HT 2016: Geschichte als Gegenwartsreligion?

HT 2016: Geschichte als Gegenwartsreligion?

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
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Von
Philipp Müller, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Ausganspunkt der von Martin Sabrow (Potsdam) und Achim Saupe (Potsdam) geleiteten Sektion „Geschichte als Gegenwartsreligion?“ war der Befund, dass die gegenwärtige Geschichtskultur sich durch sakralisierende Züge auszeichne.

Transzendentale Momente dieser Geschichtskultur erkannte MARTIN SABROW in seiner Einführung in der anlässlich des 40. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges gehaltenen Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Unter ausdrücklichem Rückbezug auf die jüdisch-christliche Heilsbotschaft postulierte Weizsäcker in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag in Bonn, dass Versöhnung ohne ein Erinnern der Geschichte unmöglich sei, und schrieb der historischen Vergegenwärtigung im selben Zuge heilende und reinigende Kräfte zu. Im Anschluss hieran und seit 1989, so führte Sabrow aus, zeichne sich die Geschichtskultur im Kontext der Aufarbeitung des NS durch eine sakralisierende Sprache aus, die ihren zentralen Ausdruck in der inflationären Verwendung des Begriffs von der „erlösenden Erinnerung“ finde. Damit unterscheide sich die gegenwärtige Geschichtskultur in ganz entscheidender Weise von dem professionellen Verständnis der Fachgeschichte als einem der Aufklärung verpflichteten Programm, das sich durch ein von Kritik und Distanz gekennzeichnetes Verhältnis zur Vergangenheit auszeichne. In seiner Analyse unterschied Martin Sabrow drei verschiedene Sphären der problematisierten transzendentalen Religionskultur: erstens die sakrale Aufladung der Semiophoren, das heißt die religiöse Auf- und Umwertung von materialen Trägern von Geschichte, seien es nun Objekte in Museen, die zu Reliquien werden, oder auch die Figur des Zeitzeugen, der zur Ausdrucksform von absoluter Unmittelbarkeit avanciere; zweitens die Gestaltung von Räumlichkeiten, die Besuchern die Hoffnung vermittelt, beobachten zu können, „‘was damals geschehen‘“ ist; drittens und letztens das der transzendentalen Geschichtskultur inhärente Heilversprechen: die „tröstende Botschaft“, dass in der Form der erlösenden Erinnerung den Opfern von Gewalt und Verfolgung Gerechtigkeit widerfahre und Täter qua Bekenntnis zur Reue bewegt würden.

ACHIM SAUPE vertiefte in seinem Vortrag den Blick auf die geschichtsreligiöse Aufladung des Authentischen, indem er Museen der Geschichte auf säkularisierende und profanisierende Bezüge befragte. Bereits der Blick auf die klassischen Museumsbauten, wie etwa das British Museum, zeigte die Vorbilder antiker Tempelbauten auf; andere Gebäude in Europa, wie das Musée des Monuments Français oder das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, wurden in ehemaligen Klosterbauten eingerichtet. Im 21. Jahrhundert, so konstatierte Saupe, pflegten Museumsneubauten einen offeneren Bezug zur Tradition des Religiösen und entwickelten auch dezidiert andersartige Konzepte vom Museumsbesuch, denen zufolge das Museum vornehmlich als ein Ort der Reflexion und der Kommunikation angesehen werde. In einem zweiten Schritt widmete sich Achim Saupe den in den Museen ausgestellten Dingen. Im Rückbezug auf die in der katholischen Religion übliche Unterteilung von Reliquien in Klassen, ermittelte er die verschiedenartigen Typen von Reliquien in den Museen – von Reliquien erster Klasse wie zum Beispiel den blutbefleckten Hemden kubanischer Revolutionäre über Berührungsreliquien wie zum Beispiel Rudi Dutschkes Pullover bis hin zu den käuflich zu erwerbenden Devotionalien im Museumsshop. Schließlich argumentierte Saupe, dass es vor allem die institutionelle Tradition des Museums – eine moderne Art der Wunder- und Schatzkammer – sei, Dinge zu versammeln und aufzubewahren, die den ausgestellten Gegenständen die Aura des Authentischen verleihe. Während sakralisierende Bezüge in der Architektur neuerer und jüngster Museumsgebäude nur noch in gebrochener Form auftreten würden, lasse sich der sakrale-religiöse Bezug nach wie vor in der Zurschaustellung von ausgewählten Museumsdingen erkennen.

STEFANIE SAMIDA (Heidelberg) widmete sich einem aktuellen Phänomen populärer Geschichtskultur, dem Reenactment von historischen Ereignissen. Dass hier das sinnlich-körperliche Erleben von Geschichte im Zentrum steht, verdeutlichte ein zu Beginn des Vortrags zitierter Zeitzeuge, der mit Enthusiasmus von dem nachgespielten Feldzug Caracallas in der Rolle eines römischen Legionärs erzählte. Die zentrale Frage von Stefanie Samida lautete, ob die performative Aneignung von vergangenen Ereignissen nicht nur zum Erlebnis avanciere, sondern auch eine Art Erweckung für die jeweiligen Akteure darstelle, das heißt, ob dieser rezente Trend in der populären Geschichtskultur sich durch einen religiösen Aspekt auszeichne. Eine positive Antwort hierauf lieferten zwei ausgewählte Beispiele des Reenactment: der bereits erwähnte Germanienfeldzug des Kaisers Caracalla im Jahr 212 und das Beispiel der Passionsspiele in Oberammergau. Um diese komplexen Performances beschreiben und analysieren zu können, griff Stefanie Samida auf den von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte eingeführten Begriff der Aufführung zurück1 und verknüpfte ihre Beobachtungen mit zentralen Begriffen des Kulturanthropologen Victor Turner.2 Das Zusammenkommen von Teilnehmern und Zuschauern an einem bestimmten Ort, das Hintersichlassen des Alltags, schließlich das gemeinsame Gestalten und Erleben einer bedeutungsvollen Situation, die durch Widrigkeiten geprägt ist, erhebe das gemeinsame Erleben schließlich zu einem Erlebnis. Insbesondere aber sei es die emotionale Dimension des Erlebnisses, die körperlich-sinnliche Teilhabe an dem Ereignis, die in der Erfahrung der Beteiligten die übliche geltende Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufhebe.

STEFAN KÜBLBÖCK (Salzgitter) erweiterte das Spektrum der populären Geschichtskultur um das zeitgenössische Phänomen des Tourismus und beleuchtete vor allem die Vermarktung historischer Orte. Ausgangspunkt war die von Dean MacCanell im Jahr 1976 angestellte Überlegung, dass im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung in der Gesellschaft touristische Attraktionen einen Ersatz für die religiösen Pilgerziele darstellten.3 Die Relevanz historischer Orte dürfe man aber nicht überbewerten. Erstens seien viele dingliche Meilensteine der vormodernen Menschheitsgeschichte überhaupt keine touristischen „Pilgerstätten“; zweitens verwies Küblböck im Rückgriff auf die Studie von Chris Rojek darauf, dass Besucher keineswegs in ehrfurchtsvoller Andacht erstarrten, sondern einen freien, verspielten und individuellen Umgang mit den Originalen pflegten.4 Den Originalen, so konstatierte Stefan Küblböck, käme ohnehin eine nur relative Bedeutung zu. Im Hinblick auf die Vermarktung von touristischen Angeboten setze die Tourismusbranche vor allem auf „imaginäre Geographien“. Bereits existierende Vorstellungen und Bilder hätten ein großes Eigengewicht, das nur schwer zu ändern sei (und umgekehrt auch nur schwer neu zu erfinden) sei), und er verwies hierzu auf das in Europa wirkungsmächtige Bild vom Orient. In diesen „imaginären Geographien“ sei die Treue zum Original nur von geringem Wert. Vielmehr gehe es um die Affirmation bestehender Ideen, die sich aber wiederum durch Eindeutigkeit und Klarheit auszeichneten. Authentizität erweise sich in diesen Zusammenhängen als eine verhandel- und gestaltbare Größe. Einzelne dieser historischen Orte seien transzendentale Aspekte eigen, aber dies treffe keineswegs auf alle Orte zu.

Die Sektion schloss die Präsentation mit einem Vortrag von HEIDEMARIE UHL (Wien) ab.5 In ihrem Vortrag stellte Heidemarie Uhl Beobachtungen zur Säkularisierung von Gedenkstätten vor, die sie in einem umfassenderen Kontext der Wiederentdeckung historischer Orte im 20. Jahrhundert verortete. Ihr zentrales Argument lautete, dass historische Überreste durch „Gestaltung“ überhöht werden. Das Konzept der konservatorisch zu bewahrenden Ruine werde in diesem Zusammenhang aufgegeben. Beispielhaft verwies sie hierbei auf das Schloss Hartheim oder das Haus der Wannsee-Konferenz. Ein weiteres Beispiel lieferte die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Mauthausen. Eine quasi-authentische Materialität des vorliegenden Relikts habe einen Effekt der Sakralisierung zur Folge; eine Unterscheidung zwischen historischem Ort und Memorial werde unmöglich gemacht.

Die Sektion bot einen spannenden Einblick in verschiedene populäre Geschichtskulturen unserer heutigen Gesellschaft und lud zu einer thematisch wie konzeptionell anregenden Erörterung dieser rezenten Trends ein. ‚Geschichte’ ist keineswegs out, sondern von zentraler Bedeutung für viele in unserer Gesellschaft. Die Aufmerksamkeit hierauf zu lenken erwies sich als äußerst anregend und erlaubte, Geschichte jenseits der Grenzen unseres Faches kritisch in den Blick zu nehmen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Martin Sabrow (Potsdam) / Achim Saupe (Potsdam)

Martin Sabrow (Postdam): Das Relikt als Reliquie. Zur Frage nach dem transzendentalen Moment der gegenwärtigen Geschichtskultur (Einführung)

Achim Saupe (Potsdam): Die geschichtsreligiöse Aufladung des Authentischen im historischen Museum

Stefanie Samida (Heidelberg): Geschichtserleben als Erweckungserlebnis

Stefan Küblböck (Salzgitter): Geschichtstourismus als Pilgerreise

Heidemarie Uhl (Wien): Die Steine sprechen nicht. Die Aura des ‚Authentischen‘ und die Gedenkstätte als ‚heiliger Ort‘

Anmerkungen:
1 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hrsg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven Bielefeld 2012, S. 13–52.
2 Vgl. Victor Turner, Dramas, Fields, and Metaphors. Symbolic Action in Human Society, London 1974; ders., The Anthropology of Performance, New York 1987.
3 Vgl. Dean MacCannell, The tourist. A new theory of the leisure class, New York 1976.
4 Vgl. Chris Rojek, Ways of escape. Modern Transformations in Leisure and Theory. Basingstoke 1993.
5 Der vorgesehene Vortrag von Volkhard Knigge (Jena) über „Die Gedenkstätte als sakraler Ort“ musste leider abgesagt werden.