichte verwies Schwedler darauf, dass akustische Signale immer auch von deren Empfängern her zu deuten sind: Das Signal von Sturm- und Ratsglocke hatte für unterschiedliche Hörergruppen unterschiedliche handlungsleitende Relevanz, wodurch die durch den Glockenklang erzeugte Informationsgemeinschaft in einzelne Reaktionsgemeinschaften zerfallen konnte.

In der Abschlussdiskussion wurde die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Nutzen eines „acoustic turn“ erneut aufgegriffen. Es bestand Einigkeit darüber, gerade keinen neuen Turn begründen, sondern die bisherigen Forschungsperspektiven um die akustische Dimension erweitern zu wollen. Als Untersuchungsschwerpunkte lassen sich aus den interdisziplinären Beiträgen vor allem die Frage nach der Funktion und der Semantik von Lautsphären sowohl in historischen Quellen als auch in literarischen Texten des Mittelalters ausmachen. Für anschließende Analysen sollten etwa Kategorien wie Klang und Raum, Klang und Bild sowie Klang und Bewegung bestimmend sein.

Konferenzübersicht:

Einführung und Begrüßung
Martin Clauss (Chemnitz) / Uwe Fiedler (Chemnitz)

Sektion A:Methodik

Ercan Altinsoy (Dresden): „Klang des Lebens: Entwicklung der Bedeutung von Sounddesign“

Sebastian Schwesinger (Berlin): „Auralisation archäologischer Räume. Von 3D-Modellen zur Rekonstruktion auditiver Erfahrung auf antiken Platzanlagen“

Boris Gübele (Stuttgart): „Historische Stimmforschung: Akustisch-visuelle Rekonstruktion öffentlicher Redesituationen in ihren historischen räumlichen Kontexten“

Antonia Krüger (Chemnitz): „Akustische Strukturen der Reformationszeit – Methodische Ansätze“

Sektion B: Textanalyse

Gesine Mierke (Chemnitz): „Poetik des Hörens? Klangkulissen in der mittelalterlichen Epik“

Almut Schneider (Magdeburg): „Klang – Raum – Bewegung, Mittelalterliche Wahrnehmungsweisen lautlicher Sphären in Text und Bild“

Sebastian Kleinschmidt (Freiburg i. Br.): „Schreie im Fegefeuer – Teuflischer Lärm und wehklagende Seelen in mittelenglischen Jenseitsvisionen“

Miriam Weiss (Trier): „Akustische Phänomene in der Chronica maiora des Matthaeus Parisiensis (13. Jahrhunderth.)“

Sektion C: Lärmdefinitionen

Julia Samp (Aachen): „Muhende Kühe und plappernde Priester – die Wahrnehmung akustischer Störungen im Umfeld humanistischer Gelehrsamkeit“

Stefan Bürger (Würzburg): „Vom Anschlagen und Ansagen – Baustellenlärm im späten Mittelalter“

Abendvortrag
Gerhard Dohrn-van Rossum (Chemnitz): „Glockenruf und Muezzin – Campanile und Minarett: Historische und aktuelle Konflikte um die akustische Vorherrschaft in urbanen Lautsphären“

Sektion D: Differenzierte Klangkulissen

Achim Hack (Jena): „Tiergeräusche & Co. im frühen Mittelalter“

Christian Jaser (Berlin): „Klangräume des Agonalen bei italienischen und oberdeutschen Pferderennen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts“

Arnd Reitemeier (Göttingen): „Pfarrkirchen als Soundzentren des Mittelalters“

Sabine Reichert (Regensburg): „Der Klang der Kathedralstadt – Raumbesetzung im religiös-kultischen Ritual“

Gerald Schwedler (Zürich): „Politische Interaktion und akustische Repräsentation kommunaler Verbände im Spiegel der Rathausglocken“


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